The Project Gutenberg EBook of Die Geschichte meines Lebens, by Helen Keller This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org/license Title: Die Geschichte meines Lebens Author: Helen Keller Release Date: July 25, 2020 [EBook #62735] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GESCHICHTE MEINES LEBENS *** Produced by Norbert H. Langkau, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1921 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert.
Doppelte Anführungszeichen wurden im Original in drei verschiedenen Varianten verwendet: „so“, »so« und “so”; je nach Zusammenhang. Diese Varianten wurden auch in der vorligenden elektronischen Version beibehalten. Fußnoten wurden an das Ende des jeweiligen Kapitels bzw. an das Ende des betreffenden Briefes von Helen Keller verschoben.
Zur Fußnote [11]:
Bei der hier zitierten Übersetzung eines Auszuges aus Goethes ‚Faust‘ handelt es sich sehr wahrscheinlich um die klassische Übertragung von Bayard Taylor (1870/71). Insbesondere bei den letzten beiden Versen scheint es sich um einen Druckfehler zu handeln (Im vorliegenden Buch: ‘The Woman Soul leads usupwar don, and’; in einem Vers). Diese Passage wurde an Taylors Übersetzung angeglichen:
Die Gegenüberstellungen von Briefen Helen Kellers mit einem Gedicht von Oliver Wendell Holmes[A] bzw. mit einem Märchen von Margaret T. Canby[B] wurden im Original in zwei Spalten gedruckt. Mit Rücksicht auf kleinere Bildschirmgrößen werden diese Vergleiche jeweils nacheinander dargestellt.
Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original gesperrt gedruckten Passagen gesperrt, in serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt erscheinen.
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Memoirenbibliothek
Zweite Reihe Band 6
Die Geschichte meines Lebens
Von Helen Keller
Von Helen Keller
Mit einem Geleitwort von Felix Holländer
Autorisierte Übersetzung von Paul Seeliger
Achtundfünfzigste Auflage
Verlag von Robert Lutz in Stuttgart
1921
Druck der Chr. Belserschen Buchdruckerei, Stuttgart.
Widmung
(Verkl. Faksimile)
Eine neue Helen Keller-Stiftung für deutsche Blinde, Taube, Stumme.
Herrn Robert Lutz, Verlagsbuchhandlung,
Stuttgart.
Meinen Ihnen unterm 11. November 1916 gegegebenen Auftrag, alle meine Einkünfte (royalties) aus der deutschen Ausgabe meiner Schriften bis zum Ende des Jahres, in dem der Friedenszustand wiederhergestellt wird, den deutschen Kriegsblinden zuzuwenden, möchte ich erweitern. Ich bestimme daher, daß fortan alle die genannten Einkünfte von Ihnen oder Ihren Rechtsnachfolgern den deutschen Blinden, nächstdem auch den Tauben und Stummen zugewiesen werden sollen, in erster Linie solchen Deutschen, die durch den Krieg das Augenlicht, die Sprache oder das Gehör verloren haben. Ihnen und Ihren Rechtsnachfolgern steht es frei, welchen Einzelpersonen, Gesellschaften oder Organisationen Sie die Gelder überweisen wollen, sofern nur der Zweck meiner Stiftung erreicht wird.
Der Verzicht auf meine Einkünfte in dem ausgeführten Sinne ist zeitlich nicht begrenzt, sondern endgültig.
New York, den 10. Januar 1920.
(Gez.) Helen Keller.
Helen Kellers Bücher:
Die Geschichte meines Lebens. Mit Bildern. 55. Auflage. Optimismus, ein Glaubensbekenntnis. 42. Auflage. Meine Welt. 22. Auflage. Dunkelheit. 13. Auflage. Briefe meiner Werdezeit. 7. Auflage. Wie ich Sozialistin wurde. Neue Auflage in Vorbereitung.
(Verlag von Robert Lutz in Stuttgart).
Die Lebensgeschichte Helen Kellers ist ein Beitrag zur Erziehung des Menschengeschlechtes. Es tut nicht not, ihr Charakterbild neben das Napoleons zu rücken, wie es ihr Landsmann Mark Twain getan hat, um der Bewunderung für ihre einzigartige Leistung Ausdruck zu geben. Sie ist neunzehn Monate alt, als sie infolge einer schweren Krankheit, in der die Aerzte sie bereits aufgegeben hatten, ihre Sprache, ihr Gehör und ihr Gesicht verliert. Bis zu ihrem siebenten Jahre lebt sie in einem tierähnlichen Zustande. Die ihr gebliebenen Sinne Geruch, Geschmack, Gefühl, geben ihr die Möglichkeit, sich bei ihren nächsten Angehörigen durch dunkle Zeichen und Gesten verständlich zu machen. Sie hängt entweder an dem Kleide der Mutter oder sie sitzt beständig auf dem Schoße der unglücklichen Frau, die den Jammer ihres Kindes gleich dem Gatten durch eine grenzenlose Liebe zu mildern sucht.
Wer kennt nicht jene rührende Angst junger Mütter vor der Geburt ihres ersten Kindes?... Immer wieder taucht im tiefsten Innern die Frage auf, wird das kleine Wesen auch mit heilen Gliedern zur Welt kommen — wird es sehen — wird es hören?
Helen Keller wurde als ein kräftiges Kind geboren, das vor Gesundheit strotzte, bevor das Unglück über sie hereinbrach. Was mag damals in der Seele ihrer Eltern vorgegangen sein, als sie nach dem Ausspruch der Aerzte der ganzen Schicksalsschwere sich bewußt wurden! Wer würde es nicht begreifen, wenn bei dem erschütternden Anblick ihres Kindes unaussprechbare Gebete in ihnen wuchsen, wenn der dunkle Wunsch in ihnen aufstieg, Gott möchte dieses arme Kind, dessen Gegenwart[S. viii] voll Gram war, und in dessen Zukunft nicht ein Schimmer Glücks dringen würde, zu sich nehmen. Und wenn Helen das ganze Haus tyrannisierte, unartikulierte Laute ausstieß und wie eine Wilde sich gebärdete, sobald man nicht ihren Willen tat — wer möchte sich dann wundern, wenn Vater und Mutter in dumpfer Resignation alles über sich ergehen ließen? Helen zählt sieben Jahre drei Monate, als in ihr Leben die große Wendung tritt.
In diesem Alter haben die Menschen mittels des Ohres und des Auges das Meiste von dem errafft, was den Inhalt ihres ganzen Lebens ausmacht. Denn was wir später durch Erziehung, Schule und Selbstbetätigung erreichen, ist im Verhältnis zu den Schätzen, die wir in diesen ersten Jahren unseres Daseins mühelos aufheben, winzig und unbeträchtlich. Die urangeborene Genialität des Menschen kommt in seinen Kinderjahren zu einem großartigen Ausdruck. In dieser unserer Kindheit leben wir in einem Zustand, für den die Bibel den Ausdruck paradiesisch gefunden hat. Selbst das ärmste Kind, dem häusliches Unglück seine Jugend stiehlt, hat noch teil an den Freuden, die ihm seine unbewußte Erkenntnis aufschließt. In der Stunde beginnt erst der Ernst und die Qual des Lebens, wo in unser bisher unbewußtes Lernen System kommt, wo fremde Menschen auf unsere Verstandeskräfte pochen, und wo wir unter ihrem Zwang und ihrer Leitung wissend werden.
Und auch hier erweist sich noch einmal das schier Wunderbare und Unfaßliche unserer geistigen Veranlagung. Wenn wir vorher im wörtlichsten Sinne des Wortes spielend das Sprechen lernten — so ergibt sich als zweites Phänomen unserer Entwicklung, daß wir auf Grund unserer Sprachkenntnis in einer Frist, die zu dem Resultat in gar keinem Verhältnis steht, die Fähigkeit des Lesens erlangen.
Beinahe achtlos und ohne Ehrfurcht geht der Mensch an solchen Wundern vorüber. Nur junge Mütter strahlen vor Glück und Stolz, wenn ihr Kind die ersten Worte hervorbringt, weil die in ihrem Instinkt die Größe des Augenblicks empfinden. Sie ahnen, daß die kleine Seele ihre zarten Schwingen hebt, daß dunkle Hüllen fallen — daß wie mit einem Schlage das geistige Wachstum deutlich erkennbar einsetzt. Von alledem war Helen[S. ix] Keller ausgeschlossen bis zu dem angegebenen Zeitpunkte, wo ihre Lehrerin Anne Mansfield Sullivan ihr väterliches Haus betrat. Die Nacht hatte ihre schwarzen Flügel um sie gebreitet — und es schien, als ob undurchdringliche Finsternis wie ein böser Zauber für immer auf ihrer Seele lasten sollte.
Wen soll man mehr bewundern, — das taubstumme und blinde Geschöpf, das durch eine Energie, die beispiellos ist, sich zu dem höchsten Wissen durchringt, oder ihre Lehrerin, deren Opfermut, Geduld und Güte Licht in das Dunkel dieses ausgestoßenen Menschen bringt? Beide betrachten ihre Begegnung als den unerhörten Glücksfall ihres Lebens. Und beider Existenz könnte den Ungläubigen gläubig machen und mit Gott aussöhnen. Jene Philosophen, die Beweise für das Dasein Gottes suchen, brauchten sich nur auf diese beiden Geschöpfe zu berufen, um ihre Arbeit als getan anzusehen.
Anne Sullivan unterrichtet Helen, als ob sie ein normales Kind wäre. Sie tritt ihr mit unerbittlicher Strenge entgegen, nachdem ihre Versuche, das unbändige Kind durch Güte zu erziehen, kläglich gescheitert sind. Sie nötigt die Eltern, Helen ein paar Wochen mit ihr ganz allein zu lassen, und diese Zeit benutzt sie, um dem verzogenen kleinen Mädchen durch ihre körperliche Ueberlegenheit fühlbar zu machen, daß ihr stärkerer Wille jeden Eigensinn zu brechen vermag. Erst als Helen diese Erkenntnis aufgezwungen und ins Blut gegangen ist, beginnt die geistige Arbeit.
Dies Buch ist ein Dokument dafür, was menschliche Energie zu leisten vermag. Man muß es Zeile für Zeile andächtig und in Ehrfurcht lesen, um das Wunderbare, das hier erreicht wurde, zu begreifen.
Der Apostel spricht: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte doch der Liebe nicht...“ Neben allen ihren geistigen Fähigkeiten hatte Anne Sullivan der Liebe. Wie trifft man besser ihren Wesenskern, als wenn man sie das Genie der Güte und der Liebe nennt? Bis zu ihrem vierzehnten Jahre war sie selbst blind gewesen. Aus dieser ihrer Leidenszeit hatte sie sich das große Gefühl des Erbarmens für ihre Lebensaufgabe geschöpft. Sie wurde ihrer Schülerin eine Gespielin, und im Spiele fand sie den Schlüssel, um Helen[S. x] die Pforten der Erkenntnis zu öffnen, die ihr nach menschlicher Berechnung für immer verschlossen schienen. An den greif- und fühlbaren Dingen setzte ihr Lehrplan ein, um dann an jene Wahrnehmungen anzuknüpfen, die durch den Geruchssinn ermöglicht wurden.
Sie begann damit, ihrer Schülerin das Fingeralphabet beizubringen — und als dies gelungen war, buchstabierte sie ihr unaufhörlich neue Wörter in die Hand, unbekümmert darum, ob Helen sie verstand oder nicht. Sie wurde dabei von einer Voraussetzung geleitet, deren Richtigkeit sich auf das Glänzendste bestätigen sollte. Sie sagte sich, in dem Augenblicke, wo das geistige Dunkel von Helen genommen sein würde, müßte sie durch Erinnerung und Ideenassociation hinter den Sinn der Vokabeln gelangen, die ihr immer und immer wieder mechanisch in die Hand buchstabiert worden waren.
Erinnerung — durch diesen Begriff allein ist das Wunder aufzuklären, das sich an Helen Keller vollzog. Niemand kann dieses Erinnern besser und schöner formulieren, als Helen Keller es selbst in ihrer Lebensgeschichte getan hat: „Jedes Individuum,“ sagt sie, „besitzt eine unter der Schwelle des Bewußtseins verborgene Erinnerung an die grünende Erde und die murmelnden Gewässer, und weder Blindheit noch Taubheit kann es dieser von vergangenen Generationen her überkommenen Gabe berauben. Diese ererbte Fähigkeit ist eine Art sechsten Sinnes — ein Seelensinn, der zugleich sieht, hört, fühlt.“
Die größte Schwierigkeit aber, die sich Anne Sullivan bei ihrem schweren Lebens- und Erziehungswerk in den Weg stellte, war die: Wie sollte sie es anfangen, um ihrer Schülerin abstrakte Begriffe beizubringen? Auch hier erwies dich die schöpferische Genialität dieser Pädagogin. Es seien nur zwei Beispiele ihrer Methode angeführt: So oft sie Helen etwas Süßes zu essen gab, buchstabierte sie ihr das Wort »süß« in die Hand, — so oft ihre Schülerin auf der Zunge einen bitteren Geschmack haben mußte, das Wort »bitter«. Sie schloß ganz richtig, daß die Uebertragung des sinnlichen Eindruckes auf abstrakte Begriffe dich allmählich ganz von selbst ergeben müßte.
Es ist nicht der Zweck dieser einleitenden Zeilen, den ganzen Entwicklungsgang Helen Kellers zu erzählen. Man vermag ja[S. xi] das Unfaßliche nur zu fassen, wenn man ihre eigenen Schilderungen liest und die ergänzenden Briefe und Zusätze ihrer Lehrerin.
Sie lernt lesen und schreiben und wird in alle Disziplinen der Wissenschaft eingeweiht. Von Anne Sullivan auf Schritt und Tritt begleitet, besteht sie glänzend die notwendigen Examina, um die Universität besuchen zu können. Sie bildet ihren Tastsinn bis zu dem Grade aus, daß sie die Schönheit plastischer Kunstwerke zu ahnen vermag und das rührende Wort spricht: „Ich bin mitunter im Zweifel, ob die Hand nicht empfänglicher für die Schönheiten der Plastik ist, als das Auge. Ich sollte meinen, der wunderbare rhythmische Fluß der Linien ließe sich besser fühlen als sehen.“
Nur auf ein Stadium ihres seltsamen Entwicklungsganges möchte ich hier noch eingehen. Als zu ihr die Kunde dringt, daß eine taubstumme und blinde Norwegerin das Sprechen erlernt habe, faßt sie den festen Entschluß, sich ebenfalls die Sprache zu eigen zu machen, koste es noch so viel Mühe und Schweiß. Sie begibt sich mit ihrer unermüdlichen Lehrerin zu Sarah Fuller, der Leiterin der Horace-Mann-Schule, und nimmt am 26. März 1896 ihre erste Sprachstunde. Sie mußte ihre Hand über das Gesicht Sarah Fullers legen, um die Stellung der Zunge und der Lippen zu fühlen, wenn diese einen Ton hervorbrachten. Sobald ihr Eifer und Energie zu erlahmen drohten, dachte sie an die Freude, die ihre kleine Schwester und die Eltern empfinden müßten, wenn das Wagnis gelingen würde.
Was wie ein Märchen klingt, wird zur Wahrheit: Helen Keller lernt auf diese Weise das Sprechen. Und nun kann sie es kaum noch erwarten, zu den Ihrigen zurückzukehren. Ihr Herz will vor Ungeduld zerspringen. Es ist eine der erschütterndsten Stellen des bewegenden Buches, die ihre Heimkehr schildert. Es heißt da: „Fast ehe ich es ahnte, hielt der Zug auf dem Bahnhofe in Tuscumbia, und auf dem Perron stand die ganze Familie. Meine Augen füllen sich noch jetzt mit Tränen, wenn ich daran denke, wie mich meine Mutter sprachlos und zitternd vor Freude an ihr Herz drückte und auf jede Silbe, die ich sprach, atemlos lauschte, während die kleine Mildred meine freie Hand ergriff, sie küßte und umhertanzte,[S. xii] und mein Vater seinen Stolz und seine Liebe durch tiefes Schweigen bekundete. Es war, als sei Jesaias Prophezeiung an mir in Erfüllung gegangen: Die Berge und Hügel werden vor Dir Lieder anstimmen, und alle Bäume des Feldes werden vor Freude in ihre Hände klatschen.“
Die Lektüre von Helen Kellers Selbstbiographie gibt uns neue Aufschlüsse über die menschliche Natur. Sie ist eine Fundgrube für den Psychologen und sie bringt jedem Leser eine ungeahnte Bereicherung seines inneren Besitzes. Dennoch liegt es uns fern, Helen Keller als Genie anzupreisen. Ihre Urteile über Kunst, Literatur und Wissenschaft sind wohl die eines Menschen von außergewöhnlichem Intellekt und außergewöhnlicher Kultur — aber niemals verblüffen sie durch eine besondere Eigenart, niemals legen sie Zeugnis ab von einer überlegenen Persönlichkeit. Ein gebildeter Mensch, der aus allen Quellen des Wissens und der Kunst getrunken hat, spricht zu uns — nicht aber ein origineller Geist, der neue Werte prägt.
Trotzdem sind wir hingerissen von diesem Phänomen, das uns zum Glauben und zur Andacht zwingt.
Ein Beitrag zur Erziehung des Menschengeschlechtes ist dieses Buch. Und wenn Helen Keller selbst schwerlich den Anspruch erhebt, zu den führenden Geistern gerechnet zu werden — so ist doch ihr Dasein selbst ein Beweis für die Genialität des Menschen überhaupt. Es sollte die nachdenklich und ehrfürchtig stimmen, die das kostbarste Material, das Mutter Natur geschaffen hat, mißachten und mißhandeln.
Felix Holländer.
Zur gefl. Beachtung: Zum besseren Verständnis der Aufzeichnungen Helen Kellers wird es sich empfehlen, zuerst den Anhang einer kurzen Durchsicht zu unterziehen. — Die manchmal etwas ungewöhnliche Ausdrucksweise der Verfasserin wurde in der Uebersetzung beibehalten.
Seite
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Vorwort
von
Felix
Holländer
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Erster Teil.
Die Geschichte meines Lebens. |
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Erstes Kapitel.
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Schwierige Aufgabe. — Familie. — Ivy Green. — Garten. —
Geburt. — Taufe. — Erste Sprech- und Gehversuche. — Erkrankung.
— Dauernder Verlust des Gesichts und Gehörs. —
Verworrene Erinnerung an die ersten Gesichtseindrücke
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Zweites Kapitel.
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Die ersten Monate nach der Krankheit. — Verständigungsversuche
durch Gebärdensprache. — Betätigung im Haushalt. —
Teilnahme an der Geselligkeit des Hauses. — Erkenntnis der
Unterscheidung von anderen. — Heftigkeit. — Eigenwilligkeit
und Herrschsucht. — Früheste Erinnerungen. — Umzug. —
Familienleben. — Tod des Vaters im Jahre 1896. — Eifersucht
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Drittes Kapitel.
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Wachsendes Verlangen nach Gedankenaustausch. — Laura Bridgman
und Dr. Howe. — Reise nach Baltimore zu einem Augenarzte.
— Besuch bei Alex. Graham Bell. — Herr Anagnos
in Boston findet eine Lehrerin
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Viertes Kapitel.
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[S. xiv]
Ankunft Fräulein Sullivans in Tuscumbia am 3. März 1887. —
Bange Erwartung. — Beginn der Erlernung des Fingeralphabets.
— Szene am Brunnen. — Enthüllung des Geheimnisses
der Sprache
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Fünftes Kapitel.
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Allmähliches Erwachen der Seele. — Unterricht im Freien. —
Freude an der Natur. — Schrecken der Natur. — Gewitter. —
Schönheit des Mimosenbaumes
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Sechstes Kapitel.
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Fortschritt in der Beherrschung der Sprache. — Wißbegierde. —
Unterredung über Liebe. — Kennenlernen abstrakter Begriffe. —
Dieselbe Unterrichtsmethode wie bei einem hörenden Kinde
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Siebentes Kapitel.
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Erster Leseunterricht. — Anfangs keine regelmäßigen Unterrichtstunden.
— Erziehung zum Naturgenuß. — Wald, Garten. —
Kellers Landungsplatz. — Geographie, Rechnen, Zoologie,
Botanik. — Fossilien. — Leicht faßliche Unterrichtsmethode. —
Herzliches Verhältnis zu Fräulein Sullivan
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Achtes Kapitel.
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Erstes Weihnachtsfest nach Fräulein Sullivans Ankunft. — Ratespiel.
— Weihnachtsbescherung in der Schule zu Tuscumbia. —
Freude über die Weihnachtsgeschenke
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Neuntes Kapitel.
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Reise nach Boston. — Zusammentreffen mit den blinden Kindern.
— Bunker Hill. — Plymouth. — Pilgerfelsen. — Herr
William Endicott
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Zehntes Kapitel.
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Ferienaufenthalt in Brewster. — Die See. — Erstes Seebad. —
Eindruck der Brandung. — Der erste Taschenkrebs
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Elftes Kapitel.
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[S. xv]
Rückkehr nach Tuscumbia. — Fern Quarry. — Jagden. —
Pony »Black Beauty«. — In Lebensgefahr
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Zwölftes Kapitel.
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Besuch im Norden. — Wintervergnügungen
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Dreizehntes Kapitel.
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Rückblick auf die früheren Versuche, zu sprechen. — Ragnhild
Kaata. — Unterricht in der Lautsprache bei Fräulein Fuller. —
Freude über den Erfolg. — Ablesen von den Lippen mittels
der Finger. — Gebrauch des Fingeralphabets
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Vierzehntes Kapitel.
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Die Frostkönig-Episode. — Betrachtungen
über Schriftstellerei
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Fünfzehntes Kapitel.
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Erster Entwurf der »Lebensgeschichte«. — Zweifel und Unruhe. —
Reise nach Washington zur Einführung des Präsidenten
Cleveland, nach dem Niagarafall und der Weltausstellung
in Chicago
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Sechzehntes Kapitel.
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Geschichtsstudium. — Studium der französischen Sprache, Lafontaine,
Molière, Racine. — Vervollkommnung der Lautsprache. —
Latein. — Lektüre von Cäsars »Gallischem Kriege«
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Siebzehntes Kapitel.
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Verhandlungen der Amerikanischen Vereinigung zur Förderung
der Taubstummen im Sprechen in Chautauqua (Sommer 1894).
— Besuch der Wright-Humason-Schule in New York. — Arithmetik,
physikalische Geographie, Französisch, Deutsch. — Lektüre
von »Wilhelm Tell« und »Le médecin malgré lui«. —
Zentralpark in New York. — Ausflüge in die Umgebung der
Stadt
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Achtzehntes Kapitel.
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[S. xvi]
Besuch des Mädchengymnasiums in Cambridge zum Zweck der
Vorbereitung für das Radcliffe College. — Wunsch, eine Universität
zu besuchen. — Schwierigkeit, dem Unterricht zu folgen.
— Befriedigende Fortschritte, namentlich im Deutschen: »Lied
von der Glocke«, »Taucher«, »Dichtung und Wahrheit« u. s. w.
Shakespeare, Burke, Macaulay. — Zusammensein mit sehenden
und hörenden Altersgenossinnen. — Mildreds Aufnahme
in die Schule. — Prüfungen
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Neunzehntes Kapitel.
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Beginn des zweiten Schuljahres. — Physik, Algebra, Geometrie,
Astronomie, Griechisch, Latein. — Anfälle von Kleinmut. —
Abgang vom Gymnasium und Weiterbildung durch Privatunterricht.
— Rückkehr nach Boston (Oktober 1898). — Schlußprüfung
für das Radcliffe College (Juni 1899)
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Zwanzigstes Kapitel.
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Eintritt in das Radcliffe College. — Anfängliche Begeisterung
und teilweise Enttäuschung. — Uebelstände des Universitätsstudiums.
— Erstes Studienjahr. — Französisch, Deutsch, englische
Stillehre, englische Literatur. — Besuch der Vorlesungen.
— Schreibmaschine. — Stunden des Unmuts. — Zweites Jahr:
englische Stillehre, Bibel, politische Verhältnisse Amerikas und
Europas, horazische Oden, lateinische Komödie, Nationalökonomie,
Shakespeare, Geschichte der Philosophie. — Verknöcherung
des Universitätswesens. — Pein der Prüfungen. —
Enttäuschung
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Einundzwanzigstes Kapitel.
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Bücherstudium. — Rückblick. — Bibliothek in Boston. — Heißhunger
auf Bücher. — »Little Lord Fauntleroy«. — Lafontaines
Fabeln. — Begeisterung für das griechische Altertum.
— Ilias. — Aeneis. — Bibel. — Shakespeare. Macbeth,
König Lear. — Geschichte. — Deutsche Literatur. — Französische
Literatur. — Mark Twain. — Scott
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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
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[S. xvii]
Liebe zur Natur. — Körperliche Uebungen. — Rudern. —
Segeln. — Halifax. — Regatta. — Sturm. — Aufenthalt in
Wrentham. — Weltbegebenheiten. — Krieg mit Spanien. —
Soziale Kämpfe. — Unterschied zwischen Stadt und Land. —
Soziales Mitgefühl. — Spaziergänge. — Radfahren. — Liebe
zu Hunden. — Dame- und Schachspiel. — Liebe zu Kindern. —
Museen und Kunstsammlungen. — Theaterbesuch. — Zeitweiliges
Gefühl der Vereinsamung
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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
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Beglückendes Gefühl der Freundschaft. — Bischof Brooks. —
Kein Verlangen nach dem Jenseits. — Henry Drummond. —
Dr. Oliver Wendell Holmes. — Whittier. — Dr. Edward
Everett Hale. — Dr. Alexander Graham Bell. — Charles
Dudley Werner. — Mark Twain u. a. — Schlußwort
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Erste Schreibversuche. — Zwei Briefe an die blinden Mädchen
im Perkinsschen Institut. — Brief an Herrn Anagnos mit der
Schilderung eines Picknicks im Walde. — Brief an Onkel
Morrie über den Ausflug nach Plymouth. — Brief an Herrn
Anagnos mit einigen französischen und griechischen Redensarten.
