Achim von Arnim
Die Majoratsherren
Achim von Arnim
Mit 24 Federzeichnungen
von
Alfred Kubin
Avalun-Verlag · Wien und Leipzig
Alle Rechte vorbehalten
Wir durchblätterten eben einen ältern Kalender, dessen Kupferstiche manche Torheiten seiner Zeit abspiegeln. Liegt sie doch jetzt schon wie eine Fabelwelt hinter uns! Wie reich erfüllt war damals die Welt, ehe die allgemeine Revolution, welche von Frankreich den Namen erhielt, alle Formen zusammenstürzte; wie gleichförmig arm ist sie geworden! Jahrhunderte scheinen seit jener Zeit vergangen, und nur mit Mühe erinnern wir uns, daß unsere früheren Jahre ihr zugehörten. Aus der Tiefe dieser Seltsamkeiten, die uns Chodowieckis Meisterhand bewahrt hat, läßt sich die damalige Höhe geistiger Klarheit erraten; diese ermißt sich sogar am leichtesten an den Schattenbildern derer, die ihr im Wege standen, und die sie riesenhaft über die Erde hingezeichnet hat. Welche Gliederung und Abstufung, die sich nicht bloß im Äußern der Gesellschaft zeigte! Jeder einzelne war wieder auch in seinem Ansehn, in seiner Kleidung eine eigene Welt, jeder richtete sich gleichsam für die Ewigkeit auf dieser Erde ein, und wie für alle gesorgt war, so befriedigten auch Geisterbeschwörer und Geisterseher, geheime Gesellschaften und geheimnisvolle Abenteurer, Wundärzte und prophetische Kranke die tiefgeheime Sehnsucht des Herzens, aus der verschlossenen Brusthöhle hinausblicken zu können. Beachten wir den Reichtum dieser Erscheinungen, so drängt sich die Vermutung auf, als ob jenes Menschengeschlecht sich zu voreilig einer höheren Welt genahet habe und, geblendet vom Glanze der halbentschleierten, zur dämmernden Zukunft in frevelnder Selbstvernichtung fortgedrängt, durch die Notdurft an die Gegenwart der Erde gebunden werden mußte, die aller Kraft bedarf und uns in ruhiger Folge jede Anstrengung belohnt.
Mit wie vielen Jahrhunderten war jene Zeit durch Stiftungen aller Art verbunden, die alle ernst und wichtig gegen jede Änderung geschützt wurden! So stand in der großen Stadt ... das Majoratshaus der Herren von ..., obgleich seit dreißig Jahren unbewohnt, doch nach dem Inhalte der Stiftung mit Möbeln und Gerät so vollständig erhalten, zu niemands Gebrauch und zu jedermanns Anschauen, daß es, trotz seiner Altertümlichkeit, noch immer für eine besondere Merkwürdigkeit der Stadt gelten konnte. Da wurde jährlich, der Stiftung gemäß, eine bestimmte Summe zur Vermehrung des Silbergeschirrs, des Tischzeugs, der Gemälde, kurz zu allem dem verwendet, was in der Einrichtung eines Hauses auf Dauer Anspruch machen kann, und vor allem hatte sich ein Reichtum der kostbarsten, ältesten Weine in den Kellern gesammelt. Der Majoratsherr lebte mit seiner Mutter in der Fremde und brauchte bei dem übrigen Umfange seiner Einnahme nicht zu vermissen, was er in diesem Hause unbenutzt ließ. Der Haushofmeister zog der Stiftung gemäß alle Uhren auf und fütterte eine bestimmte Zahl von Katzen, welche die nagenden Mäuse wegfangen sollten, und teilte jeden Sonnabend eine gewisse Zahl von Pfennigen an die Armen im Hofe aus. Leicht hätten sich unter diesen Armen, wenn sie sich dessen nicht geschämt hätten, die Verwandten dieses Hauses einfinden können, dessen jüngere Linien bei der Bildung des großen Majorats völlig vergessen worden waren. Überhaupt schien das Majorat wenig Segen zu bringen, denn die reichen Besitzer waren selten ihres Reichtums froh geworden, während die Nichtbesitzer mit Neid zu ihnen aufblickten.
So ging täglich vor dem Majoratsgebäude zu bestimmter Stunde ein Vetter des jetzigen Besitzers, ihm durch dreißig Jahre überlegen, aber an Vermögen ihm sehr untergeordnet, mit ernsten Schritten vorbei und schüttelte den Kopf und nahm eine Prise Tabak. Niemand war vielleicht so bekannt bei alt und jung in der ganzen Stadt, wie dieser alte, rotnasige Herr, der gleich dem eisernen Ritter an der Rathausuhr durch sein Heraustreten, noch ehe die Glocke angeschlagen, den Knaben zur Erinnerung der Schulstunde diente, den älteren Bürgern aber als wandernde Probeuhr, um ihre hölzernen Kuckucksuhren darnach zu stellen. Er trug bei den verschiedenartigen Klassen von Leuten verschiedene Namen. Bei den Vornehmen hieß er der Vetter, weil seine Verwandtschaft mit den ersten Familien des Reiches unleugbar und er diese einzige, ihm übrig gebliebene Ehre auch gern mit dieser Anrede geltend machte. Unter den gemeinen Leuten hieß er nur der Leutnant, weil er diese Stelle in seinen jungen Jahren bekleidet hatte, sowie sie ihn noch jetzt bekleiden mußte. Es schien ihm nämlich völlig unbekannt, daß der Kleiderschnitt sich in den dreißig Jahren, die seitdem verflossen, gar sehr verändert hatte. Etwas stärker mochte das Tuch damals wohl noch gearbeitet werden, das zeigten jetzt die mächtigen, wohlgedrehten Fäden, nachdem die Wolle abgetragen war. Der rote Kragen war schon mehr verdorben und gleichsam lackiert; die Knöpfe aber hatten die Kupferröte seiner Nase angenommen. Gleiche Farbe zeigte auch der fuchsrote, dreieckige Militärhut mit der wollenen Feder. Das Bedenklichste des ganzen Anzuges war aber das Portepee, weil es nur mit einem Faden am Schwerte, wie das Schwert über dem Haupte des Tyrannen am Haare, hing. Das Schwert hatte leider das Unglück des armen Teufels gemacht und den Lebensfaden eines vom Hofe begünstigten Nebenbuhlers in den Bewerbungen bei einer Hofdame durchschnitten; und diese unglückliche Ehrensache, bei welcher ihm doch niemand mehr Schuld als seinem Gegner zumessen konnte, hatte seine militärische Laufbahn versperrt. Wie er sich seitdem durch die Welt fortgeholfen, war freilich seltsam, aber es war ihm doch gelungen. Er hatte eine höchst vollständige Wappensammlung mit unablässig dreistem Fordern und unermüdlichem Briefschreiben zusammengebracht, verstand diese in verschiedenen Massen nachzuformen, auch abzumalen, wo jenes nicht gelang, sauber aufzukleben, und verkaufte diese Sammlungen durch Vermittlung eines Buchhändlers zu hohen Preisen, sowohl zum Bedürfnisse der Erwachsenen als der Kinder eingerichtet. Nebenher war es eine Liebhaberei von ihm, Truthähne und anderes Federvieh zu mästen und Raubtauben über die Stadt auszusenden, die immer mit einigen Überfliegenden in die geheime Öffnung seines Daches heimkehrten. Diesen Handel besorgte ihm seine Aufwärterin Ursula, eine treue Seele; ihm durfte niemand von diesem Handel sprechen, ohne sich Händel zuzuziehen. Von dem Erworbenen hatte er sich ein elendes, finsteres Haus im schlechtesten Teile der Stadt, neben der Judengasse, und vielerlei alten Kram gekauft, womit die Auktionen seine Zimmer geschmückt hatten, die er dabei in einer Ordnung erhielt und in einer Einsamkeit, daß niemand wußte, wie es eigentlich darin aussehe. Übrigens war er ein fleißiger Kirchengänger und setzte sich da einer Wand gegenüber, die mit alten Wappen von Erbbegräbnissen geschmückt war, machte aber übrigens alles mit wie andere Menschen, welche in die Kirche zum Zuhören gehen. Nach der Kirche aber pflegte er jedesmal bei der alten Hofdame anzutreten, vor deren Tür er an anderen Tagen mit einer Prise Schneeberger Schnupftabak, auf die er wohl funfzig Male niesen mußte, den geckenhaften schöntuenden Hahnentritt und Stutzerlauf sich vertrieb, der ihn in das Haus hineinzutreiben drohte, während ihm dabei der Degen, den er nach alter Art durch die Rocktasche gesteckt hatte, zwischen die Beine schlenkerte. Diese alte, hochauf frisierte, schneeweiß eingepuderte, feurig geschminkte, mit Schönpflästerchen beklebte Hofdame übte auch nach jenem unglücklichen Zweikampfe seit dreißig Jahren dieselbe zärtliche Gewalt über ihn aus, ohne daß sie ihm je ein entscheidendes Zeichen der Erwiderung gegeben hatte. Er besang sie fast täglich in allerlei erdichteten Verhältnissen, in kernhaften Reimen, wagte es aber nie, ihr diese Ergießungen seiner Muse vorzulegen, weil er vor ihrem Geist besondere Furcht hegte. Ihren großen, schwarzen Pudel Sonntags in ihrer Nähe unter hergebrachten Fragen zu kämmen, war der ganze Gewinn des heiß erflehten Sonntags; aber ihr Dank dafür, dies angenehme Lächeln, war auch ein reicher Lohn, — wer ihn nur zu schätzen wußte. Andern Leuten schien dies starre, in weiß und rot mit blauen Adern gemalte Antlitz, das am Fenster unbeweglich auf eine Filetarbeit oder in den Spiegel der nahen Toilette blickte, eher wie ein seltsames Wirtsschild. Sie lebte übrigens sehr anständig von den Pensionen zweier Prinzessinnen, die sie bedient und überlebt hatte, und die Besuche von Hofleuten und Diplomaten an ihrer silbernen Toilette, während welcher sie vielerlei Brühen zur Erhaltung ihrer Schönheit zu genießen pflegte, waren zu einer herkömmlichen Feierlichkeit geworden und zugleich zu einer Gelegenheit, die Neuigkeiten des Tages auszutauschen.
Es geschah aber an einem Frühlingssonntage, daß die Hofdame durch ein Zusammenlaufen der Leute in der Straße auf eine außerordentliche Neuigkeit aufmerksam gemacht wurde. Diese Außerordentlichkeit war aber diesmal der Leutnant, oder vielmehr sein vom Frühling verjüngtes Laub. Ein neuer, moderner Hut mit einer Feder statt der Wolle, ein glänzendes Degengehenk, eine neue Uniform mit geschmälerten Rockschößen, verkürzten Taschen an der Weste und neue, schwarze Samthosen verkündeten eine neue Periode der Weltgeschichte. Auch trat der Leutnant bald mit frohem Gesichte ins Zimmer und mit dem Berichte ihr entgegen: „Liebe Kusine, der Majoratsherr kommt in diesen Tagen; seine Mutter ist gestorben, ihm ist von einer prophetischen Kranken geraten, hierher zu gehen, wo er seine Ruhe finden werde, nachdem ihn ein heftiges Fieber um seine Gesundheit gebracht hat. Nun denken Sie sich, der junge Mann hat aus den Erzählungen der Mutter einen Abscheu gegen das Majoratshaus; er will durchaus bei mir wohnen und hat mich ersucht, ihm bei mir ein Zimmer recht bequem einzurichten, wozu er mir ein Kapital übermache. Mein Häuschen ist für einen so verwöhnten, reichen Herrn nicht eingerichtet; in unsern hohen Familien ist es leider wie bei den Katzen, ein junges wird als erstgebornes gut aufgefüttert, und alle jüngern Geschwister werden ins Wasser geworfen.“ — „Sie waren einmal schon recht nahe, das Majorat zu erhalten?“ sagte die Hofdame. — „Freilich,“ antwortete er, „ich war dreißig Jahre alt, mein Oheim sechzig und hatte in erster Ehe keine Kinder bekommen. Da fällt es ihm ein, noch einmal ein junges Fräulein zu heiraten. Umso besser, dachte ich, die Junge ist des Alten Tod. Aber umso schlechter gings; sie brachte ihm kurz vor seinem Tode einen jungen Sohn, diesen Majoratsherrn, — und ich hatte nichts!“ — „Wenn der junge Mann stürbe, würden Sie Majoratsherr,“ sagte ruhig die Hofdame; „junge Leute können sterben, alte Leute müssen sterben.“ — „Leider!“ antwortete der Leutnant; „der Prediger sprach heute auch davon auf der Kanzel.“ — „Was wurde denn gesungen?“ fragte die Hofdame; „ich wollte es zu meiner Hausandacht wissen.“ — Der Leutnant schlug die Lieder auf; sie sang leise, und er kämmte den Pudel nach Gewohnheit, indem er ihr mit Bewunderung zuhörte. — Als er sich empfahl, trug ihm die Hofdame auf, den jungen Vetter doch gleich, wenn er angekommen, bei ihr einzuführen.
Als der Leutnant zu Hause kam, trat ihm ein großer, bleicher, junger Mann entgegen, in einer Kleidung, wie er sie noch nicht gesehen: seine Haare waren phantastisch ohne strenge Ordnung emporfrisiert, und Figaroslocken in leichten, dünnen Röhren umliefen wie ein Halbkreis die Ohren. Hinten vereinigte ein dicker Katillon die Haare, welche in einer Locke hinübergekämmt waren. Ein streifiger Rock mit prächtigen Stahlknöpfen und große silberne Schuhschnallen verrieten ihm den Reichtum des Majoratsherrn. Auch dieser hatte aus den Briefen an die Mutter gleich den Vetter erraten und berichtete ihm, daß er Tag und Nacht mit Kurierpferden gereist sei und ihm nicht genug sein Wohlgefallen über das Haus ausdrücken könne, das ganz nach seinem Geschmack sei, nur müsse er ihm erlauben, daß er neben dem für ihn bereiteten großen Zimmer auch ein kleines nehme, das nach der engen Gasse hinaussehe; denn da er nie oder selten ausgehe, so liebe er vor allem diese Beweglichkeit der engen Straßen. — Der Vetter bewilligte ihm gern das schlechte Zimmer an der Judengasse und wollte gleich Anstalt machen, die trüben, von der Sonne verbrannten Fenster durch andere mit großen Scheiben zu ersetzen. — „Mein lieber Herr Vetter!“ rief der Majoratsherr, „diese trüben Scheiben sind meine Wonne; denn sehen Sie, durch diese eine helle Stelle seh ich einem Mädchen ins Zimmer, das mich in jeder Miene und Bewegung an meine Mutter erinnert, ohne daß sie mich bemerken kann.“ — „Ei, das gesteh ich,“ sagte der Vetter und setzte sich in die Schultern und fing an gegen das Fenster zu streichen, mit seinem Liebestritt, daß er in Eil eine Prise nahm, nieste und kaltblütig sagte: „Die da ist ein Schickselchen.“ — „Mein Schicksal?“ fragte der Majoratsherr bestürzt. „Wie Sie es nennen wollen,“ fuhr der Vetter fort, „ein Schicksalchen also, ein Judenmädchen; sie heißt Esther, hat unten in der Gasse ihren Laden, eine gebildete Jüdin, hat sonst mit ihrem Vater, der ein großer Roßtäuscher war, alle Städte besucht, alle vornehme Herren bei sich gesehen, spricht alle Sprachen; das war eine Pracht, wenn sie hier ankam, und die Stiefmutter Vasthi mit den jüngern Kindern ging ihnen in Schmutz entgegen. Es konnte niemand was dagegen sagen; die Ursach, warum? Weil sie mit ihrem Wesen dem Vater gute Käufer anlockte. Aber zuletzt hatte der Vater großes Unglück durch einen Handelsgenossen, der ihm mit dem Vermögen durchging. Da gings ihm knapp; das konnt er nicht vertragen und starb. Dieser Tochter erster Ehe, der Esther, hinterließ er ein kleines Kapital, damit sie von der Stiefmutter nicht zu Tode gequält würde; aber das läßt sich die alte Vasthi doch nicht nehmen.“ — „Das ist ja entsetzlich!“ sagte der Majoratsherr, „zwei Leute, die sich hassen, die sich totärgern, in einem Hause! Ich habe die alte Vasthi auch schon am Fenster gesehen: ein schrecklich Gesicht!“ — „Sie wohnen wohl in einem Hause,“ antwortete der Vetter, „aber jede hat ihren besonderen Laden und Wohnung.“ — „Ich will ihr bald etwas zu verdienen geben,“ sagte der Majoratsherr. „Es scheinen hier viele Juden zu wohnen.“ „Nichts als Juden,“ rief der Vetter, „das ist die Judengasse, da sind sie zusammengedrängt wie die Ameisen; das ist ein ewig Schachern und Zanken und Zeremonienmachen, und immer haben sie so viel Plackerei mit ihrem bißchen Essen; bald ist es ihnen verboten, bald ist es ihnen befohlen, bald sollen sie kein Feuer anmachen; kurz der Teufel ist bei ihnen immer los.“ — „Nein, lieber Vetter, Sie irren sich darin,“ sagte der Majoratsherr und drückte ihm die Hände. „Wenn Sie gesehen hätten, was ich in Paris bei meiner Kranken sah, Sie könnten den Teufel nicht für den Vater des Glaubens ansehen; nein, ich versichere es Ihnen, er ist der Feind allen Glaubens! Aller Glaube, der geglaubt wird, kommt von Gott und ist wahr, und ich schwöre Ihnen, selbst die heidnischen Götter, die wir jetzt nur als eine lächerliche Verzierung ansehen, leben noch jetzt, haben freilich nicht mehr ihre alte Macht, aber sie wirken doch immer etwas mehr als gewöhnliche Menschen, und ich möchte von keinem schlecht sprechen. Ich habe sie alle mit meinem zweiten Augenpaar gesehen, sogar gesprochen.“ — „Ei der Tausend, da erstaune ich,“ rief der Vetter, „das könnte uns erstaunliches Gewicht bei Hofe geben, wenn wir sie den hohen Herrschaften zeigen könnten.“ — „So geht das nicht, lieber Vetter,“ antwortete jener ernst, „der Mensch, der sie sieht, muß noch mehr darauf vorbereitet sein durch jahrelanges Nachdenken, als jene Geister, die ihm erscheinen sollen; sonst entsetzen sich beide voreinander, und der sterbliche Teil erträgt es nicht. Aber wer auch bis zu der innern Welt vorgedrungen, — wenn auch noch scheinbar lebend wie ich — ist dennoch abgestorben bei ihrem Bestreben, ihrer Tätigkeit. Das wußte meine Mutter von mir und war darum so unruhig auf ihrem Totenbette, was aus mir werden sollte. Sie hatte bis dahin alle Geschäfte mit großer Einsicht und Ordnung betrieben, während ich mich den Studien und der Beschauung hingab. Ich habe meine Zeit mit großer Anstrengung genutzt, ich habe gerungen wie keiner, ich habe erreicht, was wenigen zuteil geworden. Aber verloren war ich, erdrückt, bis zum Wahnsinn zerstreut von den Geschäften, die nach dem Tode der Mutter auf mich eindrangen, ich wollte mich bezwingen, das Höhere dem Niedern zu opfern; die Qual brachte mich um meine Gesundheit. Eine Kranke, deren Blick weit reicht, sagte mir zu, daß ich hier Ruhe finden würde bei Ihnen, Vetter; Sie hätten ein seltenes Geschick für das praktische Leben, mein Vermögen würde sich unter Ihrer Spekulation verdreifachen. O Vetter! nehmen Sie mir die Last des Geldes und der Güter ab, genießen Sie des Reichtums, ich brauche wenig, und auch auf den Fall, daß ich den Luftgeist der Erde wieder binden könnte, daß Kinder mein Haus füllten, soll Ihnen die Hälfte meiner Einnahmen für die Besorgung des Ganzen bleiben.“ — Bei diesem Vortrage flossen zwei edle Tränen aus den Augen des Majoratsherrn, während die großen Augen des Vetters mit heraufgezogenen Augenbrauen ihn verwunderlich von der Seite anstierten, ohne dem köstlichen Vortrage Glauben beimessen zu können. Dann fuhr der Majoratsherr, um das Gespräch zu ändern, fort: „Als ich mit schwellendem Gefühl, was mir in der Stadt bevorstehe, in welcher der Kreis meines Lebens angefangen, die große Straße herabfuhr, da begegneten mir ausgemergelte Leute, die sich kaum zu den Kaffeehäusern hinbewegen konnten, denn sie wurden fast gewaltsam an den Röcken von unglücklichen Seelen zurückgezogen, die wegen ungeendigter Prozesse nicht zur Ruhe kommen konnten und jammervolle Vorstellungen ihnen nachtrugen. Auch meinen Vater sah ich dabei wegen des einen Konkursprozesses, dessen Ende wohl keiner erleben wird. Schaffen Sie Ruhe seiner Seele, lieber Vetter, ich bin zu schwach.“ — „Wahrhaftig,“ rief der Vetter, „zu dem Tore gehen Sonntags die Räte, Schreiber und Kalkulatoren des großen Gerichts gewöhnlich mit ihren Frauen und Kindern zum Kaffeegarten hinaus.“ — „Der Postillon meinte auch, das wären Kinder, die sich ihnen an die Röcke gehangen“, fuhr der Majoratsherr fort, „aber solche jammervolle Gesichter haben Kinder nicht, das sind die Plagegeister, die sie wegen ihrer Nachlässigkeit umgeben. Lieber Vetter! befriedigen Sie meines Vaters, Ihres Oheims, arme Seele.“ — Der Vetter sah sich ängstlich in dem trüben Zimmer um, ihm war es zumute, als ob die Geister, wie der Schnupfen, in der Luft lägen. „Alles, alles will ich tun, was sie wünschen, bester Vetter“, rief er dann, „ich bin nicht glücklich, wenn ich nicht so etwas zu betreiben habe. Prozesse sind mir lieber als Liebeshistorien, und Ihre Angelegenheiten sollen bald in eine Ordnung kommen wie meine Wappensammlung.“ Bei diesen Worten führte er ihn in ein Vorderzimmer und hoffte, den Majoratsherrn durch den Anblick seiner zierlichen, gebohnten Schiebkasten, in welchen die Wappen, zum Teil mit Zinnober abgedrückt, die Namen in Frakturschrift beigefügt, glänzten, zu zerstreuen und zu befriedigen. Der Majoratsherr schien auch hierin, wie in allen Kenntnissen wohlbewandert; der Vetter mußte seine Bemerkungen achten. Als er aber den Schrank mit dem französischen Wappen eröffnete, da fuhr der Majoratsherr auf: „Gott! welch ein Lärmen! Wie die alten Ritter nach ihren Helmen suchen, und sie sind ihnen zu klein, und ihre Wappen sind mottenfräßig, ihre Schilde vom Rost durchlöchert; das bricht zusammen, ich halte es nicht aus, mir schwindelt, und mein Herz kann den Jammer nicht ertragen!“ Der Vetter rückte den unglücklichen Schrank fort und führte den Majoratsherrn ans Fenster, daß er Luft schöpfen möchte. „Und wer fährt dort?“ rief er, „der Tod sitzt auf dem Bocke, Hunger und Schmerz zwischen den Pferden, einbeinige und einarmige Geister fliegen um den Wagen und fordern Arme und Beine von dem Grausamen zurück, der sie mit kannibalischer Begierde ansieht. Seine Ankläger laufen mit Geschrei hinter ihm drein; es sind die Seelen, die er vorzeitig der Welt entriß — bester Vetter! ist denn hier keine Polizei?“ — „Ich will den Mann rufen, lieber Vetter, daß er Ihren Puls fühle,“ entgegnete der Vetter, „es ist unser bester Arzt und Chirurgus. Sie haben ihn gewiß an seinem schmalen, einsitzigen Wagen erkannt; sein Kutscher ist freilich mager und seine Pferde abgetrieben, aber die den Wagen umflattern, sind Sperlinge, und die ihm nachbellen, Gassenhunde.“ — „Nein,“ antwortete der Majoratsherr, „um Gotteswillen rufen Sie keinen Arzt! Wenn die meinen Puls fühlen, der immer in abwechselnden Takten sich bewegt, dann ganz stille steht, so schreien alle, ich sei schon gestorben; und am Ende haben sie recht, denn mich erhält nur der Gedanke einer guten Seele, die auch krank ist. Übrigens habe ich Sie diesmal ohne Grund erschreckt, lieber Vetter, meine Worte drückten nur die Gefahr aus, worin sich der französische Adel befindet; ich bildete mir die Unruhe ein, die Frankreich in den alten Schlössern von den Geistern erfahren muß, Ihre Sammlung ist Geist-los. Ich kann genau unterscheiden, was ich mit dem Auge der Wahrheit sehen muß, oder was ich mir gestalte; wirklich bin ich ein guter Beobachter meiner selbst, und die Physik der Geister war von je mein Lieblingsstudium.“