— Brief an Tante Eveline Keller mit Uebersetzungen
von griechischen, französischen, lateinischen und deutschen Redensarten
und Wörtern. — Brief mit astronomischen Angaben. —
Briefe an Herrn Anagnos über seine Reise nach Europa. —
Brief mit Wiedergabe des Inhalts eines Andersenschen Märchens.
— Brief an Fräulein Sullivan. — Brief an Whittier. —
Brief an Dr. Holmes. — Brief an Fräulein Sarah Fuller. —
Brief an den nachmaligen Bischof Brooks. — Brief über
[S. xviii]
Tommy Stringer. — Brief über die Reise nach dem Niagarafall.
— Brief über den Besuch der Weltausstellung in Chicago.
— Brief über ein Zusammentreffen mit Mark Twain. —
Brief über den Besuch des Bostoner Museums. — Brief über
den Eindruck, den das Orgelspiel auf Helen Keller gemacht
hat. — Stellen aus verschiedenen Briefen über Leidensgefährten.
— Brief an Dr. Hale, geschrieben am Vorabend der Howefeier
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Die Abfassung des Buches.
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Schwierigkeit der Prüfung des mit der Schreibmaschine hergestellten
Manuskriptes. — Braillekopie. — Revision mit Hilfe Fräulein
Sullivans
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Helen Kellers Persönlichkeit.
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Körperliche Erscheinung. — Lebhafte Gestikulation. — Personengedächtnis.
— Vorliebe für Humor. — Hartnäckigkeit im Verfolgen
ihrer Ziele. — Keckheit. — Ungeeignet für psychologische
Experimente. — Liebe zur Geselligkeit. — Verständnis
für Musik. — Interesse für die Tagesereignisse. — Ueberraschend
vollständige Weltkenntnis. — Gefühlssinn nicht besonders
fein entwickelt. — Verständnis für Plastik. — Wenig
Orientierungssinn. — Benutzung der Schreibmaschine. —
Fingeralpbabet. — Hochdruck und Braillesystem. — Geruchssinn.
— »Sechster Sinn«. — Zeitsinn. — Eigenartige Uhren.
— Gesunde Auffassung der Dinge. — Sittliche Reinheit. —
Abneigung gegen Tragödien. — Warmes Empfinden und Aufrichtigkeit.
— Mangel an Eitelkeit. — Beschäftigung mit Politik
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Helen Kellers Bildungsgang.
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Dr. Howe und Laura Bridgman. — Helen Keller kein Objekt
für psychologische Beobachtungen. — Unwahre und übertragene
Berichte über ihre Fortschritte. — Fräulein Sullivans Persönlichkeit.
— Helens Entwickelung nach Fräulein Sullivans Berichten.
— Psychologische und pädagogische Betrachtungen über
Fräulein Sullivans Methode
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Helen Kellers Sprache.
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[S. xix]
Fräulein Sullivans Bericht über Helens Unterricht in der Lautsprache.
— Eigentümlichkeiten von Helens Aussprache. — Ansprache
Helens in Mt. Airy bei Philadelphia
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Helen Keller als Schriftstellerin.
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Helen Kellers hervorragende stilistische Begabung und deren
Pflege. — Gute Lektüre. — Unausgesetzte Kontrolle der Stilübungen
Helens durch Fräulein Sullivan. — Fräulein Sullivans
Darstellung der Episode mit dem »Frostkönig«. — Gegenüberstellung
der beiden Fassungen des Märchens. — Fräulein
Canbys Aeußerungen über den Zwischenfall. — Allgemeine
Betrachtungen über den »Frostkönig«. — Kleinerer Aufsatz
Helens über ihr Traumleben
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Verzeichnis der Bilder.
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Helen Keller als Studentin
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Ivy Green
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Helen Keller und Fräulein Sullivan
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Fräulein Sullivan liest Helen Keller vor
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Helen Keller, Fräulein Sullivan und Schauspieler
Jefferson
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Helen Keller »betrachtet« eine Nike-Statuette
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Helen Keller »horcht« auf die Töne eines Klaviers
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Helen Keller bei der Lektüre
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Schwierige Aufgabe. — Familie. — Ivy Green. — Garten. — Geburt. — Taufe. — Erste Sprech- und Gehversuche. — Erkrankung. — Dauernder Verlust des Gesichts und Gehörs. — Verworrene Erinnerung an die ersten Gesichtseindrücke.
Nur mit einem gewissen Zagen beginne ich die Geschichte meines Lebens zu schreiben. Ich empfinde eine Art abergläubischer Furcht davor, den Schleier zu lüften, der wie ein goldener Nebel über meiner Kindheit ausgebreitet liegt. Die Aufgabe, eine Selbstbiographie zu verfassen, gehört zu den schwierigsten, die man sich überhaupt stellen kann. Wenn ich versuche, meine ersten Eindrücke zu ordnen, so finde ich, daß Wahrheit und Dichtung, über die Jahre hinweg betrachtet, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfen, sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Die reife Frau schildert die Erfahrungen des Kindes, wie sich diese in ihrer eigenen Phantasie darstellen. Ein paar Eindrücke aus meinen ersten Lebensjahren stehen lebendig vor meiner Seele, doch „alles andre deckt der Kerkerschatte“. Auch haben viele der Freuden und Leiden der Kindheit ihren Reiz und ihren Stachel verloren, und zahlreiche Ereignisse, die bei Beginn meiner Erziehung von entscheidender Bedeutung gewesen sind, habe ich in der Erregung über meine weiteren Fortschritte vergessen. Um daher den Leser nicht zu ermüden, will ich in einer Reihe von Skizzen nur die Episoden zu schildern versuchen, die mir am interessantesten und wichtigsten erscheinen.
Ich wurde am 27. Juni 1880 in Tuscumbia, einer kleinen Stadt im nördlichen Alabama, geboren.
Die Familie meines Vaters stammt von Kaspar Keller ab, einem geborenen Schweizer, der sich in Maryland niedergelassen hatte. Einer meiner Schweizer Vorfahren war der erste Lehrer für Taubstumme in Zürich und hat ein Buch über deren Erziehung geschrieben — gewiß ein seltsames Zusammentreffen, obgleich es wahr ist, daß es keinen König gibt, unter dessen Vorfahren sich nicht ein Sklave befunden hat, und keinen Sklaven, in dessen Adern nicht auch Königsblut rollt.
Mein Großvater, Kaspar Kellers Sohn, erhielt große Ländereien in Alabama zugewiesen und siedelte sich schließlich hier an. Ich habe mir erzählen lassen, daß er alljährlich einmal von Tuscumbia nach Philadelphia ritt, um die Bedürfnisse für seinen Grundbesitz einzukaufen, und meine Tante verwahrt noch viele von den Briefen an seine Familie, die anziehende und lebhafte Reiseschilderungen enthalten.
Meine Großmutter Keller war die Tochter Alexander Moores, eines Adjutanten Lafayettes, und Enkelin Alexander Spotswoods, eines früheren Kolonialgouverneurs von Virginia. Auch war sie im zweiten Gliede mit Robert E. Lee verwandt.
Mein Vater, Arthur H. Keller, war Hauptmann in der konföderierten Armee gewesen, und meine Mutter, Kate Adami, war seine zweite Gattin und viele Jahre jünger.
Bis zum Ausbruch meiner Krankheit, die mich für immer des Gesichts und Gehörs berauben sollte, lebte ich in einem kleinen Hause, das aus einem großen viereckigen Zimmer und einem kleineren bestand, in dem das Dienstmädchen schlief. Im Süden herrscht die Gewohnheit, in der Nähe des Wohnhauses ein kleineres Gebäude zu errichten, das dann bei Gelegenheit benützt wird. Ein solches Häuschen erbaute auch mein Vater nach dem Bürgerkriege und bezog es, nachdem er sich[S. 5] mit meiner Mutter verheiratet hatte. Es war über und über mit Wein, Kletterrosen und Geißblatt bedeckt. Vom Garten aus machte es ganz den Eindruck einer Laube. Der kleine Eingang lag hinter einer Hecke von gelben Rosen und Stechwinde verborgen, die beständig von Hummeln und Bienen umsummt wurde.
Das Familienwohnhaus lag wenige Schritte von unserer kleinen Rosenlaube entfernt. Es wurde »Ivy Green« genannt, weil das Haus und Bäume und Zäune, welche es umgaben, von dem schönsten Efeu umrankt waren. Der dazugehörige altmodische Garten war das Paradies meiner Kindheit.
Schon vor der Ankunft meiner Lehrerin pflegte ich mich an den steifen viereckigen Buchsbaumhecken entlang zu tasten und fand, durch den Geruch geleitet, die ersten Veilchen und Lilien. Hierher flüchtete ich mich auch nach einem heftigen Ausbruch meines Temperaments und verbarg mein heißes Gesicht in den kühlen Blättern und Gräsern. Was für eine Freude war es, mich in diesem blumenübersäten Garten zu verlieren, selig von einem Fleck zum anderen zu wandern, bis ich endlich auf einen herrlichen Weinstock stieß, ihn an seinen Blättern und Blüten erkannte und wußte, es sei der Weinstock, der das verfallene Sommerhaus am anderen Ende des Gartens umrahmte! Dort wuchsen auch die kletternde Clematis, der niederhängende Jasmin und einige seltene, stark duftende Blumen, Schmetterlingslilien genannt, weil ihre zarten Blütenblätter Schmetterlingsflügeln gleichen. Aber die Rosen waren doch meine bevorzugten Lieblinge. Niemals habe ich in den Treibhäusern des Nordens solche wunderherrlichen Rosen angetroffen wie die Kletterrosen meines väterlichen Gartens, im Süden. Sie hingen in langen Gewinden um das Portal des kleinen Häuschens und erfüllten die ganze Luft mit ihrem Wohlgeruch, der nichts Irdisches an sich hatte, und in der[S. 6] Morgenfrühe fühlten sie sich, vom Tau gebadet, so frisch, so rein an, daß ich mich oft staunend fragte, ob sie nicht den Asphodelosblüten im Garten Gottes glichen.
Der Beginn meines Lebens war einfach und genau so wie der jedes anderen kleinen Lebens. Ich kam, sah, siegte, wie es das erste Kind einer Familie stets tut. Wie gewöhnlich kam es bei Gelegenheit der Wahl eines Namens für mich zu einer lebhaften Erörterung. Es war nicht leicht, für das erste Kind in der Familie einen passenden Namen zu finden, da jedermann seine Lieblingswünsche in dieser Beziehung hatte und mit Eifer vertrat. Mein Vater schlug den Namen Mildred Campbell vor, wie eine Ahne von ihm geheißen hatte, die er sehr verehrte, und lehnte es ab, weiter an der Diskussion teilzunehmen. Meine Mutter gab den Ausschlag, indem sie es als ihren Wunsch bezeichnete, ich möchte nach ihrer Mutter, deren Mädchenname Helen Everett war, genannt werden. Aber in seiner Aufregung vergaß mein Vater während der Fahrt nach der Kirche diesen Namen, was auch ganz erklärlich war, da er es ausdrücklich abgelehnt hatte, für ihn die Verantwortung zu tragen. Als der Geistliche ihn danach fragte, erinnerte er sich nur noch, daß man übereingekommen war, mich nach meiner Großmutter zu nennen, und gab ihren Namen als Helen Adams an.
Schon als ich noch im langen Kleidchen auf dem Arme getragen wurde, soll ich häufig einen heftigen, eigenwilligen Charakter gezeigt haben. Alles, was ich andere tun sah, wollte auch ich durchaus tun. Im Alter von sechs Monaten konnte ich How d’ ye[1] piepsen, und eines Tages zog ich die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich, als ich ganz deutlich Tea, tea, tea! sagte. Selbst nach meiner Krankheit erinnerte ich mich noch an eins der Worte, das ich in jenen ersten sechs Monaten gelernt[S. 7] hatte. Es war das Wort water, und ich fuhr fort, einen Laut für dieses Wort hervorzubringen, selbst nachdem ich die ganze übrige Sprache verloren hatte. Ich hörte erst auf, den Laut wah-wah auszustoßen, als ich das Wort zu buchstabieren gelernt hatte.
Im Alter von einem Jahre konnte ich gehen. Meine Mutter hatte mich gerade aus der Badewanne gehoben und hielt mich auf ihrem Schoße, als ich plötzlich durch die hin- und herhuschenden Schatten, die das Laub der Bäume auf die von der Sonne beschienene glatte Diele warf, gefesselt wurde. Ich schlüpfte von dem Schoße meiner Mutter herab und lief auf diese Schatten zu. Als der erste Antrieb vorüber war, fiel ich hin und schrie nach meiner Mutter, damit sie mich wieder auf den Arm nehme.
Diese glücklichen Tage dauerten nicht lange. Ein kurzer Frühling voll jubelnden Vogelgesanges, ein Sommer, reich an Früchten und Rosen, ein in roten und goldenen Farben glühender Herbst kamen und gingen und legten ihre Gaben dem munteren, entzückten Kinde zu Füßen. Dann, in dem darauffolgenden traurigen Februar, kam die Krankheit, die mir Auge und Ohr schloß und mich in die Unbewußtheit eines neugeborenen Kindes zurückversetzte. Es war eine akute Unterleibs- und Gehirnentzündung. Der Arzt hatte mich schon aufgegeben. Eines Morgens verließ mich jedoch das Fieber auf ebenso plötzliche und geheimnisvolle Weise, wie es ausgebrochen war. Es herrschte an jenem Morgen große Freude in der Familie, allein niemand, selbst der Arzt nicht, hatte eine Ahnung davon, daß ich niemals wieder sehen oder hören sollte.
Ich glaube, ich habe noch verworrene Erinnerungen an diese Krankheit. Namentlich entsinne ich mich der Zärtlichkeit, mit der mich meine Mutter in meinen wachen, qualvollen Stunden überhäufte, und der entsetzlichen Angst, mit der ich[S. 8] nach einem unruhigen Halbschlummer erwachte und meine, ach so heißen und trockenen Augen nach der Wand kehrte, hinweg von dem einst so geliebten Tageslicht, das von Tag zu Tage trüber und matter zu mir drang. Aber abgesehen von diesen verschwommenen Erinnerungen, wenn sie überhaupt noch Erinnerungen genannt werden können, erscheint mir alles völlig traumhaft wie ein Alp. Nach und nach gewöhnte ich mich an die mich umgebende Stille und Dunkelheit und vergaß, daß ich jemals ein anderes Los gehabt hatte, bis sie kam — meine Lehrerin —, die meinen Geist befreite. Aber während der ersten neunzehn Monate meines Lebens hatte ich einen Schimmer von breiten, grünen Feldern, einem strahlenden Himmel, Bäumen und Blumen erhascht, den die nachfolgende Dunkelheit nicht ganz verlöschen konnte. Haben wir einmal gesehen, so „ist der Tag unser, und was der Tag gezeigt hat“.
[1] How do you do = wie geht es Ihnen?
Die ersten Monate nach der Krankheit. — Verständigungsversuche durch Gebärdensprache. — Betätigung im Haushalt. — Teilnahme an der Geselligkeit des Hauses. — Erkenntnis der Unterscheidung von anderen. — Heftigkeit. — Eigenwilligkeit und Herrschsucht. — Früheste Erinnerungen. — Umzug. — Familienleben. — Tod des Vaters im Jahre 1896. — Eifersucht.
Ich kann mich nicht entsinnen, was sich während der ersten Monate nach meiner Krankheit mit mir zutrug. Ich weiß nur, daß ich auf dem Schoße meiner Mutter saß oder mich an ihr Kleid anklammerte, wenn sie umherging und den Haushalt besorgte. Meine Hände befühlten alles und verfolgten jede Bewegung, sodaß ich auf diese Weise mancherlei kennen lernte. Bald fühlte ich das Bedürfnis, mich mit meiner Umgebung zu verständigen, und begann, einfache Zeichen zu machen. Ein[S. 9] Kopfschütteln bedeutete »nein«, ein Nicken »ja«, ein Heranziehen »komm« und ein Fortstoßen »geh«. Wollte ich Brot haben, so ahmte ich die Bewegungen des Schneidens und Butterstreichens nach. Wünschte ich, daß meine Mutter zu Mittag Eiscreme zubereite, so machte ich eine Bewegung, die dem Drehen der Eismaschine entsprach, und schauerte zusammen, als ob ich fröre. Auch meiner Mutter gelang es großenteils, sich mir verständlich zu machen. Ich wußte stets, wann ich ihr etwas bringen sollte, und lief dann die Treppe hinauf oder an einen anderen Ort, den sie mir bezeichnet hatte. In der Tat verdanke ich ihrer liebevollen Klugheit alles, was meine lange Nacht erhellte und erheiterte.
Ich begriff einen großen Teil von dem, was um mich herum vorging. Mit fünf Jahren lernte ich die reine Wäsche, wenn sie aus dem Waschhaus kam, zusammenlegen und wegräumen, und unterschied die meinige von der übrigen. Ich erkannte aus der Art und Weise, wie meine Mutter und meine Tante gekleidet waren, wann sie ausgehen wollten, und bettelte regelmäßig, mitgehen zu dürfen.
Ich wurde stets geholt, wenn Besuch da war, und wenn die Gäste Abschied nahmen, winkte ich ihnen mit der Hand zu, wie ich glaube, mit einer unbestimmten Erinnerung an die Bedeutung dieser Bewegung. Eines Tages sprachen einige Herren bei meiner Mutter vor, und ich fühlte das Schließen der Haustür und andere Geräusche, die ihre Ankunft ankündigten. In plötzlichem Entschlusse lief ich die Treppe hinauf, ehe mich jemand zurückhalten konnte, um mich nach meinen Begriffen für die Gesellschaft herauszuputzen. Ich stellte mich vor den Spiegel, wie ich es bei anderen wahrgenommen hatte, feuchtete mein Haar mit Oel an und bedeckte mein Gesicht dick mit Puder. Dann legte ich einen Schleier auf meinen Kopf, der mein Gesicht bedeckte und mir in Falten bis auf die Schultern fiel,[S. 10] und band eine riesige Schleife um meine schmale Taille, sodaß sie hinter mir herflatterte und mir beinahe bis zum Saume meines Kleides reichte. In diesem Aufzug erschien ich, um zur Unterhaltung der Gesellschaft beizutragen.
Ich entsinne mich nicht genau, wann ich zuerst erkannte, daß ich mich von anderen unterschied; ich weiß jedoch, daß es vor der Ankunft meiner Lehrerin der Fall war. Ich hatte bemerkt, daß meine Mutter und meine Bekannten keine Zeichen machten wie ich es tat, wenn sie etwas getan haben wollten, sondern mittelst ihres Mundes sprachen. Bisweilen stand ich zwischen zwei Personen, die sich miteinander unterhielten, und berührte ihre Lippen. Ich konnte dies nicht begreifen und war ganz verwirrt. Ich bewegte meine Lippen und gestikulierte heftig — natürlich ohne Erfolg. Dies machte mich zuweilen so wütend, daß ich mit den Füßen stampfte und schrie, bis ich erschöpft war.
Ich glaube, ich wußte, wann ich unartig war, denn ich wußte, daß es Ella, meiner Wärterin weh tat, wenn ich mit den Füßen nach ihr stieß, und wenn meine Heftigkeit vorüber war, empfand ich etwas wie Reue. Aber ich kann mich keines Falles erinnern, in dem dieses Gefühl mich vor der Wiederholung meiner Ungezogenheit bewahrt hätte, wenn ich nicht gleich bekam, was ich wünschte.
Zu jener Zeit waren ein kleines farbiges Mädchen, Martha Washington, die Tochter unserer Köchin, und ein alter Jagdhund meine beständigen Gefährten. Martha Washington verstand meine Zeichen, und ich hatte selten Schwierigkeiten, ihr begreiflich zu machen, was ich wünschte. Es machte mir Vergnügen, sie zu beherrschen, und sie unterwarf sich in der Regel meiner Tyrannei lieber, als daß sie es auf einen Faustkampf hätte ankommen lassen. Ich war stark, energisch und um die Folgen meiner Handlungsweise unbekümmert. Ich kannte meine Sinnesart am besten und folgte stets nur meinem[S. 11] eigenen Kopfe, selbst wenn ich einen Kampf auf Tod und Leben darum bestehen mußte. Einen großen Teil unserer Zeit brachten wir in der Küche zu, wo wir Klöße kneteten, Eiscreme machen halfen, Kaffee mahlten, uns um die Cakesdose zankten und die Hühner und Puten fütterten, die sich an der Küchentreppe in großer Menge einfanden. Viele von diesen waren so zahm, daß sie mir aus der Hand fraßen und sich von mir streicheln ließen. Ein riesiger Truthahn schnappte mir eines Tages eine Tomate aus der Hand und rannte mit ihr davon. Vielleicht ermutigt durch den Erfolg des Meister Truthahns, rissen wir einen Kuchen, den die Köchin soeben kandiert hatte, vom Herde herunter und aßen ihn mit Stumpf und Stiel auf. Ich war hinterher ganz krank, und ich möchte nur wissen, ob es dem Puter ebenso ergangen ist.
Das Perlhuhn pflegt sein Nest an abgelegenen Stellen zu bauen, und es machte mir großes Vergnügen, in dem hohen Grase nach den Eiern zu suchen. Ich konnte es Martha Washington nicht sagen, wann ich auf die Eierjagd gehen wollte, aber ich legte meine Hände zusammen und drückte sie auf die Erde; dies sollte etwas Rundes im Grase bedeuten, und Martha verstand mich stets. Wenn wir das Glück hatten, ein Nest zu finden, so gestattete ich ihr nie, die Eier nach Hause zu tragen, indem ich ihr durch eifriges Gestikulieren klarzumachen suchte, sie könne fallen und die Eier zerschlagen.
Die Scheunen, in denen das Getreide aufbewahrt wurde, der Stall, in dem die Pferde standen, und der Hof, in dem die Kühe des Morgens und des Abends gemolken wurden, übten eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Martha und mich aus. Die Melkmägde ließen mich die Kühe befühlen, während sie gemolken wurden, und ich wurde dabei für meine Neugierde oft tüchtig von den Tieren mit dem Schweife geschlagen.
Die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest gewährten mir[S. 12] stets großes Vergnügen. Natürlich wußte ich nicht, was rings um mich her vorging, aber ich freute mich über den Wohlgeruch, der das Haus erfüllte, und die Leckerbissen, die Martha Washington und ich bekamen, nur damit wir uns still verhalten sollten. Dies letztere war uns zwar nicht ganz recht, aber wir ließen uns dadurch in unserem Vergnügen nicht im mindesten stören. Wir durften Gewürz mahlen, Rosinen aussuchen und die Rührlöffel ablecken. Ich hängte meinen Strumpf auf,[2] weil die anderen es taten, konnte mich aber nicht entsinnen, daß mich die Zeremonie sonderlich interessierte; auch weckte mich die Neugierde, was ich wohl geschenkt erhalten würde, nicht vor Tagesanbruch auf.
Martha Washington zeigte eine ebenso große Neigung zum Unfugstiften wie ich. An einem heißen Julinachmittag saßen zwei kleine Mädchen auf den Verandastufen. Das eine war schwarz wie Ebenholz und hatte das struppige Haar in kleine mit Schnürsenkeln umwickelte Löckchen abgeteilt, die wie Korkzieher um ihren ganzen Kopf herumstanden. Das andere Mädchen war weiß und hatte lange goldene Locken. Das eine Kind war sechs Jahre alt, das andere zwei bis drei Jahre älter. Das jüngere war blind — ich war es —, das ältere war Martha Washington. Wir waren mit dem Ausschneiden von Papierpuppen beschäftigt, wurden aber dieses Spieles bald überdrüssig, und nachdem ich meine Schuhbänder sowie alle Blätter des Geißblattstrauches, die ich erreichen konnte, abgeschnitten hatte, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Marthas Korkzieher. Sie sträubte sich zwar anfangs, gab aber schließlich nach. Dann ergriff sie, wahrscheinlich in der Meinung, es sei ganz in der Ordnung, wenn sie gleiches mit gleichem ver[S. 13]gelte, die Schere und schnitt mir eine meiner Locken ab; sie würde mir alle abgeschnitten haben, wenn meine Mutter nicht zur rechten Zeit dazugekommen wäre.
Belle, unser Hund, mein zweiter Spielgefährte, war alt und faul und zog es vor, lieber am offenen Feuer zu schlafen als mit mir umherzutollen. Ich gab mir alle erdenkliche Mühe, ihr meine Zeichensprache beizubringen, aber sie war stumpfsinnig und unaufmerksam. Sie stand bisweilen still, zitterte vor Aufregung und wurde dann ganz starr, wie es Hunde tun, wenn sie vor einem Vogel stehen. Ich wußte damals nicht, was dies bedeuten sollte, merkte aber, daß Belle das nicht tat, was ich haben wollte. Das ärgerte mich, und die Lektion endete regelmäßig damit, daß ich ihr einige Rippenstöße versetzte. Belle stand auf, dehnte sich faul, schnaufte ein paarmal verdrießlich, ging auf die andere Seite des Kamins und legte sich wieder hin, während ich mich müde und enttäuscht auf die Suche nach Martha machte.
Viele Ereignisse aus diesen ersten Jahren haften in meinem Gedächtnis, vereinzelt, aber klar und bestimmt, und lassen die Stille, die Zwecklosigkeit, die Lichtlosigkeit meines Daseins nur um so greller hervortreten.
Eines Tages hatte ich mir meine Schürze naß gemacht, und ich breitete sie zum Trocknen vor dem Feuer aus, das in dem Kamine des Wohnzimmers flackerte. Die Schürze trocknete nach meiner Ansicht nicht rasch genug, ich trat daher näher und breitete sie direkt über der heißen Asche aus. Das Feuer züngelte empor und erfaßte meine Kleider, sodaß ich im Nu in hellen Flammen stand. Ich erhob ein schreckliches Angstgeschrei, das meine alte Wärterin Viney zur Rettung herbeirief. Sie warf ein Tuch über mich, daß ich fast erstickte, löschte aber damit das Feuer. Außer an Händen und Haar hatte ich keinen ernstlichen Brandschaden davongetragen.