Der Leutnant, der mit dieser Physik der Geister durchaus nichts zu tun haben mochte, brachte die Rede auf häusliche Einrichtungen. Der Majoratsherr erklärte, daß er nur wenig Aufwartung bedürfe, nur die wenigsten um sich leiden könne und deshalb sich selbst frisiere und rasiere, auch alle Dienerschaft entlassen habe. „Die Aufwärterin hier“, sagte er, „ist eine herrliche Seele, sie trägt nicht mit Unrecht diesen Heiligenschein um ihr Haupt.“ — „Heiligenschein?“ brummte der Vetter vor sich, „das ist wohl das weiße Tuch, womit sie sich den Kopf eingebunden hat!“ Dann sprach er laut: „Wenn Gott aus der eine Heil’ge schnitzeln wollte, die ginge wohl ganz in die Späne!“ Noch berichtete der Majoratsherr, daß er gewöhnlich bei Tag schlafe und erst, wenn die Sonne im Sinken, aus dem Bette aufzustehen und seine stille Arbeit zu betreiben pflege, wogegen der Vetter heimlich brummte: „Davon kommt der Geisterspuk im Kopfe; er lebt ja wie die Nachteulen.“
Nachdem das Abendessen eingenommen, hatte sich der Vetter mit einer guten Nacht empfohlen. Auch die Aufwärterin war zu Bette gegangen, während der Majoratsherr sein großes Zimmer mit Wachskerzen tageshell erleuchtet hatte, um seine Bücher und Handschriften, auf- und abgehend, mit gleicher Bequemlichkeit zu durchlaufen und die Hauptarbeit seines Lebens, sein Tagebuch, fortzuführen. Dieser glänzende Kerzenschein war eine neue Erscheinung für die Bewohner der Gegend und die erste Unruhe, die er ihnen machte; denn bei der Sparsamkeit des Leutnants mußten sie vermuten, daß dort ein Feuer ausgebrochen sei. Als sie sich aber vor dem Hause sammelten und die klagenden Töne einer Flöte durch das offene Fenster erschallen hörten, beruhigten sie sich wieder und freuten sich des neuen Lichtes, das ihnen den Schmutz der Straße deutlich machte. Der Flötenspieler war der Majoratsherr, aber seine Töne sollten sich eigentlich zu Esther hinrichten, die er am Fenster des dunklen Nebenzimmers belauschte, wie sie ihre Kleider abwarf und im zierlichsten Nachtkleide vor einem eleganten Spiegeltische ihre Haare flocht. Der enge Bau jener Gasse, in welche die Balkenlagen jedes Stockwerkes immer weiter hinausragten, um den Zimmern noch etwas Raum zu gewinnen, brachte ihm ihr Fenster so nahe, daß er mit einem kühnen Sprunge zu ihr hinüber hätte fliegen können. Aber das Springen war nicht seine Sache; dagegen übte er die seltene Feinheit seines Ohres, das auf bedeutende Entfernung ihm hörbar machte, was jedem andern verhallte. Er hörte zuerst einen Schuß oder einen ähnlichen Schlag; da sprang sie auf und las ein italienisches Gedicht mit vielem Ausdruck, in welchem der Dienst der Liebesgötter bei einem Putztische beschrieben wurde; und gleich sah er unzählige dieser zartbeflügelten Gestalten das Zimmer beleben, wie sie ihr Kamm und Bänder reichten und ein zierliches Trinkgefäß, wie sie die abgeworfenen Kleider ordneten, alles nach dem Winken ihrer Hände, dann aber, als sie sich in ihr Bett gestreckt, wie ein gaukelnder Kreis um ihr Haupt schwebten, bis sie immer blässer und blässer sich im Dampfe der erlöschenden Nachtlampe verloren, in welchem ihm dagegen die Gestalt seiner Mutter erschien, die von der Stirn des Mädchens eine kleine beflügelte Lichtgestalt aufhob und in ihre Arme nahm, — wie das Bild der Nacht, die das Kindlein Schlaf in ihrem Gewande trägt — und in dem Zimmer bis zur Mitternacht damit auf- und niederschwebte, als wenn sie ihm die unruhigen Träume vertreiben wollte, es dann aber über den schwindelnden Straßengrund dicht an das Auge des Staunenden trug, der Esthers verklärte Züge in der Lichtgestalt deutlich erblickte, sie aber mit einem Schrei des Staunens unwiderruflich zerstreute. Denn mit diesem Schrei war er aus dem höheren Seelenzustande, aus dem Kern in die Schale zurückgesunken, und kein Wunsch führte ihm diesen seligen Anblick zurück. Er sah Esther in ihrem Bett nicht mehr liegen, ihr Zimmer war dunkel, nichts regte sich in der Gasse als die Ratten, die eine muntere Jagd unter den Brücken der Gossen hielten, auch hustete die alte Vasthi mit hoher Pelzmütze aus einem Fenster und fing an zu beten, als ein Stier in der Nähe ein heftiges Gebrüll erhob. Diesem Gebrüll ging der Majoratsherr im Hause nach und erblickte durch ein Hinterfenster beim Schein des aufgehenden Mondes auf grüner, mit Leichensteinen besetzten, ummauerten Fläche einen Stier von ungeheurer Größe und Dicke, der an einem Grabsteine wühlte, während zwei Ziegenböcke mit seltsamen Kreuzsprüngen durch die Luft sich über sein Wesen zu verwundern schienen. Hier stand dem Majoratsherrn der Verstand still; diese schreckliche Wirtschaft auf einem Gottesacker empörte ihn, er klingelte der Aufwärterin. Sie erschien bald und fragte ihn, was er befehle? „Nichts, gar nichts,“ antwortete er, „aber was deutet dieser Spuk?“ — Die Frau trat ans Fenster und sagte: „Ich sehe nichts als die Majoratsherren der Juden, das sind die erstgebornen Tiere, welche sie nach dem Befehle ihres Gesetzes dem Herrn weihen, die werden hier köstlich gefüttert, sie brauchen nichts zu tun; wenn sie aber ein Christ erschlägt, so tut er den Juden einen rechten Gefallen, weil er ihnen die Ausgabe spart.“ — „Die unglücklichen Majoratsherren,“ seufzte er in sich, „und warum haben sie Nachts keine Ruhe?“ — „Die Juden sagen, daß einer aus der Sippschaft stirbt, wo sie nachts so wühlen am Grabe,“ antwortete die Frau; „hier, wo dieser wühlt, ist der Vater der Esther, der große Roßtäuscher, begraben.“ — „O Gott nein!“ rief er und ging in den betrübtesten Gefühlen auf sein Zimmer und suchte sich wieder mit heftigem Flötenspiel zu zerstreuen.
Endlich wurde es Tag; die großen Schatten der Häuser lagerten sich unter dem hellen Himmel, die Mägde sprangen frisch geschuht, als ob sie sich an diesem Tage durchaus nicht beschmutzen wollten, von einem trocknen Stein zum andern, die Schwalben dagegen kreuzten hin zu dem köstlichen Baumörtel, den ihnen der gestrige Regen bereitet hatte, und füllten damit alle Lücken der menschlichen Architektur. Auch an dem Fenster, das zu Esther blickte, hatten sich heute zwei von den zwitschernden Grauröcken eingefunden und wollten ihr Nest gerade da ankleben, wo er durch die einzige helle Scheibe zu Esther hinblickte. Da stand der Majoratsherr zweifelnd, ob er sie stören, ob er alles abwarten solle, was ihm so bedeutend erschien. Seine Sinnesart überwog für das Abwarten. Nun ihm Esther verborgen, konnte er sich an den lieben Geschöpfen, an ihrer Lust, an ihrem Fleiße nicht satt sehen, es war ihm zumute, als ob er sich selbst da anbaue, als hänge sein Glück davon ab, daß sie fertig würden, und ehe er sich zu Bette legte, sang er noch zu seiner Mandoline:
Die Sonne scheinet an die Wand,
Die Schwalbe baut daran;
O Sonne, halt nur heute Stand,
Daß sie recht bauen kann.
Es ward ihr Nest so oft zerstört,
Noch eh es fertig war,
Und dennoch baut sie wie betört,
Die Sonne scheint so klar!
So süß und töricht ist der Sinn,
Der hier ein Haus sich baut, —
Im hohen Flug ist kein Gewinn,
Der fern aus Lüften schaut,
Und ging er auch zur Ewigkeit,
Er paßt nicht in die Zeit,
Er ist von ihrer Freudigkeit
Verschieden himmelweit.
Den Abend, als er aufwachte, fand er den Vetter schon mit einem guten Abendessen in seinem Zimmer, auch sprach er von einer unangenehmen Überraschung, die er ihm gemacht. — Deswegen führte er ihn in das Nebenzimmer, von wo er die Gasse beobachten könnte, und der Majoratsherr fand es mit Sofa und Stühlen, mit Schränken und Tischen geschmückt, auch war das Fenster gewaschen — aber die Schwalben waren herabgestoßen. „Meine guten schützenden Engel sind vertrieben“, dachte der Majoratsherr. „Ich soll sie sehen, meinen Todesengel, soll den ganzen Traum durchleben, der mich plagte; denn eins ist schon erfüllt, was ich im Schlafe sah.“ — „Warum so traurig, Vetter?“ fragte der Leutnant. — „Ich habe unruhig geschlafen,“ antwortete der Majoratsherr, „und mir träumte von der Esther, sie sei mein Todesengel. Närrisches Zeug! Ihr Kleid hatte unzählige Augen, und sie reichte mir einen Schmerzensbecher, einen Todesbecher, und ich trank ihn aus bis zum letzten Tropfen!“ — „Sie hatten Durst im Schlafe,“ sagte der Leutnant. „Setzen Sie sich zum Essen, da steht guter Wein, echter Unger, ich habe ihn selbst gemacht, aus Rosinen und schwarzem Brote. Apropos, Sie müssen die gute alte Hofdame bald einmal besuchen; sie hat mich heute halbtot gequält, daß ich Sie zu ihr bringe, sie wäre eine Freundin Ihrer Eltern.“ — „Dazu muß ich einen Tag leben, und ich verschlafe meine Tage viel lieber,“ antwortete der Majoratsherr. „Lassen wir das, nehmen Sie meinen Dank für die Ausschmückung des Zimmers! Eins möchte ich mir noch kaufen, seidene Vorhänge vor jenes Fenster; Sie haben die Scheiben so hell polieren lassen, daß ich nicht mehr versteckt bin, wenn ich in die Gasse schaue.“ — „Die finden Sie gleich unten bei der schönen Esther,“ rief der Vetter, „da können Sie ihre Bekanntschaft viel näher machen als durch die Fensterscheiben. Alle unsere Majoratsherren waren verliebter Komplexion, Sie müssen keine Ausnahme machen, bester Vetter! Ich will Sie auch begleiten, damit Sie im Handel nicht betrogen werden, und daß Sie sich nicht abschrecken lassen, wenn das Mädchen sehr spröde tut.“ So gingen beide, der Majoratsherr vom Leutnant fortgezogen, in die Gasse, und der letztere konnte sich eines Schauers nicht erwehren; ihm wars, als wären die hohen, hölzernen Häuser nur aus Pappdeckeln zusammengebaut, und die Menschen hingen wie ein Spielzeug der Kinder an Fäden und regten sich, wie es das Umdrehen der großen Sonnenwalze ihnen geboten. Jetzt fingen sie an, ihre Läden zu schließen, räumten auf, zählten den Gewinn, und der Majoratsherr wagte in dem Lärmen, in dem Dufte nicht aufzublicken.
„Hier, hier!“ rief der Leutnant, und der Majoratsherr wollte eben in einen Laden treten, als er statt der Esther ein grimmig Judenweib, mit einer Nase wie ein Adler, mit Augen wie Karfunkel, einer Haut wie geräucherte Gänsebrust, einem Bauch wie ein Bürgermeister, darin erblickte. Sie hatte sich ihm schon mit ihren Waren empfohlen und gefragt, ob sie auf sein Zimmer kommen solle, sie wolle ihm das Schönste zeigen, auch wenn er keine Elle kaufen möchte; denn er sei ein schöner Herr! — Schon wollte er eintreten, als der Leutnant ihn am Rock zupfte und zuflüsterte: „Hier im andern Laden ist die schöne Esther!“ — Da wendete er sich fort und sagte verlegen, er wolle nichts kaufen, er hätte sich nur nach einem Komödienzettel an der Ecke umgesehen, und mit diesen Worten wandte er sich nach dem Nebenladen, wo er Esther zu sehen erwartete. Aber die alte Jüdin ließ ihn noch nicht los. Sie rief eifrig: „Junger Herr! hier im Winkel ist auch ein Zettel, ich habe vielleicht auch einen im Laden! Treten Sie ein, ich habe auch den Zettel von den spanischen Reitern!“ Der Majoratsherr ward dadurch gestört und blickte sich um, erschrak aber, daß die Jüdin einen schwarzen Raben auf dem Kopfe trug, und verweilte. Unterdessen hatte der Leutnant schon ein Gespräch mit Esther angeknüpft, welche ihm ohne Zudringlichkeit Bescheid gegeben. Dieser zog den Majoratsherrn in den Laden der Esther, und nun erschallte hinter ihm ein fürchterliches Rabengekrächze aus dem Munde der alten Jüdin. In halb hebräischen Schimpfreden und im verzerrtesten Judendialekt zeihte sie die arme Tochter der Unkeuschheit, mit der sie Christen in ihren Laden locke, um ihrer eigenen Mutter den Verdienst zu rauben, und verfluchte sie dabei zu allen Martern. Endlich ließ der Atem des wütenden Weibes nach, der trotz der warmen Luft wie im Winter geraucht hatte, und sie hetzte vergeblich ein paar vorübergehende kleine Buben auf, daß sie ihr sollten schimpfen helfen, wofür sie ihnen Kuchen versprach. Esther glühte von Schamröte, aber sie erwiderte nichts. Endlich lief die Alte fort, weil ein Käufer kam. Der Majoratsherr fragte, wer die grimmige Alte mit dem Raben auf dem Kopfe gewesen? — „Meine Stiefmutter,“ antwortete Esther, „haben Sie vielleicht das schwarze Tuch mit den langen Zipfeln für einen Raben angesehn?“ — Der Klang der Stimme schien dem Majoratsherrn nun erst bekannt, nun er sie so nahe hörte; noch deutlicher als aus dem Fenster durchdrang ihn die Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Esther war nicht frischer, aber jugendlicher; eine schmerzliche Blässe hatte das zarte Antlitz, selbst die feingeformten Lippen, wie ein schädlicher Frühlingsnebel überzogen; auch ihre Augen schienen dem Lichte zu schwach und verengten sich unwillkürlich, wie Blumen gegen Abend die Blätter um ihren Sonnenkelch zusammenziehen. Während sie mit Eilfertigkeit seidene Zeuge entrollte, suchte sie der Leutnant in ziemlich ungeschickter Art zu trösten, indem er ihr die Hoffnung zusicherte, ihre Stiefmutter werde bald sterben. — „Ich wünsche ihr langes Leben,“ antwortete die Gute, „sie hat noch Kinder, für die sie sorgen muß. Wer weiß, wer zuerst den bittern Tropfen des Todesengels kosten muß. Ich fühle mich heute in allen Nerven so gereizt und schwach.“ — Der Majoratsherr meinte einen Todesengel nicht nur fliegen zu sehen, sondern auch sein Flügelsausen zu hören: „Wie schrecklich seine Flügel sausen!“ — Aber Esther sprang nach einer Hintertür, schlug sie zu und entschuldigte sich wegen des heftigen Zuges; ihr kleiner Bruder habe die Tür offen gelassen. Der Majoratsherr wählte nun unter den Zeugen, fragte aber nach einer Farbe, die nicht im Vorrate war. Gleich sprang Esther zu ihrer Mutter nach dem andern Laden, und diese brachte mit fröhlichem Antlitz den verlangten Stoff, als ob der Gewittervorhang mit einem Hauche fortgezogen worden wäre. Der Leutnant wollte viel abdingen; aber der Majoratsherr warf das Geld hin, was verlangt worden. Da gab ihm Esther einige Taler heraus, denn soviel betrüge ihr Vorschlag; darüber fing die Mutter wieder an zu wettern, aber diesmal ganz hebräisch. Als Esther wieder geduldig die Augen niederschlug, antwortete der Leutnant ihr auf Hebräisch, so daß die Alte, ganz erstaunt über seine seltene Fertigkeit, das Feld räumte und sich in ihr Schneckenhaus verkroch. Esther schien sich darüber noch mehr zu kränken als über den Schimpf, den sie erdulden müssen, und der Majoratsherr zog aus Schonung den Vetter, der schon Triumph ausrufen wollte, mit sich fort, indem er zugleich das seidene Zeug unter dem Arme selbst forttrug.
Als sie zu Hause, fragte er den Leutnant, woher er das Hebräische wisse? — „Das brauchte ich zu meinem Verkehr mit den Juden,“ antwortete er, „und was es mir kostet an Büchern und Lehrmeistern, hat es mir reichlich wieder eingebracht, denn ich konnte nun alle ihre Heimlichkeiten verstehen. Sehen Sie, Vetter, in dem Schranke sind lauter jüdische Sagenbücher und Beschreibung ihrer Sitten und Gebräuche. Wissen Sie, was die Alte zuletzt sagte? Sie freue sich darauf, wenn Esther stürbe, da würde es eine schöne Auktion geben! Wirklich ist sie auch aus dem Nachlasse ihres Vaters mit allen eleganten Möbeln versorgt, und die Leute erzählen, weil nun die feinen Herren nicht mehr, wie bei ihres Vaters Lebzeiten, zu ihr kommen, daß sie sich abends prächtig anputze und Tee mache, als ob sie Gesellschaft sehe, und dabei in allen Sprachen rede.“ — Aber der Majoratsherr hörte wenig mehr darauf, denn er war mit ganzer Seele über die Sagenbücher hergefallen. Der Leutnant wünschte ihm gute Nacht, und kaum hatte er ihn verlassen, so sah der Majoratsherr beim Lesen der alten Bücher in seinem Zimmer alle Patriarchen und Propheten, alle Rabbinen und ihre wunderlichen Geschichten aus den Sagenbüchern hervorgehen, daß die Stube zu eng schien für die ungeheure Zahl. Aber der Todesengel schlug sie endlich alle mit seinen Flügeln hinweg, und er konnte sich nicht satt lesen an seiner Geschichte: „Lilis war die Mitgeschaffne Adams im Paradiese; aber er war zu scheu und sie zu keusch, und so gestanden sie einander nie ihr Gefühl, und da erschuf ihm der Herr im Drange seines Lebens ein Weib aus seiner Rippe, wie er es sich im Schlafe träumte. Aus Gram über diese Mitgenossin ihrer Liebe floh Lilis den Adam und übernahm nach dem Sündenfalle des ersten Menschen das Geschäft eines Todesengels, bedrohte die Kinder Edens schon in der Geburt mit Tod und umlauert sie bis zum letzten Augenblicke, wo sie den bittern Tropfen von ihrem Schwert ihnen in den Mund fallen lassen kann. Tod bringt der Tropfen, und Tod bringt das Wasser, in welchem der Todesengel sein Schwert abwäscht.“
Unruhig lief der Majoratsherr bei diesen Worten im Zimmer umher, dann sprach er heftig: „Jeder Mensch fängt die Welt an, und jeder endet sie. Auch ich liebte scheu und fromm eine keusche Lilis, sie war meine Mutter; in ihrer ungeteilten Liebe ruhte das Glück meiner Jugend. Esther ist meine Eva, sie entzieht mich ihr und gibt mich dem Tode hin!“ — Er hielt es nicht aus bei dem Anblick des Todesengels, den er immer hinter sich lauernd zu schauen glaubte; er eilte auf die Straße im Mantel verhüllt, um sich an dem Nachhall des Tages zu zerstreuen. Endlich setzte er sich ermüdet hinter das Fußgestell einer Bildsäule, die in der Nische eines hohen Hauses stand, und sah den eiligen Läufern zu, die mit Fackelglanz einem rollenden Wagen vorleuchteten; die Lilis zog hinter ihm her. Jubelnde Gesellschaften zogen lärmend aus der Trinkstube nach Hause und klapperten noch mit den Nägeln gegen die Saiten, die sie so lange hatten schwingen lassen; aber auch ihnen zog der Todesengel nach und — blies sie an aus einem Nachtwächterhorn. Und es wurden der Todesengel so viele vor seinen Augen, daß sie zueinander traten und paarweis wie Liebende nebeneinander gingen in traulichen Gesprächen. Und er horchte ihnen zu, damit er wüßte, wie er zu Esther reden müsse, um ihr seine Liebe kund zu tun. Aber die Liebenden wurden von den Geschäftigen verdrängt, und er mochte nicht eher zuhören, bis ihm die Stimme der Vasthi auffiel, die mit einem alten Rabbiner vorüberging und ihm sagte:
„Was soll ich die Esther schonen; ist sie doch nicht das Kind meines Mannes, sondern ein angenommenes Christenkind, der er den größten Teil seines Geldes zugewendet hat.“ — „Sei Sie still,“ sagte der Rabbiner, „weiß Sie denn, wieviel der Mann mit dem Kinde bekommen hat?“ „Alles. Er hatte nichts und konnte damit anlegen großen Handel. Was kann das Mädchen dafür, daß ihm sein Geld ist gestohlen worden?“ — Hier kamen sie ihm aus dem Bereich seines scharfen Gehörs, er eilte ihnen nach, aber sie hatten sich schon in irgend ein Haus begeben. Auch hier war er, wie gewöhnlich, zu spät zu einem Entschluß gekommen, doch war ihm der Fingerzeig seltsam bedeutend und führte ihn sinnend hin in sein Haus.