Um diese Zeit entdeckte ich, wozu man einen Schlüssel gebrauchen könnte. Eines Morgens schloß ich meine Mutter in der Speisekammer ein, in der sie drei volle Stunden bleiben mußte, da die Dienstboten in einem abseits gelegenen Teil des Hauses beschäftigt waren. Sie pochte fortwährend an die Tür, während ich draußen auf der Vortreppe saß und wie ein Kobold lachte, als ich das Geräusch des Pochens fühlte. Dieser unartige Streich überzeugte meine Eltern von der Notwendigkeit, mir sobald wie möglich Unterricht geben zu lassen. Kurz nachdem meine Lehrerin, Fräulein Sullivan, zu mir gekommen war, suchte ich eine Gelegenheit, sie in ihrem Zimmer einzuschließen. Ich ging die Treppe hinauf, um Fräulein Sullivan auf Geheiß meiner Mutter etwas zu bringen; kaum aber hatte ich meinen Auftrag ausgerichtet, als ich wie ein Blitz wieder zur Tür hinaus war, sie zuschloß und den Schlüssel unter dem Kleiderschrank im Korridor versteckte. Ich konnte nicht dahin gebracht werden, anzugeben, wo der Schlüssel war. Mein Vater mußte eine Leiter holen und Fräulein Sullivan zum Fenster heraustragen — zu meinem großen Gaudium. Erst nach Monaten brachte ich den Schlüssel zum Vorschein.
Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, verzogen wir aus dem kleinen, weinumrankten Hause nach einem größeren neuen. Die Familie bestand aus meinem Vater, meiner Mutter, zwei älteren Stiefbrüdern und mir; später kam dann noch eine kleine Schwester, Mildred, hinzu. Meine früheste bestimmte Erinnerung an meinen Vater ist die, wie ich eines Tages über große Stöße von Zeitungen hinweg zu ihm klettere und ihn allein finde, während er ein Blatt Papier vor sein Gesicht hält. Ich brannte vor Neugierde, was er da wohl täte. Ich machte ihm alles nach und setzte sogar seine Brille auf, in der Hoffnung, sie werde mir helfen, das Geheimnis herauszubringen. Aber ich fand lange Jahre hindurch nicht des Rätsels Lösung. Dann[S. 15] erfuhr ich, was jene Papiere bedeuteten und daß mein Vater Herausgeber einer Zeitung war.
Mein Vater war äußerst liebevoll und nachsichtig, dabei ebenso häuslich, da er uns selten allein ließ, außer zur Jagdzeit. Er war ein großer Jäger vor dem Herrn, wie mir erzählt wurde, und ein berühmter Schütze. Nächst seiner Familie liebte er seine Hunde und sein Gewehr. Seine Gastfreiheit war groß und artete beinahe zu einem Fehler aus, denn er kam selten nach Hause, ohne einen Gast mitzubringen. Besonders aber war er auf seinen großen Garten stolz, in dem er, wie es hieß, die schönsten Wassermelonen und Erdbeeren der ganzen Umgegend zog, und mir brachte er stets die ersten reifen Weintrauben und köstlichsten Beeren. Ich erinnere mich noch an seine liebkosende Berührung, als er mich von Baum zu Baum, von Weinstock zu Weinstock leitete, und seiner Freude an allem, was mir Vergnügen machte.
Er war ein prächtiger Erzähler; als ich die Herrschaft über die Sprache gewonnen hatte, pflegte er mir seine hübschesten Anekdoten ungeschickt in die Hand zu buchstabieren, und nichts machte ihm mehr Vergnügen, als wenn ich sie bei einer passenden Gelegenheit wiederholte.
Ich war im Norden und erfreute mich eben der letzten schönen Sommertage des Jahres 1896, als ich die Kunde von meines Vaters Tod vernahm. Er war nur kurze Zeit krank gewesen, hatte aber schwer leiden müssen; dann war alles vorüber. Es war mein erster großer Schmerz — meine erste persönliche Bekanntschaft mit dem Tode. —
In welcher Weise soll ich über meine Mutter schreiben? Sie steht mir so nahe, daß es beinahe unzart erscheinen würde, wollte ich hier über sie sprechen.
Lange Zeit betrachtete ich meine kleine Schwester als Eindringling. Ich wußte, ich hatte aufgehört, meiner Mutter[S. 16] einziger Liebling zu sein, und der Gedanke daran erfüllte mich mit Eifersucht. Sie saß beständig auf dem Schoße meiner Mutter, wo mein gewöhnlicher Platz gewesen war, und schien all ihre Sorge und Zeit in Anspruch zu nehmen. Eines Tages trug sich etwas zu, was meiner Meinung nach zu der Beleidigung offenen Schimpf gesellte.
Zu jener Zeit besaß ich eine viel gehätschelte, viel mißhandelte Puppe, der ich später den Namen Nancy gab. Ach, sie war das wehrlose Opfer meiner maßlosen Zornes- und Zärtlichkeitsausbrüche, sodaß sie am Ende schrecklich anzusehen war. Ich hatte Puppen, die sprechen und schreien, ihre Augen öffnen und schließen konnten, aber ich liebte keine von ihnen so, wie ich die arme Nancy liebte. Sie hatte eine Wiege, und ich schaukelte sie darin oft eine Stunde und länger. Ich bewachte Puppe und Wiege mit der eifersüchtigsten Sorgfalt, aber eines Tages entdeckte ich, daß meine kleine Schwester friedlich in der Wiege schlummerte. Bei dieser Anmaßung von seiten jemandes, mit dem mich noch kein Band der Liebe verknüpfte, wurde ich wütend. Ich stürzte auf die Wiege zu und warf sie um, und das Kind hätte tot sein können, hätte meine Mutter es nicht im Falle aufgefangen. Ein solcher Ausbruch kommt daher, daß, wenn wir in dem Tale doppelter Einsamkeit wandeln, wir wenig von den zärtlichen Empfindungen wissen, die aus liebevollen Worten und Handlungen sowie aus dem Zusammensein mit anderen emporsprießen. Später jedoch, als ich zum Bewußtsein meines Menschentums erwacht war, schlossen wir, Mildred und ich, uns auf das engste aneinander an und waren glückselig, wenn wir Hand in Hand miteinander gehen konnten, wohin wir gerade Lust hatten, obgleich sie meine Zeichensprache und ich ihr kindliches Geplauder nicht verstehen konnte.
[2] In England und Frankreich hängen die Kinder zu Weihnachten ihre Strümpfe und Schuhe am Fenster oder Kamin auf und erwarten, daß der heilige Nikolaus sie mit Geschenken fülle.
Wachsendes Verlangen nach Gedankenaustausch. — Laura Bridgman und Dr. Howe. — Reise nach Baltimore zu einem Augenarzte. — Besuch bei Alex. Graham Bell. — Herr Anagnos in Boston findet eine Lehrerin.
Inzwischen wuchs mein Verlangen, meinen Gedanken genügenden Ausdruck zu geben, von Tag zu Tag. Die wenigen Zeichen, deren ich mich bedienen konnte, wurden immer unzureichender, und das Fehlschlagen meiner Versuche, mich verständlicher zu machen, war stets von einem Ausbruche der Leidenschaft begleitet. Es war mir, als hielten mich unsichtbare Hände, und ich machte verzweifelte Anstrengungen, mich zu befreien. Ich kämpfte — nicht als ob dieser Kampf mir etwas genützt hätte, sondern weil der Geist des Widerstandes in mir lebendig war; ich brach auch in der Regel weinend und in völliger physischer Erschöpfung zusammen. War meine Mutter zufällig in der Nähe, so flüchtete ich mich in ihre Arme, zu elend, um mich auch nur der Ursache des Sturmes entsinnen zu können. Nach einiger Zeit wurde das Bedürfnis nach Verständigungsmitteln so dringend, daß diese leidenschaftlichen Auftritte alltäglich, bisweilen sogar allstündlich erfolgten.
Meine Eltern waren tief bekümmert und völlig ratlos. Wir wohnten weitab von jeder Blinden- oder Taubstummenschule, und es schien ausgeschlossen, daß jemand nach einem so abgelegenen Orte wie Tuscumbia kommen sollte, um ein Kind zu unterrichten, das sowohl blind wie taubstumm war. In der Tat zweifelten meine Verwandten und Bekannten mitunter an der Möglichkeit eines Unterrichts für mich. Meiner Mutter einziger Hoffnungsstrahl entsprang der Lektüre von Dickens’ »Amerikanischen Skizzen«. Sie hatte seinen Bericht über Laura Bridgman gelesen und entsann sich undeutlich,[S. 18] daß diese taubstumm und blind gewesen war und doch eine Erziehung erhalten hatte. Aber sie erinnerte sich in hoffnungslosem Schmerze auch daran, daß Dr. Howe, der Mittel und Wege entdeckt hatte, blinde Taubstumme zu unterrichten, seit mehreren Jahren tot war. Seine Methoden waren vermutlich mit ihm gestorben, und wenn dies nicht der Fall war, wie war es möglich, daß ein kleines Mädchen in einem weltabgelegenen Städtchen Alabamas einen Nutzen von ihnen haben konnte?
Als ich etwa sechs Jahre alt war, hörte mein Vater von einem berühmten Augenarzt in Baltimore, der in vielen anscheinend hoffnungslosen Fällen noch Erfolge erzielt hatte. Meine Eltern entschlossen sich sofort dazu, mit mir nach Baltimore zu reisen, um zu sehen, ob sich etwas für meine Augen tun ließe.
Die Reise, auf die ich mich noch gut entsinnen kann, machte mir viel Vergnügen. Ich befreundete mich während der Eisenbahnfahrt mit vielen Leuten. Eine Dame schenkte mir eine Schachtel mit Muscheln. Mein Vater durchbohrte sie, sodaß ich sie aufreihen konnte, und lange Zeit war ich glücklich und zufrieden über diese Beschäftigung. Auch der Schaffner war freundlich zu mir. Oft, wenn er seine Runde machte, klammerte ich mich an seine Rockschöße, während er die Fahrkarten einsammelte und durchlochte. Seine Zange, mit der er mich spielen ließ, war ein wunderbarer Zeitvertreib. Zusammengekauert in einer Ecke des Wagens vergnügte ich mich stundenlang damit, kleine Löcher in Pappe zu knipsen.
Meine Tante machte mir eine große Puppe aus Taschentüchern. Es war das komischste, formloseste Ding, diese improvisierte Puppe, ohne Nase, Mund, Augen oder Ohren, kurz es war nichts da, was selbst die Phantasie eines Kindes in ein Gesicht hätte umschaffen können. Seltsamerweise störte mich das Fehlen der Augen mehr als alle übrigen Mängel.[S. 19] Ich suchte dies allen Anwesenden beharrlich klarzumachen, aber niemand schien imstande zu sein, die Puppe mit Augen zu versehen. Plötzlich schoß mir ein Gedanke durch den Kopf, und die Aufgabe war gelöst. Ich sprang von meinem Sitze auf und suchte so lange, bis ich den Mantel meiner Tante fand, der mit großen Knöpfen besetzt war. Ich riß zwei Knöpfe ab und bedeutete ihr, sie möchte mir diese an meine Puppe nähen. Sie legte mit einer fragenden Gebärde meine Hand an ihre Augen, und ich nickte energisch. Die Knöpfe wurden an der richtigen Stelle angenäht, und ich konnte mich vor Freude nicht lassen, verlor jedoch augenblicklich alles Interesse an der Puppe. Während der ganzen Reise hatte ich keinen einzigen meiner gewöhnlichen Anfälle, denn es waren zu vielerlei Dinge da, die meinen Geist und meine Finger beschäftigten.
Als wir in Baltimore anlangten, empfing uns Dr. Chisholm mit großer Liebenswürdigkeit; er konnte aber nichts tun. Doch erklärte er, ich könne Unterricht erhalten, und wies meinen Vater an Dr. Alexander Graham Bell in Washington, der in der Lage sein würde, ihm nähere Auskunft über Schulen und Lehrer für blinde oder taubstumme Kinder zu erteilen. Dem Rate des Arztes zufolge reisten wir sofort nach Washington weiter, um Dr. Bell aufzusuchen, mein Vater mit Trauer und Zweifel im Herzen, während ich keine Ahnung von seinem Schmerz hatte und an der Aufregung des Reisens von Stadt zu Stadt Vergnügen fand. In meinem kindlichen Sinne empfand ich sofort das liebevolle, gütige Wesen, mit dem sich Dr. Bell so vieler Herzen gewann, wie er durch seine staunenswerten Erfolge aller Welt Bewunderung einflößte. Er hielt mich auf seinen Knien, während ich mit seiner Uhr spielte, die er für mich schlagen ließ. Er verstand meine Zeichen, und ich wußte dies und gewann ihn sofort lieb. Aber ich ließ es mir nicht träumen, daß diese Unterredung das Tor sein sollte,[S. 20] durch das ich schließlich aus der Finsternis zum Licht, aus der Vereinzelung zur Freundschaft, zur Gemeinschaft mit anderen, zur Erkenntnis, zur Liebe gelangte.
Dr. Bell riet meinem Vater, an Herrn Anagnos, den Direktor des Perkinsschen Instituts in Boston, zu schreiben, desselben, in dem Dr. Howe so segensreich für die Blinden gewirkt hatte, und bei ihm anzufragen, ob er einen Lehrer hätte, der imstande wäre, meine Erziehung in die Hand zu nehmen. Dies tat mein Vater sofort, und nach einigen Wochen traf ein liebenswürdiger Brief von Herrn Anagnos ein, mit der tröstlichen Zusicherung, daß eine Lehrerin gefunden sei. Dies war im Sommer 1886. Aber Fräulein Sullivan langte erst im folgenden März an.
So ward ich aus Aegyptenland geführt und stand vor dem Sinai; eine göttliche Macht berührte meinen Geist und machte ihn sehen, sodaß ich vieles Wunderbare wahrnehmen konnte. Und von dem heiligen Berge her hörte ich eine Stimme, die sprach: Wissen ist Liebe und Licht und Sehen.
Ankunft Fräulein Sullivans in Tuscumbia am 3. März 1887. — Bange Erwartung. — Beginn der Erlernung des Fingeralphabets. — Szene am Brunnen. — Enthüllung des Geheimnisses der Sprache.
Der wichtigste Tag, dessen ich mich Zeit meines ganzen Lebens entsinnen kann, ist der, an dem meine Lehrerin, Fräulein Anne Mansfield Sullivan, zu mir kam. Ich kann kaum Worte finden, um den unermeßlichen Gegensatz in meinem Leben vor und nach ihrer Ankunft zu schildern. Es war der 3. März 1887, drei Monate vor meinem siebenten Geburtstage.
Am Nachmittage jenes folgenreichen Tages stand ich in dumpfer Erwartung an der Haustür. Da ich infolge der Zeichen meiner Mutter und des Hin- und Herlaufens im Hause eine unbestimmte Ahnung von dem Bevorstehen eines außergewöhnlichen Ereignisses hatte, ging ich vor die Tür und wartete auf der Treppe. Die Nachmittagssonne drang durch das dichte Geißblattgebüsch, das die Tür umrahmte, und fiel auf mein emporgerichtetes Gesicht. Meine Finger spielten fast unbewußt mit den wohlbekannten Blättern und Blüten, die eben hervorgekommen waren, um den holden südlichen Lenz zu begrüßen. Ich wußte nicht, was für Wunder und Ueberraschungen die Zukunft für mich in ihrem Schoße barg. Zorn und Verbitterung waren seit Wochen unausgesetzt auf mich eingestürmt. Dieser verzweifelte Kampf hatte eine tiefe Ermattung bei mir zurückgelassen.
Lieber Leser, hast du dich je bei einer Seefahrt in dichtem Nebel befunden, der dich wie eine greifbare weiße Finsternis einzuschließen schien, während das große Schiff seinen Kurs längs der Küste mit Hilfe von Senkblei und Lotleine zagend und ängstlich verfolgte, und du mit klopfendem Herzen irgend ein Ereignis erwartetest? Jenem Schiffe glich ich vor Beginn meiner Erziehung, nur fehlten mir Kompaß und Lotleine, und ich hatte keine Ahnung davon, wie nahe der Hafen war. Licht! gebt mir Licht! lautete der wortlose Aufschrei meiner Seele, und das Licht der Liebe erhellte bereits in dieser Stunde meinen Pfad.
Ich fühlte sich nähernde Schritte. Ich streckte meine Hand aus, wie ich glaubte, meiner Mutter entgegen. Irgend jemand ergriff sie, ich ward von der emporgehoben und fest in die Arme geschlossen, die gekommen war, den Schleier, der mir die Welt verbarg, zu lüften und, was mehr als dies bedeutete, mich zu lieben.
Am Morgen nach ihrer Ankunft führte mich meine Lehrerin in ihr Zimmer und gab mir eine Puppe. Die kleinen blinden Mädchen aus dem Perkinsschen Institute hatten sie mir geschickt, und Laura Bridgman hatte sie angezogen; dies erfuhr ich jedoch erst später. Als ich ein Weilchen mit ihr gespielt hatte, buchstabierte Fräulein Sullivan langsam das Wort d–o–l–l in meine Hand. Dieses Fingerspiel interessierte mich sofort, und ich begann es nachzumachen. Als es mir endlich gelungen war, die Buchstaben genau nachzuahmen, errötete ich vor kindlicher Freude und kindlichem Stolz. Ich lief die Treppe hinunter zu meiner Mutter, streckte meine Hand aus und machte ihr die eben erlernten Buchstaben vor. Ich wußte damals noch nicht, daß ich ein Wort buchstabierte, ja nicht einmal, daß es überhaupt Wörter gab; ich bewegte einfach meine Finger in affenartiger Nachahmung. Während der folgenden Tage lernte ich auf diese verständnislose Art eine große Menge Wörter buchstabieren, unter ihnen pin, hat, cup und ein paar Verben wie sit, stand und walk. Aber meine Lehrerin weilte schon mehrere Wochen bei mir, ehe ich begriff, daß jedes Ding seine Bezeichnung habe.
Als ich eines Tages mit meiner neuen Puppe spielte, legte mir Fräulein Sullivan auch meine große zerlumpte Puppe auf dem Schoß, buchstabierte d–o–l–l und suchte mir verständlich zu machen, daß sich d–o–l–l auf beide Puppen beziehe. Vorher hatten wir ein Renkontre über die Wörter m–u–g und w–a–t–e–r gehabt. Fräulein Sullivan hatte mir einzuprägen versucht, daß m–u–g mug und daß w–a–t–e–r water sei, aber ich blieb beharrlich dabei, beides zu verwechseln. Verzweifelt hatte sie das Thema einstweilen fallen gelassen, aber nur, um es bei nächster Gelegenheit wieder aufzunehmen. Bei ihren wiederholten Versuchen wurde ich ungeduldig, ergriff die neue Puppe und schleuderte[S. 23] sie zu Boden. Ich empfand eine lebhafte Schadenfreude, als ich die Bruchstücke der zertrümmerten Puppe zu meinen Füßen liegen fühlte. Weder Schmerz noch Reue folgten diesem Ausbruch von Leidenschaft. Ich hatte die Puppe nicht geliebt. In der stillen, dunklen Welt, in der ich lebte, war für starke Zuneigung oder Zärtlichkeit kein Raum. Ich fühlte, wie meine Lehrerin die Bruchstücke auf die eine Seite des Kamins fegte, und empfand eine Art von Genugtuung darüber, daß die Ursache meines Unbehagens beseitigt war. Fräulein Sullivan brachte mir meinen Hut, und ich wußte, daß es jetzt in den warmen Sonnenschein hinausging. Dieser Gedanke, wenn eine nicht in Worte gefaßte Empfindung ein Gedanke genannt werden kann, ließ mich vor Freude springen und hüpfen.
Wir schlugen den Weg zum Brunnen ein, geleitet durch den Duft des ihn umrankenden Geißblattstrauches. Es pumpte jemand Wasser, und meine Lehrerin hielt mir die Hand unter das Rohr. Während der kühle Strom über die eine meiner Hände sprudelte, buchstabierte sie mir in die andere das Wort water, zuerst langsam, dann schnell. Ich stand still, mit gespannter Aufmerksamkeit die Bewegung ihrer Finger verfolgend. Mit einem Male durchzuckte mich eine nebelhaft verschwommene Erinnerung an etwas Vergessenes, ein Blitz des zurückkehrenden Denkens, und einigermaßen offen lag das Geheimnis der Sprache vor mir. Ich wußte jetzt, daß water jenes wundervolle kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand hinströmte. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele zum Leben, spendete ihr Licht, Hoffnung, Freude, befreite sie von ihren Fesseln! Zwar waren ihr immer noch Schranken gesetzt, aber Schranken, die mit der Zeit hinweggeräumt werden konnten.[3]
Ich verließ den Brunnen voller Lernbegier. Jedes Ding[S. 24] hatte eine Bezeichnung, und jede Bezeichnung erzeugte einen neuen Gedanken. Als wir in das Haus zurückkehrten, schien mir jeder Gegenstand, den ich berührte, vor verhaltenem Leben zu zittern. Dies kam daher, daß ich alles mit dem seltsamen neuen Gesicht, das ich erhalten hatte, betrachtete. Beim Betreten des Zimmers erinnerte ich mich der Puppe, die ich zertrümmert hatte. Ich tastete mich bis zum Kamin, hob die Stücke auf und suchte sie vergeblich wieder zusammenzufügen. Dann füllten sich meine Augen mit Tränen; ich erkannte, was ich getan hatte, und zum erstenmal in meinem Leben empfand ich Reue und Schmerz.
Ich lernte an diesem Tage eine große Menge neuer Wörter. Ich erinnere mich nicht mehr an alle, aber ich weiß, daß mother, father, sister, teacher unter ihnen waren — Wörter, die die Welt für mich erblühen machten „wie Aarons Stab, mit Blumen.“ Es dürfte schwer gewesen sein, ein glücklicheres Kind als mich zu finden, als ich am Schluß dieses ereignisvollen Tages in meinem Bettchen lag und der Freuden gedachte, die mir heut zuteil geworden waren, und zum ersten Male sehnte ich mich nach dem anbrechenden Morgen.
[3] Vgl. Fräulein Sullivans Brief S. 224 ff.
Allmähliches Erwachen der Seele. — Unterricht im Freien. — Freude an der Natur. — Schrecken der Natur. — Gewitter. — Schönheit des Mimosenbaumes.
Ich entsinne mich vieler Ereignisse des Sommers 1887, der auf das Erwachen meiner Seele folgte. Fortwährend tastete ich mit meinen Händen umher und lernte die Bezeichnung für jeden Gegenstand, den ich berührte, kennen, und je mehr ich mit den Dingen bekannt wurde und ihre Bezeichnungen und[S. 25] ihre Zwecke kennen lernte, desto freudiger und stärker wurde das Bewußtsein meiner Verwandtschaft mit der übrigen Welt.
Als die Zeit der Maßliebchen und Butterblumen gekommen war, führte mich Fräulein Sullivan an ihrer Hand durch die Felder zu den Ufern des Tennesseestromes, und hier, auf dem warmen Grase sitzend, erhielt ich meinen ersten Unterricht über die Wohltaten der Natur. Ich lernte, wie die Sonne und der Regen jeden Baum, der „lustig anzusehen und gut zu essen“ war, aus dem Boden emporwachsen ließen, wie die Vögel ihre Nester bauen und von Land zu Land fliegen, wie das Eichhorn, der Hirsch, der Löwe und jedes andere Geschöpf Nahrung und Obdach finden. Je mehr meine Kenntnisse zunahmen, desto stärker wurde mein Entzücken über die Welt, in der ich lebte. Lange bevor ich ein Exempel rechnen oder die Gestalt der Erde beschreiben konnte, hatte mich Fräulein Sullivan gelehrt, in den duftenden Wäldern, in jedem Grashalm, wie in den Linien und Grübchen der Hand meiner kleinen Schwester Schönheit zu entdecken. Sie verknüpfte meine ersten Gedanken mit der Natur und brachte mir zum Bewußtsein, daß „Vögel, Blumen und ich glückliche, gleichberechtigte Gefährten seien“.
Um diese Zeit machte ich eine Erfahrung, die mich davon überzeugte, daß die Natur nicht immer gütig ist. Eines Tages kehrten meine Lehrerin und ich von einem langen Spaziergange zurück. Der Morgen war schön gewesen, aber es war drückend heiß geworden, als wir uns endlich auf den Heimweg machten. Ein paarmal rasteten wir unter einem Baum am Wegesrande. Unser letzter Halt fand unter einem wilden Kirschbaum statt, der in kurzer Entfernung vom Hause stand. Der Schatten war angenehm, und der Baum so leicht zu erklettern, daß ich mir mit Hilfe meiner Lehrerin einen Sitz in den Zweigen zu verschaffen vermochte. Es war so kühl auf dem Baum, daß Fräulein Sullivan vorschlug, hier unser Frühstück einzunehmen.[S. 26] Ich versprach ihr, still sitzen zu bleiben, während sie nach Hause ging, es zu holen.
Plötzlich ging eine Veränderung mit dem Baume vor. Alle Sonnenwärme verschwand aus der Luft. Ich wußte, der Himmel war schwarz umzogen, weil alle Hitze, die für mich Licht bedeutete, fort war. Ein seltsamer Geruch stieg aus der Erde empor. Ich kannte ihn, es war der Geruch, der stets einem Gewittersturm vorherzugehen pflegt, und ein namenloser Schreck krampfte mir das Herz zusammen. Ich fühlte mich ganz allein, abgeschnitten von meinen Freunden und der festen Erde. Das Unendliche, das Unbekannte umfing mich. Ich blieb still und ergeben sitzen; ein furchtbares Entsetzen beschlich mich. Ich sehnte mich nach der Rückkehr meiner Lehrerin; vor allem aber wollte ich von dem Baum herunter.