Als er sich kaum ein paar Minuten ausgeruht hatte, hörte er einen Schuß, er sah zum Fenster hinaus, aber niemand schien es gehört zu haben. Beruhigt rückte er auf seine Warte am Fenster und wagte es, einen Fensterflügel zu öffnen, so daß er noch genauer, als die Nacht vorher, das Zimmer der, schönen Esther übersehen konnte. — Da hatte sich vieles verändert, die Kappen der Stühle waren abgenommen, und sie glänzten in weißem Atlas um einen prachtvollen Teetisch, auf welchem eine silberne Teemaschine dampfte. Esther schüttete wohlriechendes Wasser auf eine glühende Schippe, dann sprach sie in die Luft: „Nanni, es ist höchste Zeit, daß ich meine Locken mache, meine Gäste müssen bald kommen.“ Esther antwortete darauf mit veränderter Stimme: „Gnädiges Fräulein, es ist alles bereit.“ — Im Augenblicke des Worts stand eine zierliche Kammerjungfer vor Esther und half ihr die Locken ausziehen und ordnen. Dann reichte sie Esther den Spiegel, und diese klagte: „Gott, wie bin ich bleich! Hat es denn nicht Zeit mit dem Erbleichen, bis ich tot bin? Du sagst, ich soll mich schminken. Nein, dann gefalle ich dem Majoratsherrn nicht, denn er ist auch blaß wie ich, gut wie ich, unglücklich wie ich; wenn er nur heut käme, die Gesellschaft macht mir ohne ihn keine Freude.“ Nun war alles im Zimmer geordnet, und Esther, sehr elegant angezogen, legte einige schön gebundene englische Bücher aufs Sofa und begrüßte auch englisch das erste Nichts, dem sie in ihrer Gesellschaftskomödie die Tür öffnete. Kaum antwortete sie englisch in seinem Namen, so stand da ein langer, finsterer Engländer vor ihr, mit der Art Freiheit und Anstand, die sie damals vor allen Nationen in Europa auszeichnete. Mit solchen Luftbildern von Franzosen, Polen, Italienern, endlich auch mit einem kantischen Philosophen, einem deutschen Fürsten, der Roßhändler geworden, einem jungen aufgeklärten Theologen und einigen Edelleuten auf Reisen belebte sich der Teetisch. Sie war in einer unerschöpflichen Bewegung durch alle Sprachen. Es entspann sich ein Streit über die Angelegenheiten Frankreichs. Der Kantianer demonstrierte, aber der Franzose wütete. Sie suchte sehr gewandt die Streitenden auseinander zu halten und schüttete endlich, als ob sie angestoßen wäre, eine Tasse heißen Tee dem Kantianer auf die Unterkleider, um eine Diversion zu machen. Das gelang auch; es wurde entschuldigt, abgewischt, und sie versicherte, den Tritt des Majoratsherrn zu hören, eine neue Bekanntschaft, die sie erst jetzt gemacht, ein ausgezeichneter junger Mann, der Frankreich erst kürzlich verlassen habe und jene streitigen Fragen am besten beantworten könne. — Bei diesen Worten durchgriff eine kalte Hand den Majoratsherrn. Er fürchtete, sich selbst eintreten zu sehen; es war ihm, als ob er wie ein Handschuh im Herabziehen von sich selbst umgekehrt würde. Zu seiner Beruhigung sah er gar nichts auf dem Stuhle, den Esther ihm hinrückte, aber den andern Mitgliedern der eleganten Gesellschaft mußte sein Ansehen etwas Unheimliches haben, und während Esther zu ihm flüsterte, empfahlen sich diese, aber einer nach dem andern. Als alle sich entfernt hatten, sprach Esther lauter zu dem leeren Stuhle: „Sie haben mir in aller Kürze gesagt, ich sei nicht, was ich zu sein — scheine, und ich entgegne darauf, daß auch Sie nicht sind, was Sie scheinen.“ Darauf antwortete Esther, indem sie zum Staunen des aufhorchenden Majoratsherrn seine Stimme täuschend nachahmte: „Ich will mich erklären: Sie sind nicht die Tochter dessen, den die Welt Ihren Vater nennt, Sie sind ein geraubtes Christenkind, Ihren wahren Eltern, Ihrem wahren Glauben geraubt, und mein Entschluß, Sie dahin zurückzuführen, hat mich bestimmt, Ihnen meine Aufwartung zu machen. Erklären Sie sich mir jetzt auch deutlicher.“ — Esther: „Es sei. Ich bin Sie und Sie sind ich; sollte aber die Sache wieder in Ordnung gebracht werden, so zweifle ich, daß ich dabei gewinnen kann, Sie aber verlören unglaublich viel, und nur der schreckliche, rotnasige Vetter würde zu einer schwindelnden Höhe erhoben.“
Sie schwieg und flehte sich selbst mit der Stimme des Majoratsherrn an, weiter zu reden, denn eine Ähnlichkeit mit der geliebten Mutter enthüllte ihm nun halb das Geheimnis. — Dann fuhr sie fort: „Ist Ihnen denn der Eigensinn eines alten Majoratsherrn, der von seinem Vetter, dem Leutnant, mehrmals gekränkt worden, einem eignen Sohne die geliebten Reichtümer überlassen möchte, so geheimnisvoll? Nehmen Sie an, daß die Erfüllung dieser Hoffnung ihm nahe bevorstand, daß seine Frau in Wochen kommen sollte, daß ihn aber die Furcht quälte, die Geburt eines Mädchens könne alles vereiteln. Wenn diese oft geäußerte Furcht eine listige Hofdame benutzt, um ihm einen Knaben aufzuschwatzen, den sie eine Woche früher insgeheim geboren: bedarf es da mehr als einer oft bestochenen Hebamme, wenn nun die Furcht erfüllt wird, und ich statt eines Knaben geboren werde? Ich werde einem dienstbaren Juden überliefert, der, außer dem Vorteil, auch seiner Religion dadurch etwas zuzuwenden hofft. Haben Sie Nathan den Weisen gelesen?“ — Majoratsherr: „Nein!“ — Esther: „Nun gut, Sie werden der Mutter an die Brust gegeben, wie die Nachtigall auch Kuckuckseier ausbrütet, doch es versteht sich, ohne etwas Böses damit sagen zu wollen. Und daß ich dies alles weiß, danke ich der Sterbestunde meines Pflegevaters; er versicherte mir noch dabei, daß jenes Kapital, was er mir zurücklasse, mehr betrage, als was ich nach der Stiftung des Majorats fordern könne; er habe aber wohl das Dreifache vom alten Majoratsherrn empfangen, um das Geheimnis zu bewahren, es sei die Grundlage seines großen Handelsverkehrs geworden. Sie verstummen, Sie zweifeln, was zu tun sei? Sie verfluchen die Eitelkeit des männlichen Geschlechts, seinen Namen allein in Ansehen erhalten zu wollen? Aber was ist zu tun? Lassen Sie denn den alten, lächerlichen Vetter Ihres Reichtums mit froh werden, wie Sie schon jetzt getan; meine Bahn ist bald durchlaufen, und ich ertrage keinen großen Wechsel der Witterung. Aber Sie lieben mich, sagen Sie. Ach ich habe Ihre Augen beim ersten Anblick verstanden, aber unsre Liebe ist nicht von dieser Welt; diese Welt hat mich mit aller ihrer Torheit zerstört. Freund, nicht alle Männer meinten es mit mir so ehrlich wie Sie, und sie umstrickten mich mit jeder Eitelkeit des kindischen Verstandes. Scheiden wir für heute, denn es kostet mir viel Zeit, Ihnen zu sagen, daß ich Ihnen kein ganzes Herz mehr schenken kann; es brach, es ging in Stücken, und nur dort heilt sich der Riß.“ — Bei diesen Worten verfinsterte eine Tränenflut die Augen des Majoratsherrn. Als er aufblickte, lag Esther, nachdem sie das Nachtlicht ausgelöscht, in ihrem Hemdchen im Fenster und atmete heftig die kalte Nachtluft ein; dann ging sie zu Bette, und er setzte sich zu seinem Tagebuche, um alles Wunderbare, so treu er vermochte, aufzuzeichnen.
Gegen Mittag kam der Vetter, wie gewöhnlich, vor sein Bette und fragte ihn, ob er nicht endlich Lust habe, die Hofdame zu besuchen. Der Majoratsherr überraschte ihn mit einem vernehmlichen Ja, hätte aber gern hinzugefügt, daß er lieber allein den Besuch gemacht hätte. Er kleidete sich schnell an und machte sich mit dem Vetter auf den Weg, der sich darüber freute, daß sie jetzt gewiß noch allein sei. Wie sie sich dem Hause näherten, pochte dem Majoratsherrn das Herz. „Was ist das für ein schrecklich großer Menschenkasten dort,“ fragte er, „mit den Spiegelscheiben? In dieser Nische habe ich einmal nachts hinter der Statue in der Nische gesessen!“ — „Kennen Sie noch nicht Ihr eigenes Majoratshaus?“ fragte der Vetter, „da ließe es sich besser wohnen als in meinem kleinen Neste!“ — „Bewahre der Himmel,“ antwortete der Majoratsherr, „ich wollte, daß ich es nie gesehen hätte; die großen Steine scheinen mit Hunger und Kummer zusammengemauert.“ — „Freilich, der es baute, hat sich kaum satt zu essen gewagt, und Ihr Vater war nicht auf sonderliche Ausgaben eingerichtet, hat mir einmal, als ich knapp von einem Tage zum andern lebte, einen Prozeß gemacht, weil ich eine Schneiderrechnung, die er für mich ausgelegt, am festgesetzten Tage ihm nicht wieder gezahlt hatte.“ — „Gott, das ist hart,“ sagte der Majoratsherr, „das kann den Erben keinen Segen bringen!“
Unter solchen Gesprächen waren sie in das Vorzimmer der Hofdame getreten, die darum bitten ließ, daß die Herren eine halbe Stunde warten möchten, sie hätte noch einige Worte zu schreiben. Der Vetter sah an seiner Uhr, daß er nicht so lange warten könne, wegen seines regelmäßigen Spazierganges, und ließ den Majoratsherrn allein. Diesem ward sehr unheimlich in dem Zimmer. Der schreiende Laubfrosch auf der kleinen Leiter schien von einem fatalen Geiste beseelt; auch die Blumen in den Töpfen hatten kein recht unschuldiges Ansehen; aus dem Potpourri glaubte er ein Dutzend abgelebte Diplomaten heraufhorchen zu sehen. Aber mehr als alles quälte ihn der schwarze Pudel, obgleich sich dieser vor ihm zu fürchten schien; er hielt ihn für eine Inkarnation des Teufels. Als nun endlich die Hofdame wie ein chinesisches Feuerwerk mit dem steifen Wechsel ihrer Farben aus dem andern Zimmer hervortrat, da vergingen ihm fast die Sinne, denn ihm stand’s vor der Seele, daß die Abscheuliche seine Mutter sei. „Mutter,“ sagte er, und sah sie scharf an, „deinem Sohn ist sehr wehe!“ Er dachte, sie würde erschrecken, ihn für einen Toren erklären; aber sie setzte sich ruhig zu ihm und sagte: „Sohn, deiner Mutter ist sehr wohl.“ Sie wollte ihm ein emailliertes, großes Riechfläschchen reichen, aber er scheute sich davor und sagte: „Da sehe ich eine Seele eingesperrt!“ Sie legte es leise beiseite und sagte: „Wenn darin eine Seele, so ist es die Seele deines Vaters, des Schönen; ich reichte es ihm, als er vom Leutnant, dem Vetter, durchstochen ward, im unerwarteten Zweikampf vor meiner Türe.“ — „Ich lebe mit dem Mörder meines Vaters unter einem Dache, und du bist seine geliebte Freundin?“ — „Du weißt zuviel, mein Sohn,“ fuhr sie fort, „als daß du nicht alles wissen solltest, wieviel du mir zu danken, was ich für dich getan habe. Dein Vater hieß der schöne ... in der ganzen Stadt; dieser Ruf machte, daß ich gegen ihn alle Vorsicht vergaß. Unser Liebeshandel blieb zwar heimlich; aber bei den Folgen, die ich trug, mußte ich auf Verbannung vom Hofe gefaßt sein, wenn ich diese Folgen nicht verheimlichen könnte, nachdem dein Vater erstochen war, ehe er sein Versprechen, mich zu heiraten, erfüllen können. Das gelang mir.“ — „Ich weiß es.“ — „Und zugleich rächte ich deinen Vater an seinem Mörder, indem ich dir das Vermögen zuwandte, was jenem mit allem Rechte zugefallen wäre. Ich tat noch mehr. Durch meinen Einfluß am Hofe hemmte ich jeden seiner Versuche, sich in Ehren fortzuarbeiten, und erhielt ihn dabei in den Netzen meiner Reize. Weder seinem Verstande noch seinem Mute wurde gerechte Anerkennung; so veraltete er in sinnlosem Treiben und quälenden Nahrungsspekulationen, ein lächerliches Spottgesicht aller Welt, während die ältern Leute noch mit Entzücken von der Schönheit deines Vaters reden, ihn noch als Sprichwort brauchen, um Schönheit zu bezeichnen. Wenn ich dich in deinem Reichtum edel, sorgenfrei aufgewachsen sehe, allem Höheren zugewendet, und den Vetter denke, wie er da täglich unter schielenden Seitenblicken der Alten und mit Hohnlachen der Gassenbuben in lächerlichen Hahnentritten vor meinem Fenster vorübertrippelt, oder Sonntags meinen Hund kämmen muß, dann fühle ich, daß ich deinen Vater gerächt, ihm ein rechtes Totenopfer gebracht habe. Oder soll ich noch mehr tun, um den Vetter zu kränken, soll ich ihn heiraten, ihn in seinem Stundenlauf durch die Stadt stören, seine Wappensammlung zusammenwerfen?“ — Der Majoratsherr hatte auf das alles nicht gehört, sonst möchte sein Widerspruch sie früher unterbrochen haben. Er sprach halbträumend in sich hinein: „Also ward ich der Edlen nur als ein Dieb an die Mutterbrust gelegt. Und wo ist das unglückliche Kind, das meinetwegen verstoßen wurde? Ich weiß es, Esther ist es, die unglückliche, geistreiche, von der Gemeinheit der Ihren, von dem Fluch ihres Glaubens niedergebeugte Esther!“ — „Darüber kann ich dir keine Antwort geben,“ sagte die Hofdame, „der alte Majoratsherr allein führte die Sache aus; ich war beruhigt, als ich dich aus der Schande unehelicher Geburt zu dem glänzendsten Schicksale erhoben sah. Du dankst mir nicht dafür?“ — Er saß in sich versunken und hörte nicht, sondern sprach halblaut: „Ich sollte reich sein auf Unkosten einer Armen? Habe ich nicht manches gelernt, was mir einen Unterhalt verschaffen kann? Ich spiele mehrere Instrumente so fertig wie irgendeiner; ich male, ich kann in mancher Sprache Unterricht geben. Fort mit der Sündenlast des Reichtums, sie hat mich nie beglückt!“ — Die Hofdame hörte ihm aufmerksam zu und sprach mit ihrem Pudel, der seine Vorderpfoten auf ihre Knie stützte und ihr ans Ohr den Kopf ausstreckte, dann nahm sie die Hand des Majoratsherrn und sagte: „Du bist deiner Mutter wenigstens Gehorsam schuldig, und was ich fordere, ist nicht unbillig; nur vierundzwanzig Stunden bewahre das Geheimnis deiner Geburt und schiebe jeden Entschluß auf, den es in dir erregen könnte; darauf gib mir Hand und Wort!“ — Der Majoratsherr war froh, daß er in vierundzwanzig Stunden zu keinem Entschluß zu kommen brauchte, schlug ein, küßte die Hand, empfahl sich ihr und eilte nach Hause, um zu einer ruhigen Fassung zu gelangen.