Es trat eine unheilverkündende Stille ein, dann aber begannen alle Zweige zu rauschen. Ein Zittern rann durch den Baum, und es erfolgte ein so heftiger Windstoß, daß er mich herabgeschleudert haben würde, hätte ich mich nicht mit aller Kraft an einem Aste festgeklammert. Der Baum schwankte hin und her. Kleine Zweige wurden abgerissen und fielen rings um mich her zu Boden. Es ergriff mich ein wildes Verlangen, herunterzuspringen, aber der Schreck hielt mich festgebannt. Ich kletterte bis zur Gabelung des Baumes zurück. Die Zweige schwankten rings um mich her. Ich fühlte das Rütteln, das sich dann und wann erhob, als sei etwas Schweres niedergefallen und die Erschütterung habe sich bis zu dem Aste, auf dem ich saß, fortgepflanzt. Meine Aufregung erreichte den höchsten Grad, und gerade als ich glaubte, der Baum würde samt mir zur Erde geschleudert werden, faßte mich meine Lehrerin an der Hand und half mir herunter. Ich klammerte mich zitternd an sie an, froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ich hatte etwas Neues gelernt — daß die Natur[S. 27] in offenem Kriege mit ihren Kindern liegt und daß man sich auch bei ihrem sanftesten Streicheln vor ihren heimtückischen Klauen hüten soll.
Nach diesem Ereignis verging eine lange Zeit, ehe ich wieder auf einen Baum kletterte. Der bloße Gedanke daran erfüllte mich mit Entsetzen. Es war der lockende Reiz des Mimosenbaums in voller Blütenpracht, der endlich meine Furcht überwand. Eines schönen Frühlingsmorgens, als ich allein im Gartenhause war und las, drang ein wunderbar feiner Duft zu mir. Ich stand auf und streckte instinktiv meine Hände aus. Es war, als sei der Geist des Frühlings durch das Gartenhaus geschritten. Was ist dies? fragte ich mich, und in der nächsten Minute erkannte ich den Geruch der Mimosenblüten. Ich tastete mich bis zum Ende des Gartens hin, da ich wußte, daß der Mimosenbaum in der Nähe des Zaunes an der Biegung des Weges stand. Ja, hier stand er, im warmen Sonnenscheine, und seine blütenbeladenen Zweige berührten beinahe das hohe Gras. Gibt es etwas Schöneres in der Welt, als diesen Baum? Seine zarten Blüten ziehen sich bei der leichtesten Berührung zusammen; es hatte den Anschein, als sei ein Baum aus dem Paradiese auf die Erde verpflanzt worden. Ich bahnte mir einen Weg durch einen Blütenregen hindurch bis zu dem großen Stamme; dort stand ich eine Minute lang unentschlossen da. Dann setzte ich meinen Fuß in den breiten Raum zwischen den gegabelten Aesten und schwang mich in den Baum hinauf. Ich hatte einige Schwierigkeit, mich festzuhalten, denn die Aeste waren sehr dick, und ich verletzte mir die Hände an der rauhen, rissigen Rinde. Aber ich hatte die köstliche Empfindung, daß ich etwas Außergewöhnliches und Wunderbares tat, und so klomm ich immer höher und höher empor, bis ich endlich einen kleinen Sitz erreichte, den sich jemand vor langer Zeit hier angelegt hatte,[S. 28] sodaß er mit dem Baume selbst verwachsen war. Ich saß hier lange, lange Zeit und hatte die Empfindung, als sei ich eine Fee auf einer rosigen Wolke. Auch später brachte ich noch viele glückliche Stunden auf meinem Paradiesesbaume zu, den Kopf voll herrlicher Gedanken und glänzender Träume.
Fortschritt in der Beherrschung der Sprache. — Wißbegierde. — Unterredung über Liebe. — Kennenlernen abstrakter Begriffe. — Dieselbe Unterrichtsmethode wie bei einem hörenden Kinde.
Ich besaß nunmehr den Schlüssel zur gesamten Sprache und brannte vor Eifer, ihn gebrauchen zu lernen. Kinder, welche hören, erlangen das Sprachvermögen ohne besondere Mühe; die Worte, die von anderer Lippen fallen, erhaschen sie gleichsam im Fluge und spielend, während das taube Kind sie sich durch langsames und oft anstrengendes Vorrücken aneignen muß. Wie beschaffen aber auch dieses Vorrücken selbst sein mag, das Ergebnis ist wunderbar. Von der Bezeichnung eines Gegenstandes ausgehend, dringen wir Schritt für Schritt vor, bis wir den unermeßlichen Abstand zwischen unserer ersten gestammelten Silbe bis zu dem Gedankenschwunge in einem Shakespeareschen Verse zurückgelegt haben.
Anfangs stellte ich, wenn meine Lehrerin von etwas Neuem zu mir sprach, sehr wenig Fragen. Meine Vorstellungen waren unbestimmt und mein Wortschatz unzureichend; in demselben Maße aber, in dem meine Kenntnis der Dinge wuchs und ich mehr und mehr Wörter erlernte, erweiterte sich auch das Feld meiner Wißbegierde, und ich kehrte immer und immer wieder zu demselben Gegenstande zurück voller Verlangen nach weiterer Belehrung. Bisweilen belebte ein neues Wort ein[S. 29] Bild wieder, das eine frühere Erfahrung meinem Gedächtnisse eingeprägt hatte.
Ich erinnere mich noch ganz genau des Morgens, an dem ich zum ersten Male nach der Bedeutung des Wortes »Liebe« fragte. Es geschah dies, als ich erst wenige Wörter kannte. Ich hatte ein paar frühe Veilchen im Garten gefunden und brachte sie meiner Lehrerin. Sie versuchte mich zu küssen; aber damals liebte ich es noch nicht, daß mich jemand außer meiner Mutter küßte. Fräulein Sullivan legte zärtlich ihren Arm um mich und buchstabierte mir in die Hand: Ich liebe Helen.
Was ist Liebe? fragte ich.
Sie zog mich näher zu sich heran und sagte: Sie ist hier drinnen, indem sie auf mein Herz deutete, dessen Schläge ich jetzt zum ersten Male fühlte. Ihre Worte befremdeten mich auf das äußerste, weil ich damals noch nichts verstand, wenn ich es nicht zugleich berührte.
Ich roch die Veilchen in ihrer Hand und stellte, halb in Worten, halb in Zeichen eine Frage, deren Sinn ungefähr war: Ist Liebe der Duft der Blumen?
Nein, erwiderte meine Lehrerin.
Wiederum dachte ich nach. Die Sonne erwärmte uns mit ihren Strahlen. Ich fragte, indem ich nach der Richtung deutete, aus der die Wärme kam: Ist dies nicht Liebe?
Es schien mir, als könne es nichts Schöneres geben als die Sonne, deren Wärme alles zum Wachsen und Blühen brachte. Aber Fräulein Sullivan schüttelte den Kopf, und ich war sehr verwundert und enttäuscht. Ich hielt es für seltsam, daß meine Lehrerin mir nicht die Liebe zeigen konnte.
Einige Tage später reihte ich Perlen von verschiedener Größe in regelmäßigen Gruppen auf — zwei große, drei kleine und so weiter. Ich hatte mehrmals Fehler gemacht, und Fräulein Sullivan hatte mich mit liebevoller Geduld immer[S. 30] und immer wieder darauf hingewiesen. Endlich bemerkte ich einen ganz offenbaren Irrtum in der Aufeinanderfolge, und einen Augenblick konzentrierte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf mein Vorhaben und versuchte nachzudenken, wie ich die Perlen hätte aneinanderreihen sollen. Fräulein Sullivan berührte meine Stirn und buchstabierte mit großem Nachdruck: Think!
Im Nu erkannte ich, daß das Wort die Bezeichnung für den Vorgang war, der sich in meinem Kopfe abspielte. Dies war meine erste bewußte Vorstellung eines abstrakten Begriffs.
Eine lange Zeit saß ich still da — ich dachte nicht über die Perlen in meinem Schoße nach, sondern versuchte, im Lichte dieses neuen Begriffes die Bedeutung von »Liebe« zu ergründen. Die Sonne war den ganzen Tag hinter Wolken versteckt gewesen, und es waren kurze Regenschauer gefallen; plötzlich brach jedoch die Sonne in all ihrem südlichen Glanze hervor.
Abermals fragte ich meine Lehrerin: Ist dies nicht Liebe?
Liebe ist etwas Aehnliches wie die Wolken, die am Himmel standen, bevor die Sonne hervorbrach, entgegnete sie. Dann fuhr sie in schlichteren Worten, als die vorhergehenden waren, die ich damals noch nicht verstehen konnte, fort: Du weißt, du kannst die Wolken nicht berühren, aber du fühlst den Regen und weißt, wie froh die Blumen und die durstige Erde sind, wenn er nach einem heißen Tage auf sie herniederströmt. Auch die Liebe kannst du nicht berühren, aber du empfindest das Entzücken, das sie über alles ausgießt. Ohne Liebe würdest du weder glücklich sein noch zu spielen verlangen.
Mit einem Schlage offenbarte sich die wohltuende Wahrheit meinem Geiste — ich fühlte, es gab unsichtbare Bande, die sich zwischen meiner Seele und den Seelen anderer hinzogen.
Vom Beginn meiner Erziehung an hatte Fräulein Sullivan[S. 31] es sich zum Grundsatz gemacht, so zu mir zu sprechen, als spräche sie zu einem hörenden Kinde; der einzige Unterschied bestand darin, daß sie mir die Sätze in die Hand buchstabierte, anstatt sie zu sprechen. Verfügte ich nicht über die nötigen Worte, um meine Gedanken auszudrücken, so ergänzte sie diese und führte sogar die Unterhaltung weiter, wenn ich die passende Antwort nicht finden konnte.
Dieses Verfahren hielt jahrelang an; denn das taubstumme Kind lernt nicht in einem Monat, nicht einmal in zwei bis drei Jahren die zahllosen Ausdrücke, die in dem einfachsten täglichen Gespräche vorkommen. Das hörende Kind lernt diese auf Grund der fortwährenden Wiederholung und Nachahmung. Die Unterhaltung, die es zu Hause vernimmt, spornt seinen Geist an, bereichert seinen Wortschatz und befördert den Ausdruck seiner eigenen Gedanken. Dieser naturgemäße Ideenaustausch ist dem tauben Kinde versagt. In weiser Erkenntnis dieses Umstandes faßte meine Lehrerin den Entschluß, dem Mangel an Reizmitteln für mich abzuhelfen. Dies tat sie, indem sie mir, soweit dies möglich war, wörtlich wiederholte, was sie hörte, und mir Mittel und Wege angab, an der Unterhaltung teilzunehmen. Aber es dauerte lange Zeit, ehe ich es wagte, die Initiative zu ergreifen, und noch länger, ehe ich imstande war, etwas Passendes zur rechten Zeit zu sagen.
Der Taube wie der Blinde finden es sehr schwer, sich an einen angenehmen Unterhaltungston zu gewöhnen. Wieviel mehr muß sich diese Schwierigkeit bei denen steigern, die beides, taub und blind, sind. Sie können den Klang der Stimme nicht unterscheiden oder ohne die Hilfe anderer die Tonhöhe modifizieren, wodurch die Worte erst ihren Sinn erhalten; ebensowenig vermögen sie den Gesichtsausdruck des Sprechenden zu beobachten, und in einem Blick liegt häufig gerade das innerste Wesen dessen, was jemand sagt.
Erster Leseunterricht. — Anfangs keine regelmäßigen Unterrichtsstunden. — Erziehung zum Naturgenuß. — Wald, Garten. — Kellers Landungsplatz. — Geographie, Rechnen, Zoologie, Botanik. — Fossilien. — Leicht faßliche Unterrichtsmethode. — Herzliches Verhältnis zu Fräulein Sullivan.
Der nächste wichtige Schritt in meiner Erziehung bestand darin, daß ich lesen lernte.
Sobald ich ein paar Wörter buchstabieren konnte, gab mir meine Lehrerin Pappstreifen in die Hand, auf dem die Wörter in erhöhten Buchstaben gepreßt waren. Ich lernte bald begreifen, daß jedes gedruckte Wort einen Gegenstand, eine Tätigkeit oder eine Eigenschaft bezeichnete. Ich hatte einen Rahmen, in dem ich die Wörter zu kurzen Sätzen aneinanderreihen konnte; ehe ich aber die Sätze in den Rahmen spannte, pflegte ich sie an Gegenständen darzustellen. Ich fand z. B. die Streifen mit den Wörtern doll, is, on, bed und legte jedes Substantiv auf den betreffenden Gegenstand; dann legte ich meine Puppe ins Bett und neben sie die Wörter is, on, bed, indem ich so einen Satz aus den Wörtern bildete und zu gleicher Zeit den Inhalt des Satzes mit Hilfe der Gegenstände selbst darstellte.
Eines Tages steckte ich mir, wie Fräulein Sullivan mir später erzählte, das Wort girl an meine Schürze und stellte mich in den Kleiderschrank. Am Schranke brachte ich die Wörter is, in, wardrobe an. Nichts machte mir solches Vergnügen wie dieses Spiel. Meine Lehrerin und ich spielten es stundenlang. Oft wurde jeder Gegenstand im Zimmer zur Darstellung solcher verkörperter Sätze verwandt.
Von den bedruckten Streifen war es nur ein kurzer Schritt zu gedruckten Büchern. Ich nahm meine Fibel vor und machte Jagd auf die Wörter, die ich kannte; fand ich solche, so war[S. 33] meine Freude der beim Versteckspiel gleich. Auf diese Weise begann ich zu lesen. Ueber die Zeit, in der ich zusammenhängende Geschichten zu lesen begann, spreche ich später.
Lange Zeit hatte ich keine regelmäßigen Unterrichtsstunden. Selbst wenn ich sehr eifrig lernte, glich dies mehr einem Spiel als einer Arbeit. Alles, was Fräulein Sullivan mich lehrte, machte sie mir durch eine hübsche Geschichte oder ein Gedicht anschaulich. Wenn ich Freude oder Interesse an etwas zeigte, so sprach sie mit mir darüber genau so, als ob sie selbst ein kleines Mädchen wäre. All das, woran viele Kinder mit Schaudern zurückdenken, wie an mühsames Kopfzerbrechen über Grammatik, schwere Rechenexempel und noch schwerere Definitionen, ist heute eine meiner liebsten Erinnerungen.
Ich kann mir das innige Verständnis nicht erklären, das Fräulein Sullivan für meine Freuden und Wünsche besaß. Vielleicht war es das Ergebnis ihres langen Zusammenlebens mit Blinden. Obenein verfügte sie über eine wunderbare Schilderungsgabe. Sie ging rasch über uninteressante Einzelheiten hinweg und belästigte mich nie mit Fragen, um zu sehen, ob ich auch all das in der Lektion vom vorigen Tage Behandelte behalten habe. Trockene wissenschaftliche Fragen führte sie nur nach und nach in den Unterricht ein und machte alles dabei so klar und anschaulich, daß ich fast notgedrungen behalten mußte, was sie gesagt hatte.
Wir lasen und lernten im Freien und zogen den sonnigen Wald dem Hause vor. Meine sämtlichen ersten Unterrichtsstunden tragen den Hauch des Waldes — den feinen Harzduft der Fichtennadeln, vermengt mit dem Geruch des wilden Weins. In dem köstlichen Schatten eines wilden Tulpenbaumes sitzend, lernte ich darüber nachdenken, daß alles eine Lehre und eine Mahnung in sich berge. „Die Lieblichkeit der Dinge lehrte mich ihre Bestimmung.“ In der Tat hatte[S. 34] alles, was da summen, brummen, singen, blühen konnte, einen Anteil an meiner Erziehung — quakende Frösche, Heimchen und Grillen, die ich solange in meiner Hand hielt, bis sie ihre Gefangenschaft vergaßen und ihr Liedchen wieder anstimmten, kleine Hühnchen in ihrem ersten Flaume und wild wachsende Blumen, die Blüten der Kornelkirsche, Veilchen und blühende Obstbäume. Ich befühlte die berstenden Baumwollenkapseln und ließ ihre weichen Fäden und ihre mit Fasern besetzten Samenkörner durch meine Finger gleiten; ich fühlte das leise Rauschen des Windes in den Getreidefeldern, sein weiches Flüstern im Laube der Bäume, das unwillige Schnauben meines Ponys, — wenn wir ihn auf der Weide einfingen und ihm das Gebiß anlegten — ach, wie genau erinnere ich mich an den würzigen Kleegeruch seines Atems!
Bisweilen stand ich vor Tagesanbruch auf und stahl mich hinunter in den Garten, während schwere Tautropfen noch auf Gräsern und Blumen lagen. Nur wenige wissen, was es für ein Genuß ist, die Rosen zu berühren und sanft mit der Hand zu drücken oder der anmutigen Bewegung der Lilien zu folgen, wenn sie im Morgenwinde hin- und herschwanken. Mitunter war ein Insekt in der Blume, die ich pflückte, und ich fühlte das leise Geräusch der Flügel, die das Tierchen in plötzlichem Schrecken aneinander rieb, sobald es den Druck von außen gewahr wurde.
Ein anderer Lieblingsaufenthalt von mir war der Obstgarten. Die großen, tief herabhängenden Pfirsiche boten sich von selbst meiner Hand dar, und wenn die lustigen Winde durch die Bäume wehten, fielen die Aepfel mir zu Füßen. O, das Entzücken, mit dem ich das Obst in meine Schürze sammelte, mein Gesicht gegen die glatten Wangen der Aepfel drückte, die noch warm waren von den Sonnenstrahlen, und ins Haus zurückeilte!
Unser Lieblingsspaziergang war zu Kellers Landungsplatz, einer alten verfallenen Hafenanlage am Tennessee, die während des Bürgerkrieges zum Landen von Truppen benutzt worden war. Hier brachten wir viele glückliche Stunden zu und beschäftigten uns spielend mit Geographie. Ich baute Dämme aus Kieseln, legte Inseln und Seen an und grub Flußläufe aus, alles zum Scherz, und niemals ließ ich es mir dabei träumen, eine Unterrichtsstunde zu haben. Mit wachsendem Erstaunen lauschte ich den Schilderungen, die Fräulein Sullivan von der großen weiten Welt da draußen mit ihren feuerspeienden Bergen, verschütteten Städten, sich bewegenden Eisströmen und vielen anderen ebenso seltsamen Dingen entwarf. Sie modellierte Reliefkarten in Ton, so daß ich die Gebirgszüge und Täler fühlen und mit meinen Fingern dem gekrümmten Lauf der Flüsse folgen konnte. Dies liebte auch ich; aber die Einteilung der Erde in Zonen und Pole verwirrte mich. Die diese Verhältnisse veranschaulichenden Fäden und der Orangenstiel, der den Pol darstellte, erschienen mir so der Wirklichkeit entsprechend, daß noch bis zum heutigen Tage die bloße Erwähnung der gemäßigten Zone die Vorstellung an Zwirnsfäden in mir hervorruft, und ich glaube, daß, wenn es jemand darauf anlegt, er mir mit leichter Mühe einreden könnte, daß Eisbären tatsächlich auf den Nordpol klettern.
Arithmetik scheint das einzige Lehrfach gewesen zu sein, dem ich keinen Geschmack abgewinnen konnte. Von Anfang an hatte ich kein Interesse für die Wissenschaft von den Zahlen. Fräulein Sullivan suchte mir das Rechnen beizubringen, indem sie Perlen in Gruppen aneinanderreihte, und mit Hilfe von Strohhalmen, wie sie im Kindergarten üblich sind, lernte ich addieren und subtrahieren. Ich hatte niemals die Geduld, mehr als fünf bis sechs Gruppen zugleich zusammenzureihen; hatte ich das zustande gebracht, so war mein Gewissen für den[S. 36] Rest des Tages beruhigt, und ich sprang rasch zu meinen Spielgefährten hinaus.
In dieser selben sorglosen Weise trieb ich Zoologie und Botanik.
Einmal sandte mir ein Herr, dessen Namen ich vergessen habe, eine Fossiliensammlung — kleine wunderschön gezeichnete Muscheln, Stücke Sandstein mit Abdrücken von Vogelfüßen und einen reizenden Farn in Basrelief. Dies waren die Schlüssel, die mir den Zugang zu den Schätzen der antediluvianischen Welt eröffneten. Mit zitternden Fingern lauschte ich Fräulein Sullivans Schilderungen der furchtbaren Tiere mit den ungefügen, unaussprechlichen Namen, die einst durch die Wälder der Urzeit stampften, die Zweige von Riesenbäumen zur Nahrung abrissen und in den ungeheuren Morasten eines unbekannten Zeitalters umkamen. Lange Zeit beunruhigten diese unheimlichen Geschöpfe meine Träume, und diese düstere Periode bildete einen dunklen Hintergrund zu dem heiteren Jetzt, das mit Sonnenschein, Rosen und dem Echo der leichten Hufschläge meines kleinen Ponys angefüllt war.
Ein andermal erhielt ich eine schöne Muschel zum Geschenk, und mit kindlichem Staunen und Entzücken lernte ich, wie ein winziges Weichtier sich dieses herrliche Haus als Wohnung gebaut habe und wie in stillen Nächten, wenn kein Luftzug die Meeresfläche kräuselt, der Nautilus auf den blauen Gewässern des Indischen Ozeans in seinem wie Perlen erglänzenden Schiffe dahinsegelt. Nachdem ich eine Menge interessanter Dinge über das Leben und die Gewohnheiten der Kinder der Meerestiefen kennen gelernt hatte — wie inmitten der schäumenden Wogen die kleinen Polypen die schönen Koralleninseln des Stillen Ozeans aufbauen und die Foraminiferen die Kalkhügel vieler Länder gebildet haben —, las mir meine Lehrerin das Märchen vom Nautilus vor und zeigte mir,[S. 37] wie der muschelbildende Prozeß bei den Mollusken symbolisch ist für die Entwicklung des Geistes. Genau wie der wunderwirkende Mantel des Nautilus die Stoffe, die er aus dem Wasser aufsaugt, umwandelt und zu einem Teile von sich selbst macht, so erleiden die einzelnen Kenntnisse, die jemand sammelt, eine ähnliche Veränderung und werden zu Gedankenperlen.
Ein andermal war es das Wachstum einer Pflanze, das uns den Stoff für eine Lehrstunde lieferte. Wir kauften eine Lilie und stellten sie in ein sonniges Fenster. Bald begannen die grünen, spitzen Knospen sich zu öffnen. Die schlanken, fingerähnlichen Außenblätter erschlossen sich langsam, widerstrebend, wie es mir vorkam, die Lieblichkeit des Inneren enthüllend; war aber einmal ein Anfang gemacht, so ging der weitere Prozeß des Oeffnens rasch von statten, aber ordnungsgemäß und systematisch. Stets war eine von den Knospen größer und schöner als die übrigen und warf ihre äußere Umhüllung stolzer zurück, als wüßte diese Schönheit in weichen, seidenglänzenden Gewändern, daß sie Lilienkönigin von Gottes Gnaden sei, während ihre bescheideneren Schwestern ihre grünen Hüllen zaghaft ablegten, bis die ganze Pflanze ein einziger nickender Zweig voller Lieblichkeit und Wohlgeruch war.
Einmal wurde ein rundes Glas mit elf Kaulquappen an ein mit Pflanzen besetztes Fenster gestellt. Ich erinnere mich noch des Eifers, mit dem ich Beobachtungen über sie anstellte. Es machte mir großen Spaß, meine Hand in das Glas zu tauchen, zu fühlen, wie sich die Kaulquappen lustig herumtummelten, und sie zwischen meinen Fingern hin- und herschlüpfen zu lassen. Eines Tages hatte sich ein ehrgeiziger Bursche von ihnen auf den Rand des Glases gewagt und fiel auf den Fußboden, wo ich ihn allem Anschein nach mehr[S. 38] tot als lebendig fand. Das einzige Lebenszeichen, das er von sich gab, war ein leichtes Hin- und Herbewegen des Schwanzes. Kaum war er aber in sein Element zurückgekehrt, als er auch schon auf den Grund niedertauchte und in lustiger Geschäftigkeit hin- und herschwamm. Er hatte seinen Weg gemacht, hatte die große Welt gesehen und war nun froh, wieder in seinem hübschen Glashause unter dem großen Fuchsienstock zu weilen, bis er die Würde des ausgewachsenen Frosches erreicht hatte. Dann siedelte er wieder in den mit Mummeln bedeckten Teich am Ende des Gartens über, wo er in den Sommernächten seine quarrenden Liebeslieder erschallen ließ.
So lernte ich vom Leben selbst. Anfangs lag nur ein ganz kleines, begrenztes Maß von Fähigkeiten in mir. Meine Lehrerin war es, die sie entfaltete und entwickelte. Als sie kam, atmete alles rings um mich her Liebe und Freude und gewann eine Fülle von Bedeutung. Seitdem hat sie keine einzige Gelegenheit vorübergehen lassen, ohne mich auf die in allem waltende Schönheit aufmerksam zu machen, und hat nie aufgehört, durch Wort, Tat und Vorbild dahin zu wirken, daß mein Leben sich zu einem genußreichen und nützlichen gestalte.
Es war der Geist meiner Lehrerin, ihr warmes Mitempfinden, ihr liebevoller Takt, der mir die ersten Jahre meiner Erziehung so unvergeßlich gemacht hat. Dadurch, daß sie stets den richtigen Augenblick wählte, um mein Wissen durch etwas Neues zu bereichern, wurde der Unterricht für mich so anziehend und leicht faßlich. Sie erkannte, daß der Geist eines Kindes einem seichten Bache gleicht, der fröhlich in dem steinigen Bette der Erziehung dahinhüpft und tanzt und hier eine Blume, dort einen Strauch, dort ein Lämmerwölkchen widerspiegelt; sie suchte meinen Geist auf den rechten Pfad zu leiten, da sie wohl wußte, daß er wie ein Bach durch Gebirgsströme und verborgene Quellen genährt werden muß, bis er sich zum[S. 39] tiefen Flusse erweitert, der imstande ist, auf seiner ruhigen Oberfläche schwellende Hügel, die leuchtenden Schatten der Bäume und den blauen Himmel so gut wie das holde Antlitz einer kleinen Blume widerzuspiegeln.