Aber eine neue Veranlassung zur tiefsten Beunruhigung seines Gemüts mußte er dort vorfinden. Er sah vor dem Hause der Esther eine große Versammlung von Juden und Jüdinnen, die heftig miteinander redeten. Weil er sich nicht darunter mischen wollte, so ging er in sein Haus und befragte die alte Aufwärterin. Sie berichtete ihm, daß der Verlobte der schönen Esther vor einer Stunde ganz zerlumpt von einer Reise nach England zurückgekommen sei; er habe alles das Seine verloren. Die alte Vasthi habe ihm darauf erklärt, daß er ihre Schwelle nie betreten, an ihre Stieftochter nicht denken solle; aber Esther habe laut versichert, daß sie gerade jetzt ihre Zusage erfüllen wolle, den Unglücklichen zu heiraten, weil er ihrer bedürfe, sonst hätte sie wegen ihrer Kränklichkeit das Verlöbnis aufgelöst. Darüber sei eine schreckliche Wut der Mutter Vasthi ausgebrochen, die kaum durch das Zwischentreten der ältesten Nachbarn beschwichtigt worden sei. Jedermann gebe ihr laut schuld, daß sie nicht aus Vorsorge für die Stieftochter, sondern aus Verlangen, sie zu beerben, weil sie sehr kränklich, die Heirat zu hindern suche.
So war nun ein Mittel der Ausgleichung, wenn er selbst, der Majoratsherr, die verstoßene Esther geheiratet hätte, fast verloren, und seine Neigung schien ihm jetzt sträflich. Er sah Esther, die bleich und erstarrt wie eine Tote auf ihrem Sofa lag, während der Verlobte, ein jammervoller Mensch, ihr seine unglücklichen Begebenheiten erzählte. Es wurde Licht angezündet; sie schien sich zu erholen, tröstete ihn, versprach ihm ihren Handel zu überlassen, wenn sie verheiratet wären, aber er dürfe dann nie ihr Zimmer betreten. Er beschwor alle Bedingungen, die sie ihm machen wolle, wenn sie ihn aus dem Elend reißen und vor dem Zorn der grausamen Vasthi bewahren wolle. „Sie ist der Würgengel, der Todesengel,“ sagte er, „ich weiß es gewiß; sie wird abends gerufen, daß die toten Leute nicht über Nacht im Hause bleiben müssen, und saugt ihnen den Atem aus, daß sie sich nicht lange quälen und den Ihren zur Last fallen. Ich hab’s gesehen, als sie von meiner Mutter fortschlich, und als ich ans Bette kam, war sie tot; ich hab es gehört von meinem Schwager, es darf nur keiner davon reden. Es ist eine Sache der Milde, aber ich scheue mich davor.“ Esther suchte es ihm auszureden, endlich sagte sie: „Bedenk Er sich wohl! Wenn Er sich allzusehr vor ihr fürchtet, so heirate Er mich nicht. Mir ist es einerlei, ich tue es nur, um Ihn aus dem Elend zu retten; das bedenk Er sich und geh Er und laß Er mich allein.“ Der Verlobte ging. Kaum war er fort, so stand Esther mit Mühe auf, erschrak, als sie sich im Spiegel erblickte, und rang die Hände.
Der Majoratsherr beschaute den schmalen Raum, der sie trennte; er glaubte sie trösten zu müssen. Aber ehe er entschlossen, ob er sich einem kühnen Sprunge hingeben oder durch ein Brett beide Fenster in aller Sicherheit vereinigen könnte, hörte er, wie alle Abende, einen Schuß, und es überfiel der gesellige Wahnsinn die schöne Esther schon wieder. Sie schlüpfte mit Eile in ein kurzes Ballkleid und warf darüber einen feuerfarbenen Maskenmantel, nahm auch eine Maske vor, und so erwartete sie die übrigen Masken zu dem Balle. Es ging wie am vorigen Tage, nur viel wilder. Groteske Verkleidungen, Teufel, Schornsteinfeger, Ritter, große Hähne schnarrten und schrien in allen Sprachen, er sah die Gestalten, sowie ihre Stimme sie belebte. Sie war schlagend witzig gegen alle Angriffe, die sie sich selbst machte, und scheute in diesen Spottreden keine ihrer Schwächen, die sie je gehabt hatte; aber sie wußte auch von allem die beste Seite zu zeigen. Nur einer Maske wußte sie nichts zu antworten, die ihr vorwarf, so nahe ihrer Hochzeit solchen Leichtsinn zu treiben. „Nennen Sie dieses Almosen, das ich dem armen Jungen reiche, keine Hochzeit. Ich bin verlassen; der Majoratsherr wird sich immerdar zu lange in Unschlüssigkeit bedenken, ehe er etwas für mich tut, meine Pulse schlagen bald die letzte Stunde, kurz David tanzte vor der Bundeslade, und ich tanze dem höheren Bunde entgegen.“ Bei diesen Worten ergriff sie die Maske und raste einen schnellen Walzer, welchem Beispiel die anderen Masken folgten, während ihr Mund mit seltener Fertigkeit Violinen, Bässe, Hoboen und Waldhörner tanzend nachzuahmen wußte. Kaum war dieser allgemeine Tanz beendet, so wurde sie angefleht, die Fandango zu tanzen. Sie warf die Maske und auch das Ballkleid von sich, ergriff die Kastagnetten und tanzte mit einer Zierlichkeit den zierlichsten Tanz, daß dem Majoratsherrn alle anderen Gedanken in Wonne des Anschauens untergingen. Als ihr nun alle für diese Kunst ihren Dank zollten und sie nur mit Mühe wieder zu Atem kam, sah sie mit Schrecken einen kleinen Mann eintreten, den auch der Majoratsherr, sobald sie ihn genannt, in einer sehr abgetragenen Maske die Herren begrüßen sah. „Gott, das ist mein armer Bräutigam,“ sagte sie, „der will mit seinen Kunststücken Geld verdienen.“ Diese armselige Maske trug einen kleinen Tisch und Stuhl auf dem Rücken, empfahl seine Kunststücke, ließ einen Teller umhergehen, um für sich einzusammeln, und eröffnete den Schauplatz mit sehr geschickten Kartenkünsten; dann brachte er Becher, Ringe, Beutel, Leuchter und ähnliche Schnurrpfeifereien vor, mit denen er das größte Entzücken in der ganzen Gesellschaft erregte. Zuletzt sprang er in einem leichten, weißen Anzuge, doch wieder maskiert, wie eine Seele aus dem schmutzigen Maskenmantel heraus und versicherte, mit seinem Körper seltsame Kunststücke machen zu wollen, legte sich auf den Bauch und drehte sich wie ein angestochener Käfer umher. Aber Esther faßte einen so gräßlichen Widerwillen gegen ihn in dieser Verzerrung, daß sie mit zugehaltenen Augen in Krämpfen auf ihr Bett stürzte. Im Augenblicke waren dem Majoratsherrn alle Gestalten verschwunden; er sah die Geliebte, die Unterdrückte im schrecklichsten Leiden verlassen; er beschloß, zu ihr zu eilen. Er sprang die Treppe hinunter; aber er fehlte die Tür und trat in ein Zimmer, das er nie betreten. Und ihm und seiner Laterne entgegen drängten sich ungeheure gefiederte Gestalten, denen rote Nasen wie Nachtmützen über die Schnäbel hingen. Er flieht zurück und steigt zum Dache empor, indem er sein Zimmer sucht. Er blickt umher in dem Raume, und still umsitzen ihn heilige Gestalten, fromme Symbole, weiße Tauben; und das Gefühl, wie er zwischen Himmel und Hölle wohne, und die Sehnsucht nach dem himmlischen Frieden, dessen Sinnbilder ihn umgaben, stillte wie Öl die Sturmeswellen, die ihn durchbebten, und eine Ahnung, daß er ihm nahe, daß es seiner auf Erden nicht mehr bedürfe, drängte seine aufglimmende Tätigkeit für Esther wieder zurück.
Doch diesem höheren Traum stellte sich die Wirklichkeit mit spitzer Nachtmütze, einem bunten Band darum gebunden, eine Brille auf der roten Nase, einen japanischen, bunten Schlafrock am Leibe, mit bloßem Schwerte entgegen; natürlich der Vetter, der, von dem Geräusch im Hause erwacht, den Majoratsherrn mit den Worten begrüßte: „Sind Sie es, lieber Vetter, oder Ihr Geist?“ — „Mein Geist,“ antwortete der Majoratsherr verlegen, „denn kaum weiß ich, wie ich hier unter die Engel versetzt bin.“ — „Kommen Sie in Ihr Zimmer zurück,“ entgegnete der Vetter, „sonst verlassen die Tauben ihre Eier; meine Puthähne unten wollen sich ohnehin nicht zufrieden geben, Sie waren gewiß auch dort, ich konnte mir dieses Treppensteigen, den Lärm bei den Tieren nicht anders erklären, als daß ein Dieb von der Judengasse eingestiegen sei. Nun ist es mir nur lieb, daß Sie es sind. Vielleicht etwas mondsüchtig, lieber Vetter? Das weiß ich zu kurieren.“ — Unter solchen Gesprächen führte er den Majoratsherrn in sein Zimmer zurück. Dieser aber faßte den Entschluß, dem Vetter zu erzählen, daß er Esther in Krämpfen ganz verlassen aus seinem Fenster gesehen habe, und daß er in der Eil’, ihr zu Hilfe zu kommen, die Türen verfehlt habe. — „Welch ein Glück,“ rief der Vetter, „denn wenn die Türe der Gasse offen gewesen, Sie wären nicht ohne Unglück oder Schimpf hinausgekommen.“ — Der Majoratsherr war an das Fenster gegangen und sagte: „Sie scheint jetzt zu schlummern, der schreckliche Anfall ist vorüber.“ Der Leutnant erzählte aber weiter: „Vor einem Jahre hätten Sie die Esther sehen sollen, da war sie schön; da kam der Sohn eines Regimentskameraden vom Lande hieher unter die Dragoner. Er war das einzige Gut der Mutter, seitdem der Vater in einem Scharmützel geblieben; denn die sind oft gefährlicher als die großen Schlachten. Ich sah es, wie sie ihm das letzte Hemde zu seiner Equipierung nähte; sie dachte nicht, daß es sein Sterbehemde werden sollte. Aber der Mensch war unbesonnen, ich sah es ihm gleich beim Reiten an: er wollte immer Kunststücke auf den Straßen machen und dachte nicht daran, daß da Leute neben ihm gingen. Genug, der verliebt sich in die schöne Esther, und sie in ihn, und mein junger Herr will abends zu ihr schleichen, und wie die armen Juden außer ihrer Gasse mißhandelt werden, so meinen sie die Christen drinnen auch mißhandeln zu können, und fallen über ihn her, — besonders die alte Vasthi, die hätte ihn fast erwürgt. Die Sache ward laut, die Offiziere wollten nicht mit dem jungen Fähndrich weiter dienen. Er kam zu mir: was er tun sollte? Ich sagte ihm: schießt Euch tot, weiter ist nichts zu tun. Und der Mensch nimmt das Wort buchstäblich und schießt sich tot. Da hatte ich Mühe, es der Mutter auf gute Art beizubringen. Die Esther aber bekommt seitdem abends um die Zeit, wo er sich erschossen, einen Eindruck, als ob ein Pistolenschuß in der Nähe fiele, — andre hören es nicht, — und dann ein Anfall von Reden, Tanzen, daß kein Mensch aus ihr klug wird; und die andern im Hause lassen sie allein und scheuen sich vor ihr!“ — Entsetzt von dem kaltblütigen Vortrage rief der Majoratsherr: „Welche Klüfte trennen die arme Menschheit, die sich immer nach Vereinigung liebend sehnt! Wie hoch muß ihre Bestimmung sein, daß sie solcher Fundamente bedarf, daß solche Opfer von der ewigen Liebe gefordert werden, solche Zeichen, — die, mehr als Wunder, die Wahrheit der heiligen Geschichte bewähren? O, sie sind alle wahr, die heiligen Geschichten aller Völker!“ — Nach einer Pause fragte er: „Ist denn die Vasthi wirklich der Würgengel? Die Leute sagen, daß sie den Sterbenden den Todesdruck gebe.“ — „Wenn das der Fall ist,“ sagte der Vetter, „so ist es Milde, daß sie nicht lebend begraben werden, weil ein törichtes Gesetz gebietet, die Toten nach dreien Stunden aus dem Hause zu schaffen.“ Es habe ihm ein Arzt versichert, daß er deswegen einem, der an Krämpfen gelitten, schwören mußte, bei ihm zu bleiben, daß er nicht erstickt würde, wenn man ihn für tot hielte. Und da sah er, wie die Verwandten ihn verlegen bereden wollten, fortzugehen, der Tote sei tot; aber er blieb und rettete das Leben des Erstarrten, der ihm noch lange dankte. Da sollte die Obrigkeit ein Einsehen haben und das frühe Beerdigen verbieten. „Aber lassen Sie uns von angenehmeren Dingen reden,“ fuhr der Vetter fort. „Ich habe Ihnen vielen Dank zu sagen, Sie haben mein Glück gemacht. Meine vortreffliche Herzens- und Hofdame fühlt eine so gütige, mütterliche Zärtlichkeit gegen Sie, daß sie mir die seit dreißig Jahren versagte Hand reichen will, insofern ich Sie verpflichten kann, als ein geliebter Sohn in ihrer Nähe zu bleiben und unser nahendes Alter zu unterstützen. Da Sie nun, lieber Vetter, Ihr ganzes äußeres Dasein mit der Verwaltung des Majorats mir übertragen haben, ich auch aus der näheren Kenntnis der Verhandlungen ersehe, daß Sie viel zu abstrakt in Ihren Studien sind, um Ihrem Vermögen selbst vorstehen zu können, so habe ich, gleichsam als Ihr natürlicher Vormund, Ihr Wort dazu gegeben.“
Der Majoratsherr fühlte sich in den Willen des Vetters ebenso hingegeben, wie Esther in den Willen der Vasthi; er kam ihm auch vor wie ein Würgengel, und er konnte sich denken, daß er ihm ebenso gleichgültig wie dem jungen Dragoner die Pistole reichen würde, wenn er das Geheimnis des Majorats erführe. Der Majoratsherr liebte aber sein Leben wie alle Kranke und Leidende, und es schien ihm ein milder Ausweg, den die Hofdame ersonnen, ihn durch diese Heirat als Sohn dem Hause dergestalt zu verknüpfen, daß bei der Unwahrscheinlichkeit, in ihrem Alter noch andre Kinder zu bekommen, er allein die Aussicht und der Mittelpunkt aller Hoffnungen beider werden müßte. So fand er sich gezwungen, dem Vetter zur Heirat Glück zu wünschen und ihm seine kindliche Ergebenheit gegen die Hofdame zu versichern; auch versprach er ihm, künftig mit ihm im Majoratshause zu wohnen, Gesellschaften zu sehen und am Hofe sein Glück zu suchen. Dann las ihm der Vetter einige wohlgereimte Gedichte vor, in denen er dieses Glück besungen hatte, und empfahl sich erst spät dem schlaftrunkenen Majoratsherrn, der heimlich allen Versen abgeschworen, seitdem er die edle Reimkunst mit so fataler nichtiger Fertigkeit hatte handhaben hören. Und doch konnte er es nicht lassen, einige Reime bis zum Verzweifeln sich zu wiederholen, und wußte auch nicht, wo er sie gehört hatte, doch meinte er damals, als er die alte Vasthi hinter der Bildsäule belauerte.
Es war eine alte Jüdin,
Ein grimmig gelbes Weib;
Sie hat eine schöne Tochter
Ihr Haar war schön geflochten
Mit Perlen, soviel sie mochte,
Zu ihrem Hochzeitskleid.
„Ach liebste, liebste Mutter,
Wie tut mirs Herz so weh; —
In meinem geblümten Kleide
Ach laß mich eine Weile
Spazieren auf grüner Heide,
Bis an die blaue See.
Gut Nacht! Gut Nacht, Herzmutter,
Du siehst mich nimmermehr;
Zum Meere will ich laufen,
Und sollt ich auch ersaufen,
Es muß mich heute taufen;
Es stürmet gar zu sehr!“
Spät entschlafen unter diesen wiederkehrenden Reimen, wurde er erst gegen Abend durch den Pistolenschuß erweckt, der sich zur gewohnten Stunde hören ließ. Fast zugleich trat die alte, gute Aufwärterin leise ein, und als sie ihn wachend fand, fragte sie: ob er nicht der Judenhochzeit aus dem Hinterfenster zusehen wolle. — „Wer wird verheiratet?“ fuhr er auf. — „Die schöne Esther, mit dem armen Lump, der gestern zurückgekehrt ist.“ — Zum Glück war der Majoratsherr unausgekleidet auf seinem Sofa eingeschlafen, denn Zeit konnte er nicht verlieren, mit solcher Heftigkeit sprang er nach den hinteren Fenstern des Hauses, aus denen er den Begräbnisort mit den wilden Tieren gesehen hatte. Lange Häuserschatten und zwischendurch strahlende Abendlichter streiften über den grünen Platz neben dem Begräbnisort, der mit einem schrecklichen Gewirre schmutziger Kinder eingehegt war. Die Art der Musik, welche jetzt anhub, erinnerte an das Morgenland, auch der reichgestickte Baldachin, der von vier Knaben vorausgetragen wurde. Ebenso fremdartig waren alle Zeichen der Lustigkeit unter den Zuschauern, welche Nachtigallen und Wachteln künstlich nachahmten, einander zwickten und Gesichter schnitten, und endlich, zum Teil mit künstlichen Sprüngen, den Bräutigam begrüßten, der wie ein Schornsteinfeger ein schwarzes Tuch um den Kopf trug und mit einer Zahl befreundeter Männer eintrat. Und welche Ungeduld, wie viele seltsame Einfälle unter den Leuten, als die Braut länger als erlaubt auf sich warten ließ. Aber endlich kam händeringend ein Weib und schrie unbarmherzig: „Esther ist tot!“
Die Musik der Zimbeln und kleinen Pauken schwieg, die Knaben ließen den Thronhimmel fallen, der wilde Stier brüllte schrecklich oder wurde jetzt erst gehört. Der Majoratsherr allein, während alles lief zu schauen, blieb erstarrt in seiner Fensterecke liegen, bis die Tauben heimkehrend es mit lautem Flügel umflogen, und die Aufwärterin sagte: „Ach Gott! da haben sie wieder eine mitgebracht; wer weiß, welchem armen Menschen sie gehört hat, und wieviele sich darum grämen!“ — „Sie ists,“ rief der Majoratsherr, „die himmlische Taube, und ich werde nicht lange um sie weinen!“ Er ging auf sein Zimmer zurück und wagte es nach ihrem Fenster hinzublicken. Schon waren alle aus ihrem Zimmer entflohen, aus Furcht der Einwirkung eines Toten. Der Verlobte zerriß sein Kleid vor dem Hause und überließ sich allen Rasereien des Schmerzes, während die Ältesten von der Beerdigung redeten. Sie lag auf ihrem Bette. Der Kopf hing herab, und die Haarflechten rollten aufgelöst zum Boden. Ein Topf mit blühenden Zweigen aller Art stand neben ihr und ein Becher mit Wasser, aus dem sie wohl die letzte Kühlung im heißen Lebenskampfe mochte empfangen haben. — „Wohin seid ihr nun entrückt,“ rief er nun zum Himmel, „ihr himmlischen Gestalten, die ahnend sie umgaben? Wo bist du, schöner Todesengel, Abbild meiner Mutter! So ist der Glaube nur ein zweifelhaft Schauen zwischen Schlaf und Wachen, ein Morgennebel, der das schmerzliche Licht zerstreut! Wo ist die geflügelte Seele, der ich mich einst in reinster Umgebung zu nahen hoffte? Und wenn ich mir alles abstreite, wer legt Zeugnis ab für jene höhere Welt? Die Männer vor dem Hause reden vom Begräbnis, und dann ist alles abgetan. Immer dunkler wird ihr Zimmer, die geliebten Züge verschwinden darin.“
Während er in tränenlosem Wahnsinn so vor sich hinredete, trat die alte Vasthi mit einer Diebeslaterne in das Zimmer, öffnete einen Schrank und nahm einige Beutel heraus, die sie in ihre lange Seitentasche steckte. Dann nahm sie den Brautschmuck der Erstarrten vom Kopfe und maß mit einem Bande ihre Länge, wohl nicht zu einem Kleide, sondern zur Auswahl des Sarges. Und nun setzte sie sich auf das Bett, und es schien, als ob sie bete. Und der Majoratsherr vergab ihr den Diebstahl für dies Gebet und betete mit ihr. Und wie sie gebetet hatte, zogen sich alle Züge ihres Antlitzes in lauter Schatten zusammen, wie die ausgeschnittenen Kartengesichter, welche, einem Lichte entgegengestellt, mit dem durchscheinenden Lichte ein menschliches Bild darstellen, das sie doch selbst nicht zu erkennen geben: sie erschien nicht wie ein menschliches Wesen, sondern wie ein Geier, der, lange von Gottes Sonne gnädig beschienen, mit der gesammelten Glut auf eine Taube niederstößt. So setzte sie sich wie ein Alpdruck auf die Brust der armen Esther und legte ihre Hände an ihren Hals. Der Majoratsherr meinte einige Bewegungen am Kopf, an Händen und Füßen der schönen Esther zu sehen; aber Wille und Entschluß lagen ihm wie immer fern, der Anblick ergriff ihn, daß er es nicht meinte überleben zu können. „Der grimmige Geier, die arme Taube!“ — Und wie Esther das Ringen aufgab und ihre Arme über den Kopf ausstreckte, da erlosch das Licht, und aus der Tiefe des Zimmers erschienen mit mildem Gruße die Gestalten der ersten reinen Schöpfung, Adam und Eva, unter dem verhängnisvollen Baume und blickten tröstend zu der Sterbenden aus dem Frühlingshimmel des wiedergewonnenen Paradieses, während der Todesengel zu ihrem Haupte mit traurigem Antlitz in einem Kleide voll Augen mit glänzendem, gesenktem Flammenschwerte lauerte, den letzten, bittern Tropfen ihren Lippen einzuflößen. So saß der Engel wartend, tiefsinnig, wie ein Erfinder am Schlusse seiner mühevollen Arbeit. Aber Esther sprach mit gebrochener Stimme zu Adam und Eva: „Euretwegen muß ich so viel leiden!“ — Und jene erwiderten: „Wir taten nur eine Sünde, und hast du auch nur eine getan?“ — Da seufzte Esther, und wie sich ihr Mund öffnete, fiel der bittre Tropfen von dem Schwerte des Todesengels in ihren Mund, und mit Unruhe lief ihr Geist durch alle Glieder getrieben und nahm Abschied von dem schmerzlich geliebten Aufenthaltsorte. Der Todesengel wusch aber die Spitze seines Schwertes in dem offenen Wasserbecher vor dem Bette ab und steckte es in die Scheide und empfing dann die geflügelte, lauschende Seele von den Lippen der schönen Esther, ihr feines Ebenbild. Und die Seele stellte sich auf die Zehen in seine Hand und faltete die Hände zum Himmel, und so entschwanden beide, als ob das Haus ihrem Fluge kein Hindernis sei, und es erschien überall durch den Bau dieser Welt eine höhere, welche den Sinnen nur in der Phantasie erkenntlich wird: in der Phantasie, die zwischen beiden Welten als Vermittlerin steht und immer neu den toten Stoff der Umhüllung zu lebender Gestaltung vergeistigt, indem sie das Höhere verkörpert. Die alte Vasthi schien aber von all der Herrlichkeit nichts zu erkennen und zu sehen; ihre Augen waren abgewandt, und als sich der Todeskampf gestillt hatte, nahm sie noch einigen Schmuck zu sich und hob das Bild von Adam und Eva von der Wand und schleppte es auch mit fort.