Jeder Lehrer kann ein Kind zu sich in das Klassenzimmer nehmen, aber nicht jeder Lehrer kann es unterrichten. Es wird nicht freudig arbeiten, wenn es nicht das Bewußtsein der Freiheit in sich trägt, mag es tätig sein oder sich ausruhen; es muß das Hochgefühl des Sieges und die Niedergeschlagenheit der Enttäuschung kennen, ehe es mit festem Willen an die ihm unangenehmen Aufgaben herangeht und sich entschließt, sich seinen Weg tapfer und unverdrossen durch die stumpfe Routine der Lehrbücher hindurchzubahnen.
Meine Lehrerin steht mir so nahe, daß ich mich kaum als von ihr getrennt fühle. Wieviel von meiner Freude an allem Schönen mir angeboren ist, wieviel ich ihrem Einflusse verdanke, werde ich nie anzugeben vermögen. Ich fühle, ihr Wesen ist untrennbar von dem meinigen, und sie ist mir auf den Bahnen, die ich wandle, vorangegangen. Alles Gute an mir ist ihr Werk — es gibt keine Fähigkeit, kein Streben, keine Freude in mir, die sie nicht durch ihre liebevolle Berührung zum Leben erweckt hätte.
Erstes Weihnachtsfest nach Fräulein Sullivans Ankunft. — Ratespiel. — Weihnachtsbescherung in der Schule zu Tuscumbia. — Freude über die Weihnachtsgeschenke.
Das erste Weihnachtsfest nach Fräulein Sullivans Ankunft in Tuscumbia war ein großes Ereignis. Jedes Familienmitglied bereitete Ueberraschungen für mich vor; was mir aber am meisten Vergnügen machte, war, daß Fräulein Sullivan[S. 40] und ich Ueberraschungen für alle übrigen vorbereiteten. Das die Geschenke umgebende Geheimnis war meine größte Freude. Meine Bekannten taten alles, was in ihren Kräften stand, um meine Neugier durch Andeutungen und halbbuchstabierte Sätze rege zu machen, die sie im spannendsten Augenblick abbrechen zu müssen vorgaben. Fräulein Sullivan und ich unterhielten uns mit einem Ratespiel, das mich im Gebrauche der Sprache mehr förderte, als regelrechte Unterrichtsstunden dies zu tun vermocht hätten. Jeden Abend setzten wir uns um das verglimmende Holzfeuer und beschäftigten uns mit unserem Spiel, das um so aufregender wurde, je näher Weihnachten rückte.
Am heiligen Abend feierten die Schulkinder von Tuscumbia ihre Bescherung, zu der sie mich einluden. In der Mitte des Schulzimmers stand ein schöner Baum, strahlend und schimmernd in dem milden Lichte der Kerzen und beladen mit seltsamen, wunderbaren Früchten. Es war ein Moment der höchsten Glückseligkeit. Ich tanzte und sprang voller Freude um den Baum herum. Als ich erfuhr, es sei ein Geschenk für jedes Kind da, war ich darüber entzückt, und die freundlichen Spender, die die Bescherung veranstalteten, gestatteten mir, die Gaben den Kindern zu überreichen. In der Freude darüber fand ich keine Zeit, meine eigenen Geschenke zu betrachten; als ich aber mit der Verteilung fertig war, überstieg meine Ungeduld nach dem Beginn der wirklichen Bescherung alle Begriffe. Ich wußte, daß die Geschenke, die ich schon erhalten hatte, nicht die waren, wegen deren meine Bekannten mir durch ihre Andeutungen solche Tantalusqualen bereitet hatten, und meine Lehrerin sagte mir, die Geschenke, die ich erhalten würde, seien noch viel schöner als die, welche ich schon bekommen hätte. Ich war jedoch entschlossen, mich mit den Geschenken von dem Baume zufrieden zu geben und die übrigen ruhig bis morgen zu lassen.
In jener Nacht lag ich, nachdem ich meinen Strumpf aufgehängt hatte, lange Zeit wach, da ich mich gegen den Schlaf wehrte und mich munter halten wollte, um zu sehen, was der Santa Claus wohl tun würde, wenn er ankäme. Endlich schlummerte ich aber doch mit einer neuen Puppe und einem Eisbären in meinen Armen ein. Am nächsten Morgen war ich es, die die Familie mit meinem ersten: „Ein fröhliches Weihnachtsfest!“ aufweckte. Ich fand Ueberraschungen, nicht allein in dem Strumpfe, sondern auch auf dem Tische, auf allen Stühlen, an der Tür, sogar auf dem Fensterbrett; ich konnte in der Tat kaum einen Schritt machen, ohne über ein in Goldpapier gewickeltes Christgeschenk zu stolpern. Als aber meine Lehrerin mir einen Kanarienvogel schenkte, kannte meine Seligkeit keine Grenzen.
Der kleine Jim war so zahm, daß er auf meinen Finger hüpfte und mir kandierte Kirschen aus der Hand pickte. Fräulein Sullivan lehrte mich meinen neuen Liebling mit der größtmöglichen Sorgfalt hegen und pflegen. Jeden Morgen nach dem Frühstück machte ich ihm sein Bad zurecht, reinigte seinen Käfig, gab ihm frisches Futter, füllte sein Trinknäpfchen mit frischem Brunnenwasser und hängte etwas Vogelmiere an seinen Schaukelring.
Eines Morgens ließ ich den Käfig auf dem Fensterbrett stehen, während ich Jim frisches Wasser für sein Bad holte. Als ich zurückkehrte und die Tür öffnete, fühlte ich, daß eine große Katze zum Zimmer hinausstürzte. Zuerst bemerkte ich noch gar nicht, was sich zugetragen hatte; als ich aber meine Hand in den Käfig steckte und Jim mir nicht entgegenflatterte oder mit seinen zierlichen Füßchen sich auf meinen Finger setzte, wußte ich, daß ich meinen lieben kleinen Sänger nicht wiedersehen würde.
Reise nach Boston. — Zusammentreffen mit den blinden Kindern. — Bunker Hill. — Plymouth. — Pilgerfelsen. — Herr William Endicott.
Das nächste wichtige Ereignis in meinem Leben war mein Besuch in Boston im Mai 1888. Als ob es erst gestern gewesen wäre, so genau entsinne ich mich der Vorbereitungen, der Abreise mit meiner Lehrerin und meiner Mutter, der Eisenbahnfahrt und endlich der Ankunft in Boston. Wie verschieden war doch diese Reise von der, die ich zwei Jahre zuvor nach Baltimore gemacht hatte! Ich war kein ruheloses, reizbares kleines Geschöpf mehr, das die Aufmerksamkeit sämtlicher Mitreisenden verlangte, um zufriedengestellt zu sein. Ich saß still neben Fräulein Sullivan und achtete mit regem Interesse auf alles, was sie mir über das mitteilte, was sie aus dem Coupéfenster sah, den schönen Tennesseestrom, die großen Baumwollplantagen, die Hügel und Wälder und die Scharen lachender Neger auf den Bahnhöfen, die den Reisenden zuwinkten und köstliches Zuckergebäck und Maisklöße im Wagen umhertrugen. Mir gegenüber saß meine große, zerflederte Puppe, Nancy, in einem neuen Ginghamkleide und einem zerknitterten Strohhute und sah mich unverwandt mit ihren Glasaugen an. Bisweilen, wenn ich nicht durch Fräulein Sullivans Schilderungen in Anspruch genommen war, erinnerte ich mich der Anwesenheit Nancys und nahm sie auf den Arm, aber im allgemeinen beschwichtigte ich mein Gewissen dadurch, daß ich mir einredete, sie schlafe.
Da ich keine Gelegenheit mehr haben werde, von Nancy zu sprechen, so will ich gleich hier von dem traurigen Schicksale erzählen, das sie bald nach unserer Ankunft in Boston hatte. Sie war ganz mit Schmutz bedeckt, dem Ueberreste von Schlammkuchen, die ich sie zu essen gezwungen hatte, obwohl[S. 43] sie niemals eine besondere Vorliebe für diesen Leckerbissen gezeigt hatte. Die Wäscherin im Perkinsschen Institut nahm sie heimlich mit fort, um sie zu baden. Dies war für die arme Nancy zu viel. Als ich sie das nächstemal wiedersah, war sie nur noch ein formloser Watteklumpen, den ich überhaupt nicht wiedererkannt haben würde, wären nicht die beiden Glasaugen gewesen, die mich vorwurfsvoll ansahen.
Als der Zug endlich in den Bahnhof von Boston einfuhr, war es, als sei ein schönes Feenmärchen zur Wirklichkeit geworden. Das „es war einmal“ war Gegenwart; das „weite, ferne Land“ war hier.
Kaum waren wir in dem Perkinsschen Blindeninstitut angelangt, als ich auch schon mit den blinden Kindern Freundschaft zu schließen begann. Es freute mich unaussprechlich, zu finden, daß sie das Fingeralphabet verstanden. Wie froh war ich, mich mit anderen Kindern in meiner Sprache unterhalten zu können! Bis dahin war ich wie eine Ausländerin gewesen, die durch Vermittelung eines Dolmetschers spricht. In der Schule, in der Laura Bridgman unterrichtet worden war, befand ich mich in meinem Vaterlande. Es kostete mich einige Zeit, ehe ich mir die Tatsache, daß meine neuen Freunde blind waren, in ihrer Tragweite klarmachte. Ich wußte, ich konnte nicht sehen; aber es erschien mir unmöglich, daß all die munteren, liebenswürdigen Kinder, die um mich herumstanden und in meine Fröhlichkeit von Herzen einstimmten, gleichfalls blind sein sollten. Ich entsinne mich der schmerzlichen Ueberraschung, die ich empfand, als ich bemerkte, daß sie ihre Hände über die meinigen legten, wenn ich mit ihnen sprach, und daß sie in ihren Büchern mit Hilfe der Finger lasen. Obgleich mir dies schon vorher mitgeteilt worden war und obgleich ich mir meines eigenen Verlustes bewußt war, so hatte ich doch in unbestimmter Weise geglaubt, daß, da sie[S. 44] hören konnten, sie eine Art von „zweitem Gesicht“ haben müßten, und ich war nicht darauf vorbereitet, zu finden, daß diese Kinder alle derselben köstlichen Gabe wie ich beraubt waren. Aber sie waren so glücklich und zufrieden, daß ich alle Schmerzempfindungen über der Freude vergaß, die mir das Zusammensein mit ihnen gewährte.
Als ich einen Tag in der Gesellschaft der blinden Kinder zugebracht hatte, fühlte ich mich in meiner neuen Umgebung vollständig daheim, und jeder Tag brachte mir eine neue angenehme Erfahrung. Ich konnte mich nicht völlig davon überzeugen, daß es außer Boston noch viel in der Welt gebe, denn ich betrachtete diese Stadt als den Anfang und das Ende der Schöpfung.
Während unseres Aufenthaltes in Boston besuchten wir Bunker Hill und hier erhielt ich meinen ersten Geschichtsunterricht. Die Geschichte von den tapferen Männern, die auf dem Platze, auf dem wir standen, gekämpft hatten, regte mich gewaltig auf. Ich bestieg das Denkmal, wobei ich die Stufen zählte, und fragte mich verwundert, als es immer höher und höher hinauf ging, ob die Soldaten diese große Treppe erstiegen und von hier auf den Feind dort unten geschossen hätten.
Am nächsten Tage fuhren wir nach Plymouth. Es war dies meine erste Seereise und mein erster Ausflug auf einem Dampfer. Wie voll von Leben und Bewegung war das Schiff! Aber das Getöse der Maschine ließ mich glauben, es sei ein Gewitter im Anzuge, und ich begann zu weinen, weil ich fürchtete, wenn es regnete, könnten wir unser Picknick nicht im Freien abhalten. Ich glaube, der große Felsen, an dem die Pilger gelandet waren,[4] interessierte mich mehr als alles übrige in Plymouth. Ich konnte ihn berühren, und vielleicht[S. 45] war dies der Grund, weswegen mir die Ankunft der Pilger, ihre Beschwerden und ihre Heldentaten so deutlich vor der Seele standen. Ich habe oft ein kleines Modell des Felsens von Plymouth in der Hand gehabt, den mir ein freundlicher Herr in Pilgrim Hall gab, ich habe seine Umrisse, den Spalt in der Mitte und die eingemeißelte Inschrift »1620« befühlt und in meinem Innern alles überdacht, was ich von der wunderbaren Geschichte der Pilger wußte.
Wie erglühte meine kindliche Phantasie bei dem Gedanken an ihr ruhmvolles Unternehmen! Ich idealisierte sie als die tapfersten und hochherzigsten Männer, die jemals in der Fremde eine Heimat gesucht hatten. Ich glaubte, sie hätten die Freiheil ihrer Mitmenschen ebenso wie ihre eigene erstrebt. Ich war peinlich überrascht und arg enttäuscht, als ich einige Jahre später ihre unduldsamen Handlungen kennen lernte, die uns mit Scham erfüllen, selbst wenn wir den Mut und die Tatkraft anerkennen, die uns unser »schönes Land« gegeben haben.
Unter den zahlreichen Freunden, die ich mir in Boston gewann, befanden sich auch Herr William Endicott und seine Tochter. Die Güte, die mir beide erwiesen, war das Saatkorn, aus dem mir viele angenehme Erinnerungen erblüht sind. Eines Tages besuchten wir ihre schöne Villa in Beverly Farms. Ich erinnere mich mit Vergnügen daran, wie ich durch ihren schönen Rosengarten dahinschritt, wie ihre Hunde, der mächtige Leo und der kleine kraushaarige Fritz mit den langen Ohren, sich zu mir gesellten und wie Nimrod, das schnellste aller Pferde, seine Nase in meine Hand streckte, damit ich seinen Hals klopfen und ihm ein Stück Zucker geben sollte. Ebenso erinnere ich mich des Strandes, wo ich zum erstenmale im Sande gespielt hatte. Es war harter, glatter Sand, sehr verschieden von dem losen, scharfen, mit Algen und Muscheln untermischten Sande in Brewster. Herr Endicott erzählte mir[S. 46] von den großen Schiffen, die aus Boston nach Europa absegelten. Ich sah ihn später noch öfters, und er ist mir stets ein guter Freund gewesen, und ich dachte an ihn, als ich Boston „die Stadt der gütigen Herzen“ nannte.
[4] „Pilger“ oder „Pilgerväter“ hießen die 102 Puritaner, die im Jahre 1620 in Plymouth landeten.
Ferienaufenthalt in Brewster. — Die See. — Erstes Seebad. — Eindruck der Brandung. — Der erste Taschenkrebs.
Unmittelbar bevor das Perkinssche Institut seine Tore für den Rest des Sommers schloß, wurde die Verabredung getroffen, daß meine Lehrerin und ich unsere Ferien in Brewster am Kap Cod in der Gesellschaft unserer lieben Freundin, Frau Hopkins, zubringen sollten. Ich war darüber entzückt, denn mein Geist war voll von den zu erwartenden Freuden und den wunderbaren Geschichten, die ich vom Meere gehört hatte.
Meine lebhafteste Erinnerung an jenen Sommer ist der Ozean. Ich hatte stets im Binnenlande gelebt und niemals Seeluft geatmet; aber ich hatte in einem Buche mit dem Titel Our World eine Schilderung des Ozeans gelesen, die mich mit Erstaunen und einem sehnsüchtigen Verlangen erfüllte, die gewaltige See zu befühlen und ihr Toben zu spüren. So schlug mein kleines Herz in heftiger Erregung, als ich sah, daß mein Wunsch endlich doch in Erfüllung gehen sollte.
Kaum war ich in mein Badekostüm geschlüpft, als ich auf den warmen Sand hinaussprang und ohne die geringste Furcht in dem kühlen Wasser untertauchte. Ich fühlte, wie die mächtigen Wogen sich abwechselnd hoben und senkten. Die schaukelnde Bewegung des Wassers erfüllte mich mit ungemein lebhafter Freude. Mit einem Male aber wich mein Entzücken einem namenlosen Entsetzen; mein Fuß stieß gegen[S. 47] einen Felsen, und im nächsten Augenblick ergoß sich ein Strom von Wasser über mein Haupt. Ich streckte meine Hände aus, um eine Stütze zu finden, ich griff ins Wasser und faßte nach dem Tang, den mir die Wogen ins Gesicht schleuderten. Aber alle meine verzweifelten Anstrengungen waren vergeblich. Die Wellen schienen ihr Spiel mit mir zu treiben und warfen mich in ihrem wilden Tosen von einer zur anderen. Es war fürchterlich! Die gute, feste Erde war mir unter den Füßen weggeglitten, und ich schien von allem — von Leben, Luft, Wärme, Liebe — durch dieses unheimliche, mich rings umgebende Element ausgeschlossen zu sein. Endlich jedoch warf mich die See, als sei sie ihres neuen Spielzeugs müde, an das Gestade zurück, und im nächsten Augenblick wurde ich von den Armen meiner Lehrerin umschlungen. O, dieses wonnige Empfinden bei der langen, langen Umarmung! Sobald ich mich genügend von meinem panischen Schrecken erholt hatte, um ein Wort hervorbringen zu können, fragte ich: Wer hat denn eigentlich das Salz in das Wasser geschüttet?
Nachdem ich meine erste Erfahrung mit dem Wasser glücklich hinter mir hatte, machte es mir großes Vergnügen, in meinem Badekostüm auf einem mächtigen Felsen zu sitzen und Woge um Woge an den Felsen heranbranden zu fühlen, wobei sie einen Spritzregen von Schaum heraufsandten, der mich völlig durchnäßte. Ich spürte, wie die Kiesel fortgeschwemmt wurden, wenn die Wogen mit ihrer vollen Wucht gegen den Strand anstürmten; das ganze Gestade schien durch ihren furchtbaren Anprall zertrümmert zu werden, und die Luft erdröhnte unter ihren Donnerschlägen. Die Brandung schlug zurück, um sich zu einem noch mächtigeren Anlauf zu sammeln, und ich hing an dem Felsen voll gespannter Erwartung, wie von einem Banne befangen, während ich das Toben und Brüllen des wütenden Meeres fühlte.
Kaum konnte ich mich von dem Strande trennen. Der Hauch der reinen, frischen und klaren Seeluft wirkte wie kühles, beruhigendes Denken auf mich, und die Muscheln, die Kiesel, die mit winzigen Lebewesen bedeckten Algen büßten in meinen Augen nicht das geringste ihrer Anziehungskraft ein. Eines Tages lenkte Fräulein Sullivan meine Aufmerksamkeit auf ein seltsames Ding, das sie in dem seichten Wasser gefangen hatte. Es war ein großer Taschenkrebs, der erste, den ich je in meinem Leben gesehen hatte. Ich fühlte ihn an und fand es sehr seltsam, daß er sein Haus auf seinem Rücken mit sich herumtragen sollte. Plötzlich schoß mir der Gedanke durch den Kopf, er könne einen ganz artigen Spielgefährten abgeben; daher ergriff ich ihn mit beiden Händen am Schwanze und trug ihn nach Hause. Diese Heldentat gefiel mir außerordentlich, besonders da sein Körper sehr schwer war und ich alle meine Kräfte anstrengen mußte, ihn eine halbe Meile weit zu schleppen. Ich ließ Fräulein Sullivan keine Ruhe, bis sie den Krebs in einen Trog in der Nähe des Brunnens geworfen hatte, in dem er nach meiner Ueberzeugung sicher aufgehoben war. Als ich aber am nächsten Morgen zu dem Troge kam, siehe da, da war er verschwunden! Niemand wußte, wohin er gekommen war oder wie er hatte entwischen können. Ich empfand eine schmerzliche Enttäuschung; nach und nach gelangte ich jedoch zu der Einsicht, daß es nicht freundlich oder weise gehandelt war, dieses arme stumme Geschöpf seinem Element zu entreißen, und nach einiger Zeit fühlte ich mich in dem Gedanken glücklich, es sei ihm vielleicht gelungen, in das Meer zurückzukehren.
Rückkehr nach Tuscumbia. — Fern Quarry. — Jagden. — Bony »Black Beauty«. — In Lebensgefahr.
Im Herbst kehrte ich mit einem Herzen voll von freundlichen Erinnerungen nach meiner südlichen Heimat zurück. So oft ich mir diesen Besuch im Norden ins Gedächtnis zurückrufe, erfüllt er meine Seele immer von neuem mit Bewunderung über die reichen, mannigfaltigen Erfahrungen, die sich mit ihm verbinden. Er scheint mir der Ausgangspunkt meiner ganzen künftigen Entwickelung gewesen zu sein. Die Schätze einer neuen, schönen Welt wurden mir zu Füßen gelegt, und bei jedem Ausgange empfing ich erheiternde und belehrende Eindrücke. Ich lebte selbst in allen Dingen mit. Ich saß keinen Augenblick still; mein Leben war so voller Bewegung wie das jener kleinen Insekten, deren ganzes Dasein sich im Laufe eines kurzen Tages abspielt. Ich begegnete vielen Menschen, die sich mit mir unterhielten, indem sie die Worte in meine Hand buchstabierten, und in fröhlicher Wechselwirkung stiegen Gedanken auf, um sich mit Gedanken anderer zu kreuzen, und siehe da! es geschah ein Wunder! Die öden Strecken, die meinen Geist von dem meiner Mitmenschen getrennt hatten, bedeckten sich mit Blüten wie ein Rosenstrauch.
Die Herbstmonate brachte ich mit meiner Familie in unserem Sommerlandhause zu, das auf einem Berge ungefähr vierzehn Meilen von Tuscumbia entfernt lag. Es hieß Fern Quarry weil sich in seiner Nähe ein jetzt längst aufgegebener Kalkbruch befunden hatte. Drei muntere, in den Felsen oberhalb entspringende Bäche, durchströmten den Bruch, hier ruhig fließend, dort in sprudelnden Kaskaden schäumend, wo die Felsen ihnen den Weg zu versperren suchten. Der Eingang war mit Farnen bedeckt, die die Kalksteinschichten vollständig überwucherten. Der[S. 50] übrige Teil des Berges war dicht bewaldet. Hier wuchsen hohe Eichen und mächtige Tannen mit Stämmen, gleich moosigen Säulen, von deren Zweigen Gewinde von Efeu und Mistel herniederhingen, ebenso Persimonbäume, deren Wohlgeruch jeden Winkel des Waldes durchdrang — ein verlockendes, duftendes Etwas, das das Herz fröhlich machte. Stellenweise zogen sich wilde Weinreben von Baum zu Baum und bildeten Lauben, die der Lieblingsaufenthalt von Schmetterlingen und summenden Insekten waren. Es war köstlich, sich am späten Nachmittag unter den grünen Gewölben und in den Irrgängen jenes Waldes zu verlieren und den kühlen erquickenden Duft einzuatmen, der bei Sonnenuntergang aus der Erde emporstieg.
Unser Landhaus war eine Art Jagdhütte, schön gelegen auf dem Gipfel des Berges zwischen Eichen und Fichten. Die kleinen Zimmer befanden sich zu beiden Seiten einer langen, offenen Halle. Rings um das Haus dehnte sich ein weiter Platz aus, zu dem die Bergeswinde alle Wohlgerüche des Waldes herübertrugen. Auf diesem Platze brachten wir den größten Teil des Tages zu — hier arbeiteten, aßen und spielten wir. An der hinteren Tür des Hauses erhob sich ein mächtiger Nußbaum, um den herum Stufen führten, und vorn standen die Bäume so nahe, daß ich sie berühren und fühlen konnte, wenn der Wind ihre Zweige hin und her bewegte, oder das Laub in den Herbststürmen zu Boden wirbelte.
Wir hatten viel Besuch in Fern Quarry. Abends spielten die Männer am Lagerfeuer Karten und vertrieben sich die Zeit mit Gesprächen und körperlichen Uebungen. Sie erzählten Wunderdinge von ihren Jagden auf Hühner, Fische und allerlei Wild — wie viele wilde Enten und Truthühner sie geschossen, was für Forellen sie gefangen und wie die die schlauesten Füchse und die klügsten Opossums überlistet und die schnellsten Hirsche eingeholt hatten, bis ich der Ueberzeugung[S. 51] war, daß sicherlich Löwen, Tiger, Bären und die übrigen reißenden Tiere allesamt diesen verschlagenen Jägern keinen Widerstand leisten könnten. Auf morgen zur Jagd! lautete ihr Gutenachtgruß, wenn sich der Kreis der lustigen Freunde bei Einbruch der Nacht auflöste. Die Männer schliefen in der Halle vor der Haustür, und ich konnte das tiefe Atmen der Hunde und Jäger spüren, wenn sie auf ihren improvisierten Betten lagen.
Bei Tagesanbruch wurde ich durch den Geruch von Kaffee, das Klirren von Gewehren und die schweren Tritte der Männer geweckt, die jetzt umhergingen voll froher Hoffnung auf einen glücklichen Jagderfolg. Ebenso konnte ich das Stampfen ihrer Pferde spüren, die unter den Bäumen angebunden waren, wo sie die ganze Nacht über gestanden hatten, laut wiehernd und ungeduldig das Loskoppeln erwartend. Endlich stiegen die Herren zu Pferde, und „fort trabten“, wie es in alten Liedern heißt, „die Rosse, mit klirrendem Zaumzeug, unter Peitschengeknall und Hundegebell“, und „fort trabten die Jäger mit lauten Hussa- und Hallorufen“.