Erst jetzt fiel dem Majoratsherrn ein, daß etwas Wirkliches auch für diese Welt an allem dem sein könne, was er gesehen, und mit dem Schrei: „Um Gottes Gnade willen, die Alte hat sie erwürgt,“ sprang er, seiner selbst unbewußt, auf das Fenster und glücklich hinüber in das offene Fenster der Esther. Sein Schrei hatte die Totengräber und den Verlobten ins Haus gerufen. Sie kamen in das Zimmer, wo sie den Majoratsherrn, den keiner kannte, beschäftigt fanden, der armen Esther Leben einzuhauchen. Aber vergebens. Mit Mühe sagte er ihnen, was er gesehen, wie Vasthi sie erwürgt habe. Der Verlobte rief: „Es ist gewißlich wahr, ich sah sie hinaufschleichen und sah sie herunterschleichen, aber ich fürchtete mich vor ihr!“ Die Totenbegleiter verwiesen ihm aber solche frevelhafte Gedanken, der Fremde sei ein Rasender, vielleicht ein Dieb, der solche Lügen ersonnen, um sich der Strafe zu entziehen. Da ergriff der Majoratsherr den Becher mit Wasser und sprach: „So gewiß der Tod in diesem Wasser sein Schwert gewaschen und es tödlich vergiftet hat, so gewiß hat Vasthi die arme Esther vor meinen Augen erwürgt!“ — Bei diesen Worten trank er den Becher aus und sank am Bette nieder. — Alle sahen an dem Glanze seiner Augen, an der Bleichheit seiner Lippen, daß ihm sehr wehe sei, und sie hörten seinen gebrochenen Reden zu. „Sie würgte an ihr schon manches Jahr,“ sagte er, „und Esther starb in einem Abbilde ihres Lebens, das mit seinem eiteln Schmuck noch in dem Tode die Raubgier der Alten und vergebliche Liebe in mir regte. Sie ist dem Himmel ihres Glaubens nicht entzogen, sie hat ihn gefunden, und auch ich werde meinen Himmel, die Ruhe und Unbeweglichkeit des ewigen Blaus finden, das mich aufnimmt in seiner Unendlichkeit, sein jüngstes Kind, wie seine Erstgeborenen, alle in gleicher Seligkeit!“
Bald wurden seine Worte undeutlicher, und er bewegte kaum noch die Lippen. Und die Juden alle sagten, daß das Wasser in einem Sterbezimmer gefährlich und selbst öfter als tödlich erfunden sei bei gewaltsamen Todesfällen. Sie trugen ihn in das Haus des Leutnants und erzählten, was er ihnen von den Ereignissen berichtet hätte. Dieser versicherte ihnen, der Sterbende sei schon lange sehr kränklich gewesen, und rief eben den Arzt in das Haus, den der Majoratsherr zuerst erblickt hatte, wie der Tod auf seinem Wagen gesessen und die beiden Rosse, Hunger und Schmerz, gelenkt habe. Dieser zuckte die Achseln, machte Versuche mit Stechen und Brennen und einigen heftigen Mitteln; aber er konnte die Ruhe des Unglücklichen nicht mehr stören, sondern beschleunigte nur seinen Tod.
Noch am Abend nahm der Leutnant Besitz von dem Majoratshause und schlief seine erste selige Nacht in dem Prachtbette des Hauses. Seine glänzende Bedienung, sein Geschmack in der Pracht zeigte sich zur allgemeinen Bewunderung bei dem Leichenbegängnisse des Majoratsherrn. Er gab mehrere große Mittagessen, und es verging keine Woche und jedermann war erstaunt, wie dem Manne Unrecht geschehen. Viele rühmten seinen echt praktischen Verstand, wie er sich durch alle Not des Lebens durchgearbeitet habe; andre erinnerten sich jetzt, wie viele Proben seines Mutes er im Kriege gegeben; einige verehrten sogar seine Gedichte und erboten sich, sie herauszugeben. Bald trat er nach seinem Dienstalter in die Armee ein und reichte als General der alten Hofdame seine Hand, nachdem er durch die glückliche Erfindungsgabe jenes Arztes von seiner roten Nase kuriert war.
Dem Hochzeitstage zu Ehren wurde alles Geflügel geschlachtet, das er im kleinen Hause so lange verpflegt hatte. Die hohen Herrschaften beehrten ihn selbst mit ihrer Gegenwart, und jedermann rühmte die Fröhlichkeit und die Pracht dieses Festes. Um so unruhiger war die Nacht. Die Ärzte behaupteten, der Vetter habe sich im Weine übernommen; die Leute im Hause aber berichteten, die Hofdame habe im zu Bette gehen ein emailliertes Riechfläschchen zerbrochen, worin der Geist ihres erstochenen Freundes eingeschlossen gewesen. Dieser Geist habe ihr Bett gegen ihn mit dem Degen verteidigt, und beide hätten die ganze Nacht gefochten, bis endlich der Herr ermüdet sich vor ihm zurückgezogen. Die Hofdame verhöhnte ihn am Morgen als einen törichten Geisterseher, und als er ihr im Zorne antwortete, drohte sie die Geschichte zu seinem Schimpfe am Hofe bekannt zu machen. Zu ihren Füßen flehte er, daß sie schweigen möchte, und sie versprach es unter der Bedingung, daß er sie in keiner ihrer Launen stören wolle. So mußte er es ruhig dulden, daß die Hunde der Frau, als diese die Wappensammlung besehen und offen stehen lassen, mit den kostbarsten Wappen spielten und sie im Spiel zerbissen. Auch mit der Ordnung seiner Zeit hatte es ein Ende, denn die Frau verstellte und verdrehte ihm alle Uhren, wenn die Hunde zum Mittagessen früher eine Lust bezeigten. Auch hatte er zum Spazierengehen nun so wenig Zeit übrig, seit ihm die Frau eine gewisse Anzahl junger Hühnerhunde und Hetzhunde zum Abrichten übergeben hatte. Die gute alte Ursula wagte es, zuzureden, ihn zum Widerstand aufzumuntern; aber er fürchtete schon bei dem bloßen Gedanken, daß sie in der nächsten Nacht den Geist aus dem emaillierten Riechfläschchen loslassen möchte, und jagte sie aus seinem Dienste; er trug die physische Angst in seinem Herzen, wie ein gebissener Hahn, der einmal vor seinem Gegner flüchtig geworden ist.
Die Frau kannte diese schwache Seite und trieb ihn mit dieser Furcht aus allen guten Zimmern des großen Hauses auf ein Bodenzimmer, um ihre neuen Kolonien von Hunderassen aller Art in den Prachtzimmern wohl unterzubringen. Ungeachtet seiner Ehrenstellen wagte er sich unter solchen beschämenden Umständen nicht in die Welt, die sich der Frau wegen der allmählich verbreiteten Geschichte ihrer heimlichen Niederkunft und des Kindertausches ohnehin verschloß. Um so ungestörter gab sie sich ihrer Liebhaberei zu Tieren aller Art und gestattete niemand den Eintritt in das Innere ihres Hauses. Neugierige Leute lauerten wohl abends vor dem Fenster, wenn sie durch die Ritzen der Fensterladen die Kronleuchter hell brennen sahen, und kletterten auch wohl hinan, um etwas von diesem seltsamen Feste zu ersehen. Sie erzählten dann, daß sie unzählige Hunde und Katzen an großen wohlbedeckten Tischen hätten tafeln sehen, und wie der Herr General hinter dem Stuhle des Lieblingshundes mit einem Teller unter dem Arme aufgewartet habe, während sie alle mit den artigsten französischen Worten zum Essen überredet habe. Sie erzählten, wie sie als einen artigen Einfall belacht habe, als ein paar Hunde die schmutzigen Pfoten an dem großen Wappen des Majoratsdamastgedeckes abgewischt hätten, während der Teller des Eheherrn hinter dem Stuhle des Hundes vom Zittern des unterdrückten Zornes an den Uniformknöpfen den hellsten Triller geschlagen habe. „Wir sind jetzt alle bei recht guter Laune“, hatte sie da befragt gesagt, „lesen Sie uns Ihr Gedicht auf den Namenstag meines Kartusch vor!“ Als der Horcher bei diesen Worten laut auflachte, brachte dies dem ganzen Feste eine Störung. Die Frau schalt, die Hunde bellten, der General schickte seine Leute hinaus. Alle Zuschauer flüchteten, und am anderen Tage wurde das Haus mit einem hohen, eisernen Gitter umgeben, so daß niemand mehr diesen Heimlichkeiten zusehen konnte.
Mit diesem Gitter schließen sich auch, zufällig oder historisch, je nachdem man es ansehen will, die Nachrichten von den Majoratsherren. Die Stadt hatte während des Revolutionskrieges sehr bald Gelegenheit, andere Leutnants und Generale zu beobachten. Es war eine so unruhige Zeit, daß die alten Leute gar nicht mehr mitkommen konnten und deswegen unbemerkt abstarben. So erging es wenigstens dem Majoratsherrn, seiner Frau und ihren Hunden nach einigen heftigen Auftritten, in denen einer der fremden Offiziere, der eine bessere Hausordnung zu stiften sich berufen glaubte, die Hunde auf gewaltsame Weise aus dem Staatszimmer hetzte und den alten Majoratsherrn in seine Rechte auf die Hausherrschaft wieder einzusetzen strebte. Bald darauf kam die Stadt unter die Herrschaft der Fremden; die Lehnsmajorate wurden aufgehoben, die Juden aus der engen Gasse befreit, der Kontinent aber wie ein überwiesener Verbrecher eingesperrt. Da gab es viel heimlichen Handelsverkehr auf Schleichwegen, und Vasthi soll ihre Zeit so wohl benutzt haben, daß sie das ausgestorbene Majoratshaus durch Gunst der neuen Regierung zur Anlegung einer Salmiakfabrik für eine Kleinigkeit erkaufte, welche durch den Verkauf einiger darin übernommenen Bilder völlig wiedererstattet war. So erhielt das Majoratshaus eine den Nachbarn zwar unangenehme, aber doch sehr nützliche Bestimmung, und es trat der Kredit an die Stelle des Lehnrechtes.
Achim von Arnim’s „Die Majoratsherren“ mit den Zeichnungen von Alfred Kubin wurde im Auftrage des Avalun-Verlages, Wien, neunzehnhundertzweiundzwanzig bei Jakob Hegner in Hellerau bei Dresden in Jean-Paul-Fraktur auf Bütten gedruckt.
Anmerkungen zur Transkription
Die folgenden Fehler wurden wie hier aufgeführt korrigiert (vorher/nachher):