Im Laufe des Vormittags trafen wir die Vorbereitungen für das Jagdessen. Ein Feuer wurde auf dem Boden eines tiefen Loches, das in die Erde gegraben war, angezündet, große Scheite wurden kreuzweise darüber gelegt und die Fleischstücke an diesen aufgehängt oder an Spießen gebraten. Um das Feuer herum kauerten Neger und verscheuchten die Fliegen mit langen Zweigen. Der würzige Duft des Fleisches machte mich hungrig, lange bevor die Tische gedeckt waren.
Hatte das aufgeregte Treiben seinen Höhepunkt erreicht, so kehrten die Teilnehmer an der Jagd zurück und erschienen in Gruppen von zwei oder drei, die Männer heiß und müde, die Pferde mit Schaum bedeckt, die abgehetzten Hunde keuchend und niedergeschlagen — und kein Stück Jagdbeute! Jeder[S. 52]mann erklärte, er habe wenigstens einen Hirsch gesehen und das Tier sei ihm auch ganz nahe gekommen; so eifrig aber auch die Hunde das Wild verfolgten, so genau die Schützen zielen mochten — beim Abfeuern des Gewehres war kein Hirsch mehr zu erblicken. Man war so glücklich gewesen wie der kleine Junge, der da erklärte, er habe beinahe ein Kaninchen gesehen — denn er sah dessen Fährte. Die Gesellschaft vergaß aber bald ihre Enttäuschung, und wir setzten uns zu Tische, freilich nicht zum Wildbretschmause, wohl aber zu einem zahmeren Mahle von Kalb- und geröstetem Schweinefleisch.
Eines Sommers hatte ich mein Pony mit nach Fern Quarry genommen. Ich nannte ihn dort Black Beauty, da ich soeben das Buch mit diesem Titel gelesen hatte, und er glich seinem Namensvetter in jeder Hinsicht, von seinem glänzenden schwarzen Felle bis zu der Blässe auf seiner Stirn. Ich brachte viele meiner glücklichsten Stunden auf seinem Rücken zu. Gelegentlich, wenn es durchaus keine Gefahr hatte, ließ meine Lehrerin den Leitzügel los, und dann ging der Pony gemächlich weiter oder machte nach Belieben Halt, um Gras abzurupfen oder das Laub der an der Seite des schmalen Weges stehenden Bäume zu benagen.
An den Vormittagen, an denen ich keine Lust hatte, auszureiten, machten meine Lehrerin und ich nach dem Frühstück einen Spaziergang in die Wälder und verloren uns gern inmitten der Bäume und Weinranken, ohne einen anderen Weg unter unseren Füßen zu haben, als die von Kühen und Pferden getretenen Pfade. Oft kamen wir an undurchdringliche Dickichte, die uns zwangen, sie im Bogen zu umgehen. Stets kehrten wir zu dem Landhause mit einer Last von wildem Lorbeer, Goldregen, Farnen und prächtigen Wasserlilien zurück, wie sie nur im Süden gedeihen.
Bisweilen ging ich mit Mildred und meinen kleinen Vettern fort, um Persimonpflaumen zu suchen. Ich aß die nicht, liebte aber ihren Duft und freute mich, wenn ich sie unter Laub und Gras entdeckte. Auch Nüsse sammelten wir, und ich half beim Aushülsen der Haselnüsse, sowie beim Zerschlagen der Schalen der Hickory- und Walnüsse — der großen, süßen Walnüsse.
Am Fuße des Berges lief eine Eisenbahn entlang, und die Kinder beobachteten das Vorbeifahren der Züge. Mitunter schreckte uns ein fürchterliches Pfeifen empor, dann erzählte mir Mildred in großer Aufregung, daß sich eine Kuh oder ein Pferd auf die Schienen verirrt habe. In der Entfernung von ungefähr einer Meile befand sich eine Eisenbahnbrücke, die einen tiefen Abgrund überspannte. Es war sehr schwierig, hinüberzugehen; die Bohlen standen weit auseinander und waren so schmal, daß man die Empfindung hatte, als ginge man auf Messerschneiden. Ich hatte die Brücke nie benutzt, bis eines Tages Mildred, Fräulein Sullivan und ich uns in den Wäldern verirrt hatten und stundenlang umherwanderten, ohne einen Pfad zu finden.
Plötzlich streckte Mildred ihre kleine Hand aus und rief: Dort ist die Brücke! Wir hätten noch einen anderen Weg einschlagen können, aber es war spät, und die Dunkelheit brach schon herein, und auf der Brücke schnitt man eine bedeutende Strecke ab. Ich mußte mit meinen Füßen nach den Schienen fühlen, aber ich hatte keine Furcht und schritt tapfer vorwärts, bis auf einmal aus der Ferne ein schwaches Puff, Puff ertönte.
Ich sehe den Zug! rief Mildred, und in der nächsten Minute würde er uns erreicht haben, wenn wir nicht auf die Kreuzbalken heruntergeklettert wären, während er über unseren Köpfen davonbrauste. Ich fühlte den heißen Dampf der Loko[S. 54]motive in meinem Gesicht, und der Rauch und die Asche erstickten uns beinahe. Als der Zug vorüberrollte, schwankte die Brücke so, daß ich glaubte, wir würden in die Schlucht hinunterstürzen. Mit der äußersten Schwierigkeit gelangten wir wieder auf das Geleise. Lange nach Einbruch der Dunkelheit erreichten wir das Haus und fanden es leer; die ganze Familie war ausgezogen, um uns zu suchen.
Besuch im Norden. — Wintervergnügungen.
Nach meinem ersten Besuche in Boston brachte ich beinahe jeden Winter im Norden zu. Einmal besuchte ich ein Dorf in Neuengland mit seinen zugefrorenen Seen und seinen weiten Schneefeldern. Damals fand ich Gelegenheit, wie ich sie nie zuvor gehabt hatte, die Annehmlichkeiten einer Schneelandschaft kennen zu lernen.
Ich erinnere mich noch, wie erstaunt ich war, als ich entdeckte, daß eine geheimnisvolle Hand das Laub von Bäumen und Sträuchern gestreift und nur hier und da ein vertrocknetes Blatt zurückgelassen hatte. Die Vögel waren fortgezogen, und ihre leeren Nester auf den kahlen Bäumen waren mit Schnee gefüllt. Der Winter lag auf Hügel und Feld. Die Erde schien unter seiner eisigen Berührung erstarrt zu sein, und selbst die Geister der Bäume hatten sich bis zu den Wurzeln hinabgeflüchtet und lagen, in der Finsternis zusammengekrümmt, im festen Schlafe. Alles Leben schien erstorben zu sein, und selbst wenn die Sonne hervorkam, war der Tag
Das dürre Gras und die Sträucher waren in einen Wald von Eiszapfen verwandelt.
Dann kam ein Tag, an dem die scharfe Luft das Herannahen eines Schneefalles ankündigte. Wir eilten ins Freie, um zu fühlen, wie die ersten zarten Flocken herniedersanken. Stunde um Stunde schwebten die Flocken schweigend und weich aus ihrer luftigen Höhe zur Erde herab, und die Gegend bekam immer mehr das Aussehen einer Ebene. Eine Schneenacht breitete sich über die Welt aus, und am Morgen konnte man kaum noch einen Zug der Landschaft erkennen. Alle Wege waren verweht, keine einzige Landmarke war mehr sichtbar — ringsum eine Schneewüste mit vereinzelt aus ihr hervorragenden Bäumen.
Am Abend erhob sich ein Wind aus Nordost, und die Flocken wirbelten in rasendem Tanze durcheinander. Wir saßen um den großen Herd herum, erzählten uns lustige Geschichten und waren vergnügt und heiter; dabei vergaßen wir ganz, daß wir uns inmitten einer trostlosen Einöde befanden, abgeschlossen von jeder Verbindung mit der Außenwelt. Während der Nacht steigerte sich die Gewalt des Sturmes derart, daß er uns mit einer unbestimmten Furcht erfüllte. Die Dachsparren knarrten und stöhnten, und die Zweige der das Haus umgebenden Bäume ächzten und schlugen gegen die Fenster, während der Sturm über die Landschaft hinraste.
Am dritten Tage nach dem Beginn des Unwetters hörte das Schneetreiben auf. Die Sonne brach durch die Wolken und beschien eine weite, wellige Ebene. Hohe Dämme, phantastisch gestaltete Schneehaufen und undurchdringliche Schneewehen zogen sich in allen Richtungen dahin.
Es wurden nun schmale Pfade durch die Schneewehen geschaufelt. Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus. Die Luft war so scharf, daß meine Wangen[S. 56] wie Feuer brannten. Bald die gebahnten Pfade benutzend, bald unseren Weg selbständig durch die niedrigeren Wehen bahnend, gelangten wir endlich an eine große Fichte, die am Rande einer breiten Wiese stand. Die Bäume ragten bewegungslos und weiß gleich Figuren auf einem Marmorfriese empor. Die Fichtennadeln spendeten heute keinen Duft. Die Strahlen der Sonne fielen auf die Bäume, sodaß die Zweige wie Diamanten funkelten und viele von ihnen abbrachen, sobald wir sie berührten. So blendend war das Licht, daß es sogar die Finsternis, die auf meinen Augen lag, durchdrang.
Im Verlauf der Zeit wurden die Schneewehen immer kleiner, aber bevor sie gänzlich verschwunden waren, kam ein anderes Unwetter, sodaß ich kaum einmal im Winter die bloße Erde unter meinen Füßen fühlte. Allmählich verloren die Bäume ihre Eishülle, und die Binsen und Sträucher traten in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder hervor, aber der See lag trotz des hellen Sonnenscheins gefroren und hart da.
Unser Lieblingsvergnügen in diesem Winter war Schlittenfahren. Stellenweise erhebt sich das Ufer des Sees steil über dem Wasserspiegel. Diese jähen Abhänge benutzten wir zu unserer Abfahrt. Wir setzten uns auf unseren Handschlitten, ein Knabe versetzte uns einen Stoß, und fort flogen wir! Wir durchschnitten Schneewehen, flogen über Vertiefungen hinweg, sausten auf den See hinaus und schossen über dessen schimmernde Oberfläche hin bis zum anderen Ufer. Was für ein Jubel! Was für eine herzerfrischende Tollheit! Für einen wilden, seligen Augenblick zerbrachen wir die Kette, die uns an die Erde schmiedet, wir reichten den Winden die Hand und fühlten uns göttergleich!
Rückblick auf die früheren Versuche, zu sprechen. — Ragnhild Kaata. — Unterricht in der Lautsprache bei Fräulein Fuller. — Freude über den Erfolg. — Ablesen von den Lippen mittels der Finger. — Gebrauch des Fingeralphabets.
Im Frühjahr 1890 lernte ich sprechen.[5] Ich hatte stets ein starkes Verlangen in mir gefühlt, hörbare Laute auszustoßen. Ich pflegte Töne hervorzubringen, wobei ich die eine Hand an meinen Kehlkopf legte, während die andere den Bewegungen der Lippen folgte. Ich freute mich über alles, was ein Geräusch machte, und liebte es, zu fühlen, wie die Katze schnurrte und der Hund bellte. Ebenso legte ich mit Vorliebe die Hand an den Kehlkopf eines Sängers oder auf ein Klavier, wenn es gespielt wurde. Ehe ich Gesicht und Gehör verlor, hatte ich bereits sprechen gelernt, aber nach meiner Krankheit hörte ich auf zu sprechen, weil ich nicht mehr hören konnte. Ich pflegte den ganzen Tag über auf dem Schoße meiner Mutter zu sitzen und meine Hände an ihr Gesicht zu halten, weil es mir Vergnügen machte, die Bewegungen ihrer Lippen zu fühlen, und auch ich bewegte meine Lippen, obgleich ich vergessen hatte, was Sprechen sei. Meine Bekannten behaupten, daß ich auf natürliche Art lachte und weinte, und eine Zeitlang brachte ich allerlei Töne und Wortbestandteile hervor, nicht weil sie ein Verständigungsmittel bildeten, sondern weil ich die gebieterische Notwendigkeit in mir fühlte, meine Stimmorgane zu üben. Es gab jedoch ein Wort, an dessen Bedeutung ich mich immer noch erinnerte, nämlich water. Ich sprach es wa–wa aus. Selbst dieses wurde immer unverständlicher bis zu der Zeit, als Fräulein Sullivan mich zu unterrichten begann. Ich hörte erst auf, es zu ge[S. 58]brauchen, als ich gelernt hatte, das Wort mit meinen Fingern zu buchstabieren.
Ich hatte längst erkannt, daß meine Umgebung sich anderer Verständigungsmittel bediente als ich, und schon ehe ich erfuhr, daß ein taubstummes Kind sprechen lernen kann, war ich mir meiner Unzufriedenheit mit den Verständigungsmitteln, über die ich bereits verfügte, bewußt. Wer gänzlich auf das Fingeralphabet angewiesen ist, trägt stets eine Empfindung mit sich herum, als werde er durch etwas zurückgehalten, eingeengt. Diese Empfindung begann mich mit einem beunruhigenden, vorwärts treibenden Bewußtsein eines Mangels, der beseitigt werden müsse, zu erfüllen. Meine Gedanken wollten sich oft aufschwingen und wie die Vögel gegen den Wind ankämpfen, und ich übte meine Lippen und meine Stimme beharrlich weiter. Freunde suchten mich von diesen Bemühungen abzubringen, weil sie fürchteten, sie würden zu nichts weiter führen als zu einer Enttäuschung. Aber ich blieb beharrlich dabei, und bald trat etwas ein, was schließlich zur Beseitigung dieses für unüberwindlich geltenden Hindernisses führen sollte — ich erfuhr die Geschichte von Ragnhild Kaata.
Im Jahre 1890 kam Frau Lamson, eine von Laura Bridgmans Lehrerinnen, die soeben von einer Reise nach Schweden und Norwegen zurückgekehrt war, zu mir, um mich zu besuchen, und erzählte mir von Ragnhild Kaata, einem taubstummen und blinden Mädchen in Norwegen, das tatsächlich sprechen gelernt hatte. Frau Lamson hatte kaum ihre Erzählung von dem Erfolge dieses Mädchens beendet, als ich Feuer und Flamme war. Auch ich faßte den Entschluß, sprechen zu lernen. Ich wollte mich nicht zufrieden geben, bis mich meine Lehrerin zu Fräulein Sarah Fuller, der Leiterin der Horace Mann-Schule mitnahm, um diese zu bitten, ihr mit Rat und Tat beizustehen. Diese liebenswürdige, sanfte Dame erbot sich dazu,[S. 59] mich selbst zu unterrichten, und wir begannen am 26. März 1890.
Fräulein Fullers Methode war folgende: sie legte meine Hand leicht über ihr Gesicht und ließ mich die Stellung ihrer Zunge und ihrer Lippen fühlen, wenn sie einen Ton hervorbrachte. Ich war voller Eifer, ihr jede Bewegung nachzumachen, und binnen einer Stunde hatte ich sechs Elemente der Sprache erlernt: m, p, a, s, t, i. Fräulein Fuller erteilte mir im ganzen elf Unterrichtsstunden. Ich werde nie das Erstaunen und die Freude vergessen, die mich erfüllten, als ich meinen ersten zusammenhängenden Satz aussprach: It is warm. Es waren ja nur abgerissene und gestammelte Silben, aber es war menschliche Sprache. Meine Seele, die sich einer neuen Kraft bewußt geworden war, war von der Knechtschaft erlöst und fand durch diese abgerissenen Sprachsymbole den Zugang zu aller Erkenntnis und allem Glauben.
Kein taubstummes Kind, das ernstlich versucht hat, die Worte auszusprechen, die es nie gehört hat — um aus dem Kerker des Schweigens herauszukommen, in dem kein Ton der Liebe, kein Vogelgesang, keine Musik je die Stille unterbricht — kann den Schauer des Erstaunens, die Freude der Entdeckung vergessen, die es übermannten, als es sein erstes Wort aussprach. Nur jemand, der in ähnlicher Lage gewesen ist, kann den Eifer ermessen, mit dem ich zu meinem Spielzeuge, zu Steinen, Bäumen, Vögeln und stummen Tieren sprach, oder das Entzücken nachfühlen, das ich empfand, wenn Mildred auf meinen Ruf zu mir eilte oder meine Hunde meinen Befehlen gehorchten. Es bildet einen unsäglichen Gewinn für mich, in geflügelten Worten sprechen zu können, die keiner Uebertragung bedürfen. Als ich sprach, schwangen sich aus meinen Worten glückliche Gedanken empor, die sich vielleicht vergeblich bemüht hätten, sich aus meinen Fingern herauszuarbeiten.
Aber man darf nicht glauben, daß ich in dieser kurzen Zeit[S. 60] wirklich sprechen gelernt hätte. Ich hatte nur die Elemente der Sprache erlernt. Fräulein Fuller und Fräulein Sullivan konnten mich verstehen, aber die meisten Leute hätten von hundert Wörtern nicht ein einziges verstanden. Auch ist es nicht wahr, daß ich nach Erlernung dieser Elemente alles übrige aus eigener Kraft erreichte. Ohne Fräulein Sullivans Genialität, ohne ihre unermüdliche Ausdauer und Hingebung hätte ich mich der natürlichen Sprache nie so weit nähern können, wie ich es in Wahrheit getan habe. Vor allen Dingen mühte ich mich Tag und Nacht ab, ehe ich mich selbst meinen intimsten Freunden verständlich machen konnte, dann aber bedurfte ich beständig Fräulein Sullivans Hilfe bei meinen Bemühungen, jeden Laut deutlich zu artikulieren und alle Laute auf die mannigfaltigste Weise zu verbinden. Noch jetzt lenkt sie täglich meine Aufmerksamkeit auf die fehlerhafte Aussprache einzelner Wörter.
Jeder Taubstummenlehrer weiß, was dies bedeutet, und nur ein solcher kann überhaupt die Schwierigkeiten würdigen, mit denen ich zu kämpfen hatte. Beim Ablesen von den Lippen meiner Lehrerin war ich gänzlich von meinen Fingern abhängig; ich hatte mich des Tastsinnes bei der Wahrnehmung der Schwingungen des Kehlkopfes, der Bewegungen des Mundes und des Gesichtsausdrucks zu bedienen, und oft täuschte sich dieser Sinn. In solchen Fällen war ich genötigt, die Wörter oder Sätze oft stundenlang zu wiederholen, bis ich den entsprechenden Klang in meiner eigenen Stimme fühlte. Meine Arbeit bestand in Uebung, Uebung, Uebung. Entmutigung und Ermüdung warfen mich oft nieder; aber im nächsten Augenblick spornte mich der Gedanke, daß ich bald zu Hause bei meinen Lieben sein und ihnen zeigen würde, was ich erreicht hätte, von neuem an, und ich stellte mir stets ihre Freude bei dem Gelingen meiner Bemühungen vor Augen.
„Meine kleine Schwester wird mich jetzt verstehen können,“ war ein Gedanke, der stärker war als alle Hindernisse. Ich pflegte voller Begeisterung zu wiederholen: „Ich bin jetzt nicht mehr stumm.“ Ich konnte nicht verzweifeln, weil ich mir die Freude, zu meiner Mutter sprechen und ihr die Antworten von den Lippen ablesen zu können, mit den glänzendsten Farben ausmalte. Es überraschte mich, zu finden, wie viel leichter es ist, zu sprechen, als mit den Fingern zu buchstabieren, und ich schaltete meinerseits das Fingeralphabet als Verständigungsmittel aus; doch bedienen sich Fräulein Sullivan und ein paar Freunde noch seiner in der Unterhaltung mit mir, denn es ist bequemer und rascher, als das Ablesen von den Lippen.
Es ist hier vielleicht der geeignete Ort, etwas über den Gebrauch unseres Fingeralphabets zu sagen, das manche, die uns nicht kennen, zu befremden scheint. Wer mittelst seiner Hand mir vorliest oder mit mir spricht, bedient sich in der Regel des von den Taubstummen gebrauchten einhändigen Fingeralphabets. Ich lege meine Hand so leicht auf die Hand des Sprechenden, daß keine ihrer Bewegungen gehemmt wird. Die Stellung der Hand ist ebenso leicht zu fühlen wie zu sehen. Ich fühlte ebensowenig jeden Buchstaben wie andere jeden Buchstaben für sich sehen, wenn sie lesen. Beständige Uebung macht die Finger äußerst biegsam, und einige meiner Freunde buchstabieren sehr rasch, beinahe so rasch, wie jemand auf der Schreibmaschine schreibt. Das bloße Buchstabieren ist selbstverständlich in nicht höherem Grade eine bewußte Handlung als das Schreiben.
Als ich mir die Sprache angeeignet hatte, konnte ich es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Endlich nahte der glückliche Augenblick. Während der Rückreise hatte ich fortwährend mit Fräulein Sullivan gesprochen, nicht um zu sprechen, sondern um mich bis zur letzten Minute zu vervollkommnen.[S. 62] Fast ehe ich es ahnte, hielt der Zug auf dem Bahnhofe in Tuscumbia, und auf dem Perron stand die ganze Familie. Meine Augen füllen sich noch jetzt mit Tränen, wenn ich daran denke, wie mich meine Mutter sprachlos und zitternd vor Freude an ihr Herz drückte und auf jede Silbe, die ich sprach, atemlos lauschte, während die kleine Mildred meine freie Hand ergriff, sie küßte und umhertanzte, und mein Vater seinen Stolz und seine Liebe durch tiefes Schweigen bekundete. Es war, als sei Jesaias Prophezeiung an mir in Erfüllung gegangen: Die Berge und Hügel werden vor dir Lieder anstimmen, und alle Bäume des Feldes werden vor Freude in ihre Hände klatschen.
[5] Vergl. Helens Brief S. 161 ff. und Fräulein Sullivans Bericht S. 311 ff.
Die Frostkönig-Episode. — Betrachtungen über Schriftstellerei.
Der Winter des Jahres 1892 wurde durch eine Wolke an dem heiteren Himmel meiner Kindheit getrübt. Anstatt der Freude waren für lange, lange Zeit Zweifel, Sorge und Furcht bei mir eingekehrt. Die Bücher verloren ihren Reiz für mich, und noch jetzt schnürt sich mir bei dem Gedanken an jene schrecklichen Tage das Herz zusammen. Eine kleine Geschichte mit dem Titel »Der Frostkönig«,[6] die ich schrieb und an Herrn Anagnos, den Direktor des Perkinsschen Blindeninstitutes schickte, bildete die Veranlassung zu all der Unruhe. Um die Sache klarzustellen, muß ich die Tatsachen in Verbindung mit folgender Episode auseinandersetzen, die zu erwähnen mich sowohl die Gerechtigkeit gegen meine Lehrerin wie gegen mich selbst nötigt.
Ich schrieb die Erzählung, als ich zu Hause war, in dem[S. 63] Herbste, nachdem ich sprechen gelernt hatte. Wir waren von Fern Quarry später als gewöhnlich aufgebrochen. Während unseres Aufenthaltes dort hatte mir Fräulein Sullivan die Schönheiten des herbstlichen Laubes beschrieben, und es scheint, als hätten ihre Schilderungen die Erinnerung an ein Märchen wachgerufen, das mir offenbar einmal vorgelesen worden war und das ich unbewußt behalten haben muß. Ich glaubte damals eine „Geschichte zu machen“, wie die Kinder sagen, und setzte mich voller Eifer hin, die niederzuschreiben, ehe sich die Gedanken wieder verflüchtigten. Die Gedanken flossen mir leicht aus der Feder; ich empfand lebhafte Freude bei der Ausarbeitung. Worte und Bilder strömten mir in reicher Fülle zu, und während ich mir einen Satz nach dem anderen ausdachte, schrieb ich alles mit meinem Braillegriffel nieder. Wenn mir jetzt Worte und Bilder ohne besondere Anstrengung kommen, so betrachte ich dies als einen ziemlich sicheren Beweis dafür, daß sie nicht mein geistiges Eigentum, sondern fremdes Gut sind, von dem ich nichts wissen will. Damals aber nahm ich alles, was ich las, begierig auf ohne irgend einen Gedanken an Verfasserrecht, und selbst jetzt kann ich die Grenzlinie zwischen meinen Gedanken und denen, die ich in meinen Büchern finde, nicht ganz scharf ziehen. Ich glaube, dies liegt daran, daß mir soviele Eindrücke durch die Vermittlung der Augen und Ohren anderer zugehen.
Als ich mit meiner Erzählung fertig war, las ich sie meiner Lehrerin vor, und ich erinnere mich noch jetzt lebhaft der Freude, die ich bei den gelungenen Stellen empfand, sowie meiner Ungeduld, wenn ich durch die Verbesserung der Aussprache eines Wortes unterbrochen wurde. Beim Mittagessen wurde sie der versammelten Familie vorgelesen, die ganz erstaunt war, daß ich so gut schrieb. Es fragte mich auch jemand, ob ich sie nicht in irgend einem Buche gelesen hätte.
Diese Frage überraschte mich sehr, denn ich hatte nicht die geringste Erinnerung daran, daß sie mir je vorgelesen worden sei. Ich sagte daher mit aller Entschiedenheit: O nein, es ist eine Geschichte von mir, und ich habe sie für Herrn Anagnos geschrieben.
Demgemäß schrieb ich die Erzählung ab und schickte sie dem genannten Herrn zu seinem Geburtstage. Es wurde mir geraten, den Titel, der ursprünglich »Herbstlaub« (Autumn Leaves) lautete, in »Der Frostkönig« (The Frost King) umzuändern, was ich denn auch tat. Ich trug die kleine Erzählung selbst zur Post, und es war mir dabei zu Mute, als ob ich in den Wolken schwebte. Ich ließ mir wenig davon träumen, wie hart ich für dieses Geburtstagsgeschenk zu büßen haben würde.
Herr Anagnos war über den »Frostkönig« entzückt und veröffentlichte das Märchen in einem seiner Jahresberichte über das Perkinssche Institut. Dies war der Gipfel meiner Glückseligkeit, von dem ich aber bald jäh wieder zur Erde geschleudert werden sollte. Ich war nur kurze Zeit in Boston gewesen, als es sich herausstellte, daß eine ähnliche Geschichte wie »Der Frostkönig«, nämlich »Die Frostelfen« (The Frost Fairies) von Fräulein Margaret T. Canby, vor meiner Geburt in einem Buche mit dem Titel »Birdie und seine Freunde« (Birdie and His Friends) erschienen sei. Die beiden Erzählungen stimmten in Inhalt und Form so sehr überein, daß kein Zweifel darüber bleiben konnte, daß Fräulein Canbys Märchen mir vorgelesen worden sein mußte, und daß das meinige — ein Plagiat war. Es hielt schwer, mir dies verständlich zu machen; als ich es aber begriffen hatte, war ich tief betrübt. Kein Kind hat je einen bittereren Kelch getrunken als ich. Ich hatte mir Schimpf und Schande zugezogen, ich hatte Verdacht bei denen erregt, die ich am meisten liebte. Und doch, wie war es möglich, daß so etwas geschehen konnte? Ich zermarterte mein Gehirn unab[S. 65]lässig, um mich an irgend etwas zu erinnern, was ich über den Frost gelesen haben könnte, bevor ich den »Frostkönig« schrieb; ich konnte mich aber auf nichts entsinnen als auf die volkstümliche Redensart von Jack Frost und ein Kindergedichtchen: »Die Launen des Frostes« (The Freaks of the Frost), und ich wußte, daß ich dieses nicht bei meiner Arbeit benutzt hatte.
Zunächst schien mir Herr Anagnos zu glauben, obgleich er großen Kummer darüber empfand. Er war außergewöhnlich zärtlich und liebevoll zu mir, und eine kurze Zeitlang verschwand der Schatten. Ihm zuliebe suchte ich mich zu fassen und mich zur Feier von Washingtons Geburtstag, der bald nach dem peinlichen Zwischenfall festlich begangen wurde, so hübsch wie möglich zu machen.
Ich sollte die Ceres in einer Art von Maskenspiel darstellen, das von den blinden Kindern aufgeführt wurde. Wie gut erinnere ich mich an das reizvolle Gewand, das mich umhüllte, an das bunte Herbstlaub, das mein Haupt schmückte, an die Früchte und Aehren zu meinen Füßen und in meinen Händen, und unter all der Heiterkeit des Maskenspiels das drückende Bewußtsein eines nahenden Unheils, das mir das Herz schwer machte!
Am Abend vor der Feier hatte eine der Institutslehrerinnen eine Frage betreffs des »Frostkönigs« an mich gerichtet, und ich hatte ihr geantwortet, daß Fräulein Sullivan mir von Jack Frost und seinen Wunderwerken erzählt habe. Irgend eine Aeußerung von mir schien sie als Geständnis aufzufassen, daß ich mich an Fräulein Canbys Märchen von den »Frostelfen« erinnere, und sie teilte Herrn Anagnos dies mit, obgleich ich ihr ganz entschieden erklärte, sie habe mich mißverstanden.
Herr Anagnos, der mich zärtlich liebte, blieb den Beteuerungen meiner Liebe und Unschuld gegenüber taub, da er getäuscht worden zu sein glaubte. Er war der Meinung[S. 66] oder hegte wenigstens den Verdacht, daß Fräulein Sullivan und ich uns bewußt die Gedanken einer anderen angeeignet und sie ihm in betrügerischer Absicht zugeschickt hätten, um Bewunderung bei ihm zu finden. Ich wurde vor ein Gericht gestellt, das aus den Lehrern und Beamten des Institute bestand, und Fräulein Sullivan wurde aufgefordert, mich allein zu lassen. Dann wurde ich einem förmlichen Kreuzverhör unterworfen, das mich auf die Vermutung brachte, meine Richter seien fest entschlossen, mich zu dem Geständnis zu zwingen, ich erinnerte mich, daß mir das Märchen »Die Frostelfen« vorgelesen worden sei. Ich fühlte aus jeder Frage den Zweifel und den Verdacht heraus, den sie in ihrem Innern hegten, und ebenso empfand ich es, daß ein geliebter Freund uns vorwurfsvoll betrachtete, obgleich ich dies alles nicht in Worte fassen konnte. Alles Blut drängte sich mir nach meinem wild pochenden Herzen, und ich konnte kaum sprechen außer in abgerissenen Worten und Silben. Selbst das Bewußtsein, das Ganze sei nur ein furchtbares Mißverständnis, konnte meinen Schmerz nicht lindern, und als ich schließlich das Zimmer verlassen durfte, war ich noch ganz außer mir und achtete weder auf die Liebkosungen meiner Lehrerin noch auf die zärtlichen Worte meiner Freunde, die mir sagten, ich sei ein braves Mädchen, auf das man stolz sein könne.
Als ich diese Nacht in meinem Bette lag, weinte ich so herzbrechend, wie hoffentlich wenige Kinder geweint haben. Mir war so eisig kalt, daß ich glaubte, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben, und dieser Gedanke tröstete mich. Ich glaube, wenn dieser Schlag mich einige Jahre später getroffen hätte, so würde mein Geist unrettbar zusammengebrochen sein. Aber der Engel des Vergessens hat viel von dem Elend und der Bitternis dieser traurigen Tage aufgesammelt und mit sich fortgenommen.
Fräulein Sullivan hatte nie von den »Frostelfen« oder dem[S. 67] Buch, in dem das Märchen erschienen war, gehört. Mit Dr. Alexander Grahams Hilfe untersuchte sie die Sache gründlich, und schließlich stellte es sich heraus, daß Frau Sophia C. Hopkins im Jahre 1888 ein Exemplar von Fräulein Canbys »Birdie und seine Freunde« besaß, als wir den Sommer mit ihr in Brewster zubrachten. Frau Hopkins konnte das Buch nicht mehr finden, sie hat mir aber erzählt, daß sie, während Fräulein Sullivan auf einer Ferienreise begriffen war, versucht habe, mir durch Vorlesen aus verschiedenen Büchern die Zeit zu vertreiben, und obgleich sie sich nicht deutlicher als ich erinnern konnte, die »Frostelfen« gelesen zu haben, war sie doch ganz sicher, daß sich ein Exemplar von »Birdie und seine Freunde« unter diesen Büchern befunden habe. Sie erklärte sich das Fehlen des Buches dadurch, daß sie vor kurzem ihr Haus verkauft und dabei verschiedene Jugendschriften, sowie alte Schulbücher und Märchen verschenkt hatte, und daß sich die betreffende Erzählung wahrscheinlich unter diesen befunden hätte.
Erzählungen hatten damals wenig oder gar kein Interesse für mich; aber das bloße Buchstabieren der seltsamen Worte genügte, einem kleinen Mädchen die Zeit zu vertreiben, das selber beinahe nichts zu seiner Unterhaltung beitragen konnte, und obgleich ich mich keines einzelnen Umstandes bei dieser Lektüre entsinne, kann ich doch nicht umhin zu glauben, daß ich mir die größte Mühe gegeben habe, die Worte zu behalten, in der Absicht, sie meiner Lehrerin nach ihrer Rückkehr zu wiederholen. Das eine ist unzweifelhaft, die Sprache war mir unauslöschlich eingeprägt, obgleich dies lange Zeit niemand wußte, am wenigsten ich selbst.
Als dann Fräulein Sullivan zurückkam, sprach ich mit ihr nicht über die »Frostelfen«, wahrscheinlich, weil sie sofort begann, mir den »Kleinen Lord Fauntleroy«[7] vorzulesen, der mich[S. 68] so begeisterte, daß ich an nichts anderes denken konnte. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß mir Fräulein Canbys Märchen früher vorgelesen worden war und daß es sich mir, lange nachdem ich es vergessen hatte, mit solcher Ursprünglichkeit wieder aufdrängte, daß ich nie auf den Verdacht geriet, es könne das Geisteskind einer anderen sein.
Mitten in meinem Schmerze erhielt ich viele Beweise der Liebe und Teilnahme. Alle Freunde, die ich am meisten liebte, sind mir damals bis auf einen treu geblieben. Fräulein Canby selbst schrieb mir freundlich: Eines Tages werden Sie ein Märchen eigener Erfindung schreiben, das viele aufrichten und erheben wird. — Aber diese Prophezeiung ist nie in Erfüllung gegangen. Ich habe nie mehr zum Zwecke der bloßen Unterhaltung mit Worten gespielt. In der Tat bin ich seitdem stets von dem Gedanken gequält worden, daß das, was ich schreibe, nicht mein geistiges Eigentum ist. Lange Zeit wurde ich, wenn ich einen Brief schrieb, selbst an meine Mutter, von einem plötzlichen Angstgefühl befallen und ich zergliederte meine Sätze auf das genaueste, um sicher zu sein, sie nicht in einem Buche gelesen zu haben. Ohne den unausgesetzten Zuspruch Fräulein Sullivans würde ich, wie ich glaube, jeden weiteren Versuch, mich schriftstellerisch zu betätigen, aufgegeben haben.
Ich habe seitdem die »Frostelfen« gelesen und ebenso Briefe von mir, in denen ich noch andere Gedanken Fräulein Canbys benutzt habe. In einem von ihnen, einem Briefe an Herrn Anagnos vom 29. September 1891, finde ich Worte und ganze Sätze, die deutlich an jenes Buch erinnern. Um dieselbe Zeit schrieb ich den »Frostkönig«, und dieser Brief enthält gleich vielen anderen eine Anzahl Redewendungen, die beweisen, daß mein Geist ganz mit dem Märchen gesättigt war. Ich lege meiner Lehrerin folgende Worte über das goldene Herbstlaub in den Mund: Ja, es ist schön genug, um uns über die Flucht[S. 69] des Sommers zu trösten — ein Gedanke, der unmittelbar aus Fräulein Canbys Geschichte stammt.
Diese Gewohnheit, mir zu assimilieren, was mir gefiel, und es dann als mein Eigentum auszugeben, tritt vielfach in meinem frühesten Briefwechsel und meinen ersten schriftstellerischen Versuchen zutage. In einem Aufsatze, den ich über die alten Städte Griechenlands und Italiens schrieb, entnahm ich meine glühenden Schilderungen Quellen, die ich jetzt vergessen habe. Ich kannte Herrn Anagnos’ Vorliebe für das Altertum und seine begeisterte Verehrung für Italien und Griechenland. Ich brachte daher aus allen Büchern, die ich las, die Brocken von Poesie oder Geschichte an, die ihm, wie ich glaubte, Vergnügen bereiten würden. Herr Anagnos hatte bei der Besprechung meines Aufsatzes gesagt: Diese Gedanken sind in ihrem Kerne poetisch. Aber ich verstehe nicht, wie er je hat der Meinung sein können, ein blindes und taubstummes Kind von elf Jahren habe diese selbständig gefunden. Doch kann ich nicht glauben, daß, weil diese Gedanken nicht meinem eigenen Kopfe entsprungen sind, mein kleiner Aufsatz aus diesem Grunde alles Interesses bar sein sollte. Er beweist mir, daß ich imstande war, schöne, poetische Gedanken in klaren, lebendigen Worten wiederzugeben.
Jene Jugendaufsätze stellten eine geistige Gymnastik dar. Ich lernte, wie es alle jungen, unerfahrenen Leute tun, durch Assimilation und Nachahmung, Gedanken in Worte zu kleiden. Alles, was ich in einem Buche fand und was mir gefiel, bewahrte ich, bewußt oder unbewußt, in meinem Gedächtnisse auf und paßte es meinen Zwecken an. „Wenn man zu schreiben beginnt,“ sagt Stevenson, „versucht man unwillkürlich nachzuahmen, was einem am bewundernswertesten erscheint, und wechselt auffallend rasch mit den Gegenständen seiner Bewunderung. Selbst große Männer haben erst nach jahrelanger[S. 70] Uebung gelernt, die Legion von Worten, die sich auf allen möglichen Nebenwegen ihrem Geiste aufdrängten, in gehörige Ordnung zu bringen.“
Ich fürchte, ich stehe noch jetzt mitten in dieser Entwickelung drin. Es ist klar, daß ich nicht immer meine eigenen Gedanken von denen, die ich irgendwo gelesen habe, sondern kann, eben weil das, was ich lese, das eigentliche Wesen und Gefüge meines Geistes ausmacht. Infolgedessen fördere ich beinahe in allem, was ich schreibe, etwas zutage, was große Aehnlichkeit mit der ungeschickten Stoppelei aufweist, die ich zustande brachte, als ich anfing, nähen zu lernen. Dieses Stoppelwerk bestand aus allerlei Fetzen und Lappen — hübschen Stückchen Seide und Sammet, aber die häßlichen Flicken, die durchaus keinen gefälligen Eindruck machten, herrschten stets vor. Ebenso bestehen meine schriftstellerischen Leistungen aus unverarbeiteten eigenen Begriffen, untermischt mit den klareren Gedanken und gereifteren Ansichten der Autoren, deren Bücher ich gelesen habe. Die Hauptschwierigkeit beim Schreiben scheint mir darin zu bestehen, daß die Sprache des hochgebildeten Geistes unsere verworrenen Ideen — halb Empfindungen, halb Gedanken — zu einer Zeit ausdrücken soll, da wir wenig mehr sind als Bündel instinktiver Antriebe. Die ersten schriftstellerischen Versuche haben große Aehnlichkeit mit einem Zusammenlegespiel. Wir sehen im Geiste ein Muster vor uns, das wir mit Worten darzustellen wünschen, aber die Worte passen nicht in die Zwischenräume, und wenn sie es tun, stimmen sie nicht mit der Zeichnung überein. Aber wir fahren in unseren Versuchen fort, weil wir sehen, daß andere Erfolg gehabt haben, und wir nicht gewillt sind, unseren Mangel an Begabung zuzugeben.
„Es gibt kein anderes Mittel, originell zu werden, als so geboren zu sein,“ sagt Stevenson, und obgleich ich gar nicht originell sein mag, so hoffe ich doch, dereinst meinen erkünstel[S. 71]ten, unnatürlichen schriftstellerischen Versuchen zu entwachsen. Dann werden vielleicht meine eigenen Gedanken und Erfahrungen zutage treten. Inzwischen vertraue ich, hoffe ich, arbeite ich unermüdet weiter und suche es zu verhindern, daß die bittere Erinnerung an den »Frostkönig« etwa meine Kreise störe.
So hat diese traurige Erfahrung für mich auch etwas Gutes im Gefolge gehabt: sie ist die Veranlassung gewesen, daß ich über einige Probleme der Schriftstellerei nachgedacht habe. Ich bedaure nur das eine, daß der Vorfall den Verlust eines meiner teuersten Freunde, des Herrn Anagnos, zur Folge hatte.
Nach der Veröffentlichung der »Geschichte meines Lebens« im Ladies’ Home Journal hat Herr Anagnos in einem Briefe an Herrn Macy geäußert, er habe mich zu der Zeit, als sich der Vorfall mit dem »Frostkönig« abspielte, für unschuldig gehalten. Er erklärt, das Gericht, vor das ich gestellt wurde, habe aus acht Mitgliedern bestanden: vier blinden und vier sehenden. Vier von diesen, behauptet er, waren der Ansicht, Fräulein Canbys Erzählung sei mir vorgelesen worden, während die anderen vier die entgegengesetzte Meinung vertraten. Herr Anagnos erklärt, seine Stimme zu meinen Gunsten abgegeben zu haben.
Wie aber auch die Sache gewesen sein und in welchem Sinne er seine Stimme abgegeben haben mag, das eine ist sicher: als ich in das Zimmer trat, in dem mich Herr Anagnos so oft auf seinen Knien gehalten und seine vielfachen Sorgen über meiner Lustigkeit vergessen hatte, und hier Personen antraf, die Zweifel in mich zu setzen schienen, fühlte ich, daß etwas Feindseliges und Drohendes in der Atmosphäre lag, und die nachfolgenden Ereignisse haben diesen Eindruck bestätigt. Zwei Jahre lang scheint Herr Anagnos an der Ansicht festgehalten zu haben, daß Fräulein Sullivan und ich[S. 72] unschuldig seien. Dann änderte er offenbar seine günstige Meinung, aus welchem Grunde, weiß ich nicht. Auch die Einzelheiten der Untersuchung kenne ich nicht, und selbst die Namen der Mitglieder des »Gerichtshofes«, die überdies während der ganzen Verhandlung kein Wort zu mir sprachen, sind mir unbekannt geblieben. Ich war zu aufgeregt, um auf irgend etwas zu achten, zu eingeschüchtert, um Fragen zu stellen. In der Tat kann ich mich kaum entsinnen, was ich sagte, oder was zu mir gesagt wurde.
Ich habe den Vorfall mit dem »Frostkönig« so ausführlich dargestellt, da er für mein Leben und meine Erziehung von Wichtigkeit war, und um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, habe ich alle Tatsachen wiedergegeben, wie sie mir erscheinen, ohne die Absicht zu hegen, mich zu verteidigen oder irgend jemand anzuklagen.
[6] Vergl. S. 323 ff.
[7] Vergl. S. 107 ff., 154.
Erster Entwurf der »Lebensgeschichte«. — Zweifel und Unruhe. — Reise nach Washington zur Einführung des Präsidenten Cleveland, nach dem Niagarafall und der Weltausstellung in Chicago.
Den auf den Zwischenfall mit dem »Frostkönig« folgenden Sommer und Winter verlebte ich bei den Meinigen in Alabama. Ich erinnere mich mit Entzücken an jene Heimreise. Alles sproßte und blühte. Ich war glücklich. Der »Frostkönig« war vergessen.
Als der Boden sich mit den goldenen und purpurnen Blättern des Herbstes bedeckte und die würzig duftenden Trauben, die die Laube am anderen Ende des Gartens bedeckten, unter dem Einfluß der Sonnenwärme eine goldig[S. 73]braune Färbung annahmen, begann ich eine Skizze über mein Leben abzufassen — ein Jahr, nachdem ich den »Frostkönig« geschrieben hatte.
Ich war noch über die Maßen peinlich in betreff jeder Zeile, die ich schrieb. Der Gedanke, daß meine Arbeit vielleicht nicht mein ausschließliches geistiges Eigentum sein könne, quälte mich unausgesetzt. Niemand wußte etwas von diesem Zagen als meine Lehrerin. Eine seltsame Empfindlichkeit hielt mich davon ab, den »Frostkönig« zu erwähnen, und oft wenn mir plötzlich im Laufe der Unterhaltung ein Gedanke kam, buchstabierte ich ihr leise zu: Ich weiß nicht genau, ob er mir gehört. Bisweilen sagte ich mir, während ich gerade einen Satz niederschrieb: Wie, wenn es sich herausstellen sollte, daß dieses alles schon vor langer Zeit von einem anderen gesagt worden ist? Eine unheimliche Furcht lähmte dann meine Hand, sodaß ich an diesem Tage nichts mehr schreiben konnte. Und selbst jetzt fühle ich noch mitunter dasselbe Unbehagen, dieselbe Unruhe. Fräulein Sullivan tröstete und unterstützte mich auf jede erdenkbare Weise; aber die fürchterliche Erfahrung, die ich gemacht hatte, ließ einen bleibenden Eindruck in meinem Geiste zurück, dessen Bedeutung ich erst jetzt zu verstehen beginne. In der Absicht, mein Selbstvertrauen wiederherzustellen, überredete mich meine Lehrerin, einen kurzen Abriß meines Lebens für den Youth’s Companion zu schreiben. Ich war damals zwölf Jahre alt. Wenn ich auf das Widerstreben zurückblicke, mit dem ich diese kleine Arbeit niederschrieb, so kommt es mir vor, als müsse ich eine prophetische Vision von dem Segen gehabt haben, der aus diesem Unternehmen für mich entsprang, sonst würde ich es sicher nicht durchgeführt haben.
Ich schrieb zaghaft, furchtsam, aber entschlossen, von meiner Lehrerin gedrängt, die wohl einsah, daß, wenn ich die Arbeit durchführte, ich mein Selbstvertrauen wiedergewinnen und einen[S. 74] Begriff von meinen Fähigkeiten bekommen würde. Bis zu der Zeit der Episode mit dem »Frostkönig« hatte ich das unbewußte Leben eines kleinen Kindes geführt; nun wandten sich meine Gedanken nach innen, und ich nahm unsichtbare Dinge wahr. Allmählich erwachte ich aus dem Hindämmern, in das mich jene Erfahrung versetzt hatte, mit einem durch praktische Betätigung klarer gewordenen Geist und mit einer richtigeren Erkenntnis des Lebens.
Die Hauptereignisse des Jahres 1893 waren meine Reise nach Washington zur Einführung des Präsidenten Cleveland und meine Besuche des Niagarafalls und der Weltausstellung in Chicago. Unter diesen Umständen wurden meine Studien fortwährend unterbrochen und oft viele Wochen völlig vernachlässigt, sodaß es mir unmöglich ist, einen zusammenhängenden Bericht von ihnen zu geben.
Zum Niagarafalle reisten wir im März 1893. Es läßt sich schwer in Worte fassen, was ich empfand, als ich auf der die amerikanischen Fälle überragenden Platte stand und die Luft erzittern und die Erde erbeben fühlte.
Es erscheint vielen seltsam, daß ich einen Eindruck von den Wundern und Schönheiten des Niagarafalles bekommen haben soll. Sie fragen mich stets: Was ist diese Schönheit und diese Musik für Sie? Sie können die Wogen nicht an das Ufer rollen sehen oder ihr Tosen hören. Was für eine Bedeutung hat dies für Sie? — Es hat im allerbuchstäblichsten Sinne die höchste Bedeutung für mich. Ich kann seine Bedeutung ebensowenig ergründen oder definieren, wie ich die Liebe, die Religion oder die Güte ergründen oder definieren kann.[8]
Im Sommer 1893 besuchten wir in der Begleitung Dr. Alex[S. 75]ander Graham Bells die Weltausstellung. Ich erinnere mich noch heute mit durch keinen Mißklang gestörter Freude jener Tage, an denen tausend kindische Wünsche zu schöner Wirklichkeit erwachten. Jeden Tag machte ich eine Reise um die Welt und sah ungezählte Wunderwerke aus den entlegensten Teilen der Erde — staunenswerte Erfindungen, Schätze der Industrie, der Geschicklichkeit und aller Tätigkeiten des menschlichen Lebens tatsächlich unter meinen Fingerspitzen vorübergleiten.
Mit Vorliebe besuchte ich die Schaustellung an dem großen Mittelwege. Hier schienen sich mir die Märchen aus »Tausendund einer Nacht« verkörpert zu haben, so voll von Neuem und Interessantem war alles. Hier befand sich das Indien meiner Bücher in dem zierlichen Bazar mit seinen Shiwas und seinen Elefantengöttern wieder; hier war das Land der Pyramiden in ein Modell von Kairo mit seinen Moscheen und langen Prozessionen von Kamelen zusammengedrängt; dort drüben lagen die Lagunen von Venedig, auf denen wir jeden Abend in einer Gondel umherfuhren, wenn die Ausstellungsgebäude und die Springbrunnen illuminiert waren. Auch an Bord eines Wikingerschiffes ging ich, das in kurzer Entfernung von der kleinen Werft vor Anker lag. Ich war schon vorher, in Boston, auf einem Kriegsschiff gewesen, und es war mir interessant, auf diesem Wikingerschiff zu sehen, wie der Seemann einst alles in allem war — wie er dahinsegelte und Sturm und Windstille mit demselben unverzagten Herzen aufnahm, wie er Jagd auf jedermann machte, der seinen wilden Ruf: Wir sind von der See! beantwortete, wie er mit seinem Kopfe und seinen Sehnen arbeitete, selbstbewußt, selbstgenügsam, anstatt sich durch eine intelligenzlose Maschine in den Hintergrund drängen zu lassen, wie es heutzutage mit unseren Blaujacken der Fall ist. So ist es stets — „Der Mensch ist nur dem Menschen interessant.“
Nicht weit von diesem Schiffe entfernt lag ein Modell der »Santa Maria«, die ich ebenfalls untersuchte. Der Kapitän zeigte mir Kolumbus’ Kajüte und sein Pult mit einem Stundenglase darauf. Dieses kleine Instrument machte den tiefsten Eindruck auf mich, weil es mich daran erinnerte, wie schwer es dem kühnen Seefahrer ums Herz gewesen sein muß, als er den Sand Korn für Korn herunterrinnen sah, während die verzweifelte Schiffsbesatzung einen Anschlag gegen sein Leben plante.
Der Präsident der Weltausstellung, Herr Higinbotham, gestattete mir gütigst, die ausgestellten Gegenstände zu berühren, und mit ebenso unersättlicher Gier, wie sie Pizarro empfunden haben muß, als er von den Schätzen Perus Besitz ergriff, nahm ich die Herrlichkeiten der Ausstellung in meine Hand. Diese weiße Stadt des Westens bildete eine Art von „fühlbarem“ Kaleidoskop. Alles fesselte mich, namentlich aber die französischen Bronzen. Sie waren so lebensvoll, daß ich glaubte, es seien himmlische Visionen, die der Künstler aufgefangen und in irdische Formen gebannt habe.[9]
Auf der Ausstellung des Kaplandes lernte ich viel über die Art und Weise, in der nach Diamanten gegraben wird. Wo es mir irgend möglich war, berührte ich die Maschine, während sie in Gang war, um eine klarere Vorstellung von dem Abwägen, Schneiden und Schleifen der Steine zu erhalten. Ich suchte in der Wäscherei nach einem Diamanten, und fand ihn auch wirklich — den einzigen echten Diamanten, heißt es, der jemals in den Vereinigten Staaten gefunden worden ist.
Dr. Bell begleitete uns überallhin und beschrieb mir in seiner anziehenden Weise die Gegenstände, die das größte Interesse darboten. In der elektrischen Ausstellung untersuchten[S. 77] wir die Telephone, Autophone, Phonographen und andere Erfindungen, und er erklärte mir, wie es möglich sei, eine Botschaft auf Drähten in die weite Welt zu senden, die des Raumes spottet und der Zeit vorauseilt, und, wie es Prometheus tat, Feuer vom Himmel herabzuholen. Ebenso besuchten wir die anthropologische Abteilung, wo mich am meisten die mexikanischen Altertümer interessierten, die rohen Steinarbeiten, die so oft die einzige Erinnerung an ein Zeitalter bilden, die einfachen Denkmäler ungebildeter Naturkinder (wie ich glaubte, als ich sie mit meinen Fingern betastete), die bestimmt scheinen, die dereinst in Staub zerfallenden Schriften von Königen und Weisen zu überdauern. Ebenso fesselten die ägyptischen Mumien meine Aufmerksamkeit, vor deren Berührung ich jedoch zurückschreckte. Von diesen Altertümern habe ich mehr über den Fortschritt der Menschheit gelernt, als ich bis dahin je gehört oder gelesen hatte.
Alle diese Erfahrungen bereicherten meinen Wortschatz mit einer großen Menge neuer Ausdrücke, und in den drei Wochen, die ich dem Besuche der Weltausstellung widmete, machte ich einen gewaltigen Fortschritt von meinem kindlichen Interesse an Märchen und Spielzeug hin zu der richtigen Wertschätzung der realen und ernst arbeitenden Welt.
[8] Vergl. S. 167 ff.
Geschichtsstudium. — Studium der französischen Sprache; Lafontaine, Molière, Racine. — Vervollkommnung der Lautsprache. — Latein. — Lektüre von Cäsars »Gallischem Krieg«.
Vor dem Oktober 1893 betrieb ich meine Studien in verschiedenen Fächern mehr oder weniger sprunghaft. Ich las Werke über griechische, römische und amerikanische Geschichte. Ich besaß eine französische Grammatik in Hochdruck, und da ich[S. 78] schon etwas Französisch verstand, machte ich oft kurze Uebersetzungen im Kopfe, in denen ich die neuen Wörter anwandte, wie sie mir gerade in den Wurf kamen, ohne mich im geringsten um Regeln und sonstige Vorschriften zu kümmern. Ich suchte sogar die französische Aussprache ohne Hilfe zu erlernen, da ich alle Buchstaben und Laute in dem Buche erklärt fand. Natürlich war dies beinahe verlorene Liebesmühe; aber ich hatte dann wenigstens etwas an regnerischen Tagen zu tun, und ich erwarb mir genügende Kenntnisse im Französischen, um mit Genuß Lafontaines »Fabeln«, Molières »Le médecin malgré lui« und Stellen aus Racines »Athalie« mit Genuß lesen zu können.
Beträchtliche Zeit widmete ich auch der Vervollkommnung meiner Sprache. Ich las Fräulein Sullivan laut vor und rezitierte auswendig gelernte Stellen aus meinen Lieblingsdichtern, wobei sie meine Aussprache verbesserte und auf richtige Betonung und Modulation achtete. Doch erst im Oktober, als ich mich von den Strapazen und den Aufregungen meines Besuches der Weltausstellung erholt hatte, begann ich zu bestimmten Stunden Unterricht in einzelnen Fächern zu nehmen.
Fräulein Sullivan und ich waren zu jener Zeit in Hulton in Pennsylvanien, auf Besuch bei Herrn William Wade und seiner Familie. Ein in der Nähe wohnender Herr Irons war ein tüchtiger Lateiner, und es wurde verabredet, daß ich bei ihm Unterricht haben sollte. Ich erinnere mich seiner als eines Mannes von seltener Milde und weitem Blicke. Hauptsächlich unterrichtete er mich in lateinischer Grammatik; oft half er mir aber auch beim Rechnen, das ich ebenso mühsam wie langweilig fand. Auch Tennysons »In Memoriam« las Herr Irons mit mir. Ich hatte schon viele Bücher gelesen, aber niemals von einem kritischen Standpunkte aus. Jetzt lernte ich zum ersten Male einen Schriftsteller wirklich verstehen, ich[S. 79] lernte seinen Stil kennen, wie man den Handschlag eines Freundes kennt.
Anfangs ging ich mit ziemlichem Widerstreben an das Studium der lateinischen Grammatik. Es erschien mir widersinnig, mit der Zergliederung jedes vorkommenden Wortes Zeit zu vergeuden — Nomen, Genetiv, Singular, Femininum —, wenn seine Bedeutung klar auf der Hand lag. Nach meiner Auffassung war dies genau so, als hätte ich mein Kätzchen folgendermaßen beschreiben müssen, um es zu erkennen: Ordnung: Wirbeltiere; Abteilung: Vierfüßer; Klasse: Säugetiere; Gattung: Katzentiere; Art: Katze; Individuum: Tabby. Als ich aber tiefer in den Gegenstand eindrang, bekam ich mehr Interesse daran, und die Schönheit der Sprache entzückte mich. Ich machte mir oft das Vergnügen, Stellen in lateinischen Werken zu lesen, indem ich mir die Wörter heraussuchte, die ich verstand, und mich bemühte, den Sinn herauszubringen. Ich habe nie aufgehört, mich an diesem Zeitvertreib zu ergötzen.
Es gibt meiner Meinung nach nichts Schöneres als die verschwimmenden, fließenden Bilder und Gedanken — Vorstellungen, die gleich Wolken am Himmel, in phantastischer Gestalt und Färbung am Geiste vorüberschweben, vermittelt durch eine Sprache, in die man soeben begonnen hat einzudringen. Fräulein Sullivan saß bei den Lektionen neben mir, buchstabierte mir in die Hand, was Herr Irons sagte, und achtete auf die Worte, die mir neu waren. Ich begann gerade Caesars »Gallischen Krieg« zu lesen, als ich nach Alabama zurückkehrte.
Verhandlungen der Amerikanischen Vereinigung zur Förderung der Taubstummen im Sprechen in Chautauqua (Sommer 1894). — Besuch der Wright-Humason-Schule in New York. — Arithmetik, physikalische Geographie, Französisch, Deutsch. — Lektüre von »Wilhelm Tell« und »Le médecin malgré lui«. — Zentralpark in New York. — Ausflüge in die Umgebung der Stadt.
Im Sommer 1894 wohnte ich den in Chautauqua stattfindenden Verhandlungen der Amerikanischen Vereinigung zur Förderung der Unterweisung der Taubstummen im Sprechen bei. Es war vereinbart worden, daß ich die Wright-Humason-Schule für Taubstumme in New York besuchen sollte. Diese Schule war namentlich zum Zwecke meiner gründlichen Ausbildung im Sprechen und Ablesen von den Lippen gewählt worden. Außer diesen beiden Fertigkeiten studierte ich in den zwei Jahren, in denen ich die Schule besuchte, Arithmetik, physikalische Geographie, Französisch und Deutsch.
Fräulein Reamy, meine deutsche Lehrerin, verstand das Fingeralphabet, und nachdem ich mir einen kleinen Wortschatz angeeignet hatte, sprachen wir deutsch miteinander, so oft sich eine Gelegenheit dazu bot, und in wenigen Monaten konnte ich beinahe alles verstehen, was sie sagte. Vor Schluß des ersten Jahres las ich »Wilhelm Tell« mit dem größten Genusse. In der Tat glaube ich, daß ich im Deutschen größere Fortschritte gemacht habe als sonst in einem Fache. Das Französische fand ich viel schwieriger. Ich lernte es bei Frau Olivier, einer Französin, die das Fingeralphabet nicht kannte und die daher ihren Unterricht mündlich erteilen mußte. Ich konnte noch nicht geläufig von ihren Lippen ablesen, und meine Fortschritte waren infolgedessen bedeutend langsamer als im Deutschen. Ich versuchte jedoch abermals Molière: Le médecin malgré lui zu lesen. Das Stück war sehr lustig; es gefiel mir aber nicht annähernd so gut wie »Wilhelm Tell«.
Meine Fortschritte im Ablesen von den Lippen und im Sprechen waren nicht so groß, wie meine Lehrerin und ich gehofft und erwartet hatten. Mein Ehrgeiz ging dahin, so zu sprechen, wie andere Menschen, und meine Lehrer hielten dies für durchführbar; allein trotz aller angestrengten und gewissenhaften Arbeit erreichten wir unser Ziel nicht ganz. Ich glaube, wir hatten es zu hoch gesteckt, und eine Enttäuschung war daher unvermeidlich. Die Arithmetik betrachtete ich noch als ein System von Fallgruben. Ich hielt mich auf der gefährlichen Grenze des Erratens und vermied das breite Tal des Denkens, was meinen Lehrern und mir selbst unaufhörlichen Verdruß bereitete. Wenn ich mich nicht aufs Raten legte, so machte ich Sprünge in meinen Schlußfolgerungen, und dieser Fehler in Verbindung mit meinen körperlichen Gebrechen erhöhte die Schwierigkeiten mehr, als es notwendig und in der Ordnung gewesen wäre.
Obgleich aber diese Enttäuschungen mich zuweilen recht niederdrückten, setzte ich doch meine anderen Studien mit unermüdlicher Ausdauer fort, namentlich das Studium der physikalischen Geographie. Es gewährte mir hohe Freude, in die Geheimnisse der Natur einzudringen, zu lernen, wie — um in der bilderreichen Sprache des Alten Testaments zu reden — die Winde von den vier Ecken des Himmels her blasen, wie die Dünste von den Enden der Erde aufsteigen, wie die Flußläufe zwischen den Felsen ausgeschnitten sind und Berge niederstürzen, und auf welche Weise der Mensch viele Kräfte überwinden kann, die stärker sind als er selbst. Ich verlebte zwei glückliche Jahre in New York, und noch jetzt blicke ich mit aufrichtiger Genugtuung auf sie zurück.
Namentlich erinnere ich mich der Spaziergänge, die wir alle zusammen jeden Tag in den Zentralpark unternahmen, den einzigen Teil der Stadt, in dem ich mich heimisch fühlte. Mein Ent[S. 82]zücken über diesen großen Park blieb immer das gleiche. Ich hätte gewünscht, ihn jedesmal schildern zu können, wenn ich ihn betrat, denn er war in jeder Hinsicht schön, und seine Reize waren so mannigfaltiger Art, daß er an jedem Tage in den neun Monaten, die ich in New York verlebte, neue Schönheiten enthüllte.
Im Frühjahr unternahmen wir Ausflüge nach verschiedenen interessanten Orten. Wir segelten auf dem Hudson und wanderten an seinen grünen Ufern entlang, die Bryant mit Vorliebe in seinen Liedern verherrlicht. Unter den Orten, die wir besuchten, befand sich auch Tarrytown, die Heimat von Washington Irving, wo ich durch die »Schlafhöhle« wanderte.
Die Lehrer an der Wright-Humason-Schule waren stets darauf bedacht, ihren Zöglingen alle Annehmlichkeiten zu verschaffen, deren sich diejenigen, die hören können, erfreuen; die wenigen Anlagen und passiven Erinnerungen, die in ihnen schlummern, soviel wie möglich zu wecken und sie aus den beengenden Verhältnissen, in die sie die Ungunst des Schicksals versetzt hat, zu befreien.
Bevor ich New York verließ, wurden diese heiteren Tage durch den größten Schmerz verdunkelt, den ich je seit dem Tode meines Vaters erlebt habe. Im Februar 1896 starb Herr John Spaulding in Boston. Nur diejenigen, die ihm am nächsten standen, können ermessen, was seine Freundschaft für mich bedeutete. Er, der jedermann in zartfühlender, unaufdringlicher Weise beglückte, war gegen Fräulein Sullivan und mich äußerst gütig und liebevoll gewesen. Solange wir seine Augen auf uns gerichtet sahen und wußten, daß er den regsten Anteil an dem Gelingen unseres Werkes nehme, das mit so vielen Schwierigkeiten umgeben war, so lange konnten wir nicht verzagen. Sein Abscheiden ließ eine Lücke in unserem Dasein zurück, die nie ausgefüllt worden ist.
Besuch des Mädchengymnasiums in Cambridge zum Zweck der Vorbereitung für das Radcliffe-College. — Wunsch, eine Universität zu besuchen. — Schwierigkeit, dem Unterricht zu folgen. — Befriedigende Fortschritte, namentlich im Deutschen: »Lied von der Glocke«, »Taucher«, »Dichtung und Wahrheit« u. s. w. — Shakespeare, Burke, Macaulay. — Zusammensein mit sehenden und hörenden Altersgenossinnen. — Mildreds Aufnahme in die Schule. — Prüfungen.
Im Oktober 1896 trat ich in das Mädchengymnasium in Cambridge ein, um mich für das Radcliffe College vorbereiten zu lassen.
Als ich noch ein kleines Mädchen war, besuchte ich einmal Wellesley und überraschte meine Freundinnen mit der Ankündigung: Später gehe ich auf die Universität, aber auf die Harvard-Universität. — Auf die Frage, warum ich nicht nach Wellesley gehen wolle, antwortete ich, dort studierten nur Mädchen. Der Gedanke, die Universität zu besuchen, schlug in meinem Herzen Wurzel und wurde zum ernstlichen Verlangen, mit sehenden und hörenden Mädchen in den Wettbewerb um einen akademischen Grad einzutreten trotz des entschiedenen Widerspruchs von seiten vieler aufrichtiger und verständiger Freunde. Als ich New York verließ, war der Gedanke zur feststehenden Absicht geworden, und es wurde in der Familie beschlossen, daß ich nach Cambridge gehen sollte. Dies war ein Schritt, der mich der Harvard-Universität und der Erfüllung meiner kindlichen Erklärung nahebringen sollte.
Auf dem Gymnasium in Cambridge sollte Fräulein Sullivan die Unterrichtsstunden mit mir besuchen, um mir die Vorträge durch das Fingeralphabet zu vermitteln.
Natürlich hatten meine Lehrer nur Erfahrung im Unterrichte normaler Zöglinge, und mein einziges Verständigungsmittel bildete das Ablesen von den Lippen. Meine Studien erstreckten sich im ersten Jahre auf englische Geschichte, englische[S. 84] Literatur, Deutsch, Latein, Arithmetik, lateinischen Aufsatz und gelegentliche Übersetzungen. Bis dahin hatte ich nie einen wissenschaftlichen Kursus in der Absicht, mich auf die Universität vorzubereiten, durchgemacht; aber ich war im Englischen durch Fräulein Sullivan gut eingeübt worden, und meine Lehrer sahen bald, daß ich in diesem Fache außer einem kritischen Studium der vom College vorgeschriebenen Bücher keiner weiteren Unterweisung bedürfe. Außerdem hatte ich gute Fortschritte im Französischen gemacht und sechs Monate lateinischen Unterricht erhalten; das Fach aber, in dem ich am bewandertsten war, war das Deutsche.
Trotz dieser Vorteile gab es doch andererseits ernstliche Hindernisse, die meine Fortschritte verlangsamten. Fräulein Sullivan konnte mir nicht alles, was die Bücher verlangten, in die Hand buchstabieren, und es dauerte sehr lange, bis meine Lehrbücher in Hochdruck für mich hergestellt waren, obgleich meine Freunde in London und Philadelphia es sich angelegen sein ließen, die Arbeit zu beschleunigen. Eine Zeitlang mußte ich in der Tat meine lateinischen Aufgaben in Brailleschrift übertragen, wenn ich mit den übrigen Mädchen mitkommen wollte. Meine Lehrer wurden mit meiner unvollkommenen Sprache bald genügend vertraut, um meine Fragen rasch zu beantworten und Fehler zu verbessern. In den Stunden konnte ich keine Aufzeichnungen machen, noch mich an den schriftlichen Aufgaben beteiligen; aber ich schrieb alle meine Aufsätze und Übersetzungen zu Hause mit der Schreibmaschine nieder.
Jeden Tag begleitete mich Fräulein Sullivan in die Klassenräume und buchstabierte mir mit nimmermüder Geduld alles, was die Lehrer sagten, in die Hand. In den Arbeitsstunden hatte sie auf alle Wörter zu achten, die mir noch unbekannt waren, und Notizen und Bücher, die ich nicht in Hochdruck besaß, zu lesen und immer wieder zu lesen. Das Lästige einer[S. 85] solchen Arbeit ist schwer zu begreifen. Frau Gröte, meine deutsche Lehrerin, und Herr Gilman, der Direktor der Anstalt, waren die einzigen Lehrer am Gymnasium, die das Fingeralphabet erlernt hatten, um mich direkt unterrichten zu können. Niemand wußte besser als die liebe Frau Gröte selbst, wie langsam und mangelhaft ihr Buchstabieren war. Nichtsdestoweniger buchstabierte sie mir in ihrer Herzensgüte mühsam ihre Unterweisungen zweimal wöchentlich in besonderen Unterrichtsstunden her, um Fräulein Sullivan ein wenig Ruhe zu verschaffen. Obgleich aber jedermann freundlich und gefällig gegen uns war, so gab es doch nur eine Hand, die die Plage in Genuß verwandeln konnte.
In jenem Jahr absolvierte ich die Arithmetik, repetierte die lateinische Grammatik und las drei Kapitel aus Caesars »Gallischem Kriege«. Im Deutschen las ich, teils mit Hilfe meiner Finger, teils unter Fräulein Sullivans Beistande, Schillers »Lied von der Glocke« und den »Taucher«, Heines »Harzreise«, »Aus dem Staat Friedrichs des Großen« von Freytag, Riehls »Fluch der Schönheit«, Lessings »Minna von Barnhelm« und »Aus meinem Leben« von Goethe. Ich fand den größten Genuß an diesen deutschen Büchern, namentlich an Schillers wundervoller Lyrik, an der Erzählung von Friedrichs des Großen Heldentaten und an Goethes Selbstbiographie. Es tat mir leid, als ich mit der »Harzreise« fertig war, einem Werke, das soviel glücklichen Witz und soviel reizvolle Schilderungen von Rebenhügeln, murmelnden, im Sonnenschein dahineilenden Bächen und wilden Gebirgsgegenden, dem Schauplatz alter Sagen und Legenden, den grauen Zeugen einer lange dahingeschwundenen, phantasiebegabten Zeit enthält — Schilderungen, wie sie nur denen gelingen, für die die Natur „Gefühl, Liebe, Verlangen“ ist.
Herr Gilman unterrichtete mich einen Teil des Jahres in[S. 86] englischer Literatur. Wir lasen zusammen »Wie es euch gefällt«, Burkes »Rede über die Versöhnung mit Amerika« und Macaulays »Leben Samuel Johnsons«. Herrn Gilmans umfassende Ueberblicke über Geschichte und Literatur und seine trefflichen Erläuterungen machten mir die Arbeit leichter und angenehmer, als sie es gewesen sein würde, wenn ich nur mechanisch die Anmerkungen samt den im Klassenunterricht gegebenen notgedrungen kurzen Erläuterungen hätte nachlesen müssen.
Burkes Rede war interessanter als irgend ein anderes Buch politischen Inhaltes, das ich je gelesen hatte. Ich war selbst aufgeregt, als ich von den aufgeregten Zeiten las, und die Charaktere, die im Mittelpunkt des Kampfes der beiden Nationen standen, schienen sich leibhaftig vor meinen Augen zu bewegen. Ich wunderte mich immer mehr und mehr, je weiter Burkes meisterhafte Rede in den mächtigen Wogen seiner Beredsamkeit dahinrollte, wie es habe kommen können, daß König Georg und seine Minister für die warnende Prophezeiung unseres Sieges und ihrer Demütigung taube Ohren hatten. Dann wurde ich in die traurigen Einzelheiten über das Verhältnis eingeführt, in dem der große Staatsmann zu seiner Partei und der Volksvertretung stand. Ich mußte daran denken, wie seltsam es war, daß so kostbare Samenkörner von Wahrheit und Weisheit mitten unter das Unkraut von Unwissenheit und Korruption fielen.
In ganz anderer Art interessant war Macaulays »Leben Samuel Johnsons«. Mein Herz flog dem einsamen Manne zu, der das Brot der Trübsal in der Grubstraße aß und doch inmitten aller Mühseligkeit und der furchtbarsten körperlichen und seelischen Leiden doch stets für die Armen und Verlassenen ein freundliches Wort und eine offene Hand hatte. Ich freute mich über all seine Erfolge, ich schloß die Augen vor seinen Fehlern und wunderte mich, nicht daß er deren hatte, sondern[S. 87] daß seine Seele dabei nicht verkrüppelte. Aber trotz Macaulays glänzender Darstellung und seiner bewundernswürdigen Fertigkeit, Gemeinplätze frisch und bedeutungsvoll erscheinen zu lassen, ermüdete mich doch zuweilen seine kühle Verstandesmäßigkeit, und seine häufige Hintansetzung der Wahrheit zugunsten des Effekts erregte in mir ihm gegenüber sittliche Bedenken, die weit von dem Gefühl der Verehrung abstachen, mit der ich dem Demosthenes Großbritanniens gelauscht hatte.
Auf dem Gymnasium in Cambridge hatte ich mich zum ersten Male des Umgangs mit sehenden und hörenden Mädchen meines Alters zu erfreuen. Ich wohnte mit mehreren anderen zusammen in einem der hübschen mit dem Gymnasium in Verbindung stehenden Häuser, dem Hause, in dem Herr Howells wohnte, sodaß wir alle die Vorteile eines Familienlebens genossen. Ich beteiligte mich an vielen Spielen meiner Schulfreundinnen, selbst an Blindekuh und Schneeballwerfen; ich unternahm lange Spaziergänge mit ihnen; wir besprachen unsere Studien und lasen laut vor, was uns interessierte. Ein Teil der Mädchen erlernte das Fingeralphabet, sodaß Fräulein Sullivan mir ihre Worte nicht zu wiederholen brauchte.
Zu Weihnachten besuchten mich meine Mutter und meine kleine Schwester, um die Feiertage mit mir zu verleben, und Herr Gilman erbot sich in liebenswürdiger Weise, Mildred in seine Schule aufzunehmen. So blieb Mildred bei mir in Cambridge, und sechs glückliche Monate hindurch waren wir fast stets zusammen. Am glücklichsten macht mich die Erinnerung an die Stunden, in denen wir uns gegenseitig bei unseren Studien unterstützten und uns gemeinschaftlich von unserer Arbeit erholten.
Meine erste Prüfung für das Radcliffe College legte ich in der Zeit vom 29. Juni bis zum 3. Juli 1897 ab. Die Fächer, die ich angegeben hatte, waren Deutsch, Französisch, Latein,[S. 88] Englisch, sowie griechische und römische Geschichte, was neun Stunden zusammen ausmachte. Ich bestand in allen Fächern, — im Deutschen und Englischen „mit Auszeichnung“.
Vielleicht dürfte hier eine Schilderung der Art und Weise, in der ich geprüft wurde, am Orte sein. Für die Prüfung standen sechzehn Stunden zur Verfügung, zwölf für die Elementarkenntnisse und vier für die weiter fortgeschrittenen Studien. Die Prüfungsarbeiten wurden um neun Uhr auf der Harvard-Universität ausgegeben und durch einen besonderen Boten nach dem Radcliffe College gebracht. Die zu Prüfende war nicht ihrem Namen nach bekannt, sondern erhielt eine Nummer. Ich hatte Nr. 233, da ich aber eine Schreibmaschine benützen mußte, so konnte kein Zweifel über meine Person obwalten.
Man hielt es für rätlich, mich in einem besonderen Zimmer zu prüfen, weil das Geräusch der Schreibmaschine die anderen Mädchen gestört haben würde. Herr Gilman teilte mir alle Aufgaben vermittelst des Fingeralphabets mit. An die Türe wurde ein Mann gestellt, um jede Störung zu verhindern.
Am ersten Tage hatte ich Deutsch. Herr Gilman saß neben mir und las mir die Aufgabe erst im Zusammenhange vor, dann noch einmal Satz für Satz, wobei ich die Worte laut wiederholte, um ihm zu zeigen, daß ich ihn vollkommen verstanden hatte. Die Aufgaben waren schwer, und ich fühlte mich sehr ängstlich, als ich die Antworten auf der Schreibmaschine niederschrieb. Herr Gilman buchstabierte mir in die Hand, was ich geschrieben hatte, ich machte die mir notwendig scheinenden Verbesserungen, und er fügte sie ein. Ich möchte hier erwähnen, daß mir eine solche Erleichterung bei keiner meiner weiteren Prüfungen mehr gewährt wurde. Im Radcliffe College liest mir niemand meine Antworten vor, nachdem ich sie niedergeschrieben habe, und ich finde somit keine Gelegenheit, Fehler zu verbessern, wenn ich nicht fertig bin, bevor die Zeit um ist.[S. 89] In diesem Falle verbessere ich nur solche Versehen, auf die ich mich in den mir gestatteten paar Minuten entsinnen kann, und schreibe diese Verbesserungen am Schlusse meiner Arbeit nieder. Wenn ich die erste Prüfung besser bestanden habe als die zweite, so liegen dafür zwei Gründe vor. Bei der zweiten las mir niemand meine fertigen Arbeiten vor, und in der ersten gab ich Fächer an, mit denen ich schon vor meinem Besuche des Gymnasiums in Cambridge einigermaßen vertraut war; denn zu Anfang des Schuljahrs hatte ich Prüfungen im Englischen, in Geschichte, im Französischen und Deutschen nach Aufgaben abgelegt, die in früheren Jahren von der Harvard-Universität gestellt worden waren.
Herr Gilman sandte meine schriftlichen Arbeiten an die Prüfungskommission mit einer Bescheinigung, daß ich, Kandidatin Nr. 233, die Arbeiten angefertigt hätte.
Auch in den anderen Fächern ging die Prüfung in derselben Weise von statten. In keinem wurden mir so schwere Aufgaben gestellt wie im ersten. Ich erinnere mich, daß an dem Tage, an dem uns die lateinischen Aufgaben zugestellt wurden, Professor Schilling ins Zimmer trat und mir mitteilte, daß ich im Deutschen das Examen bestanden hätte. Dies gab mir neuen Mut, und ich ging mit leichtem Herzen und sicherer Hand an den übrigen Teil der hochnotpeinlichen Prüfung.
Beginn des zweiten Schuljahres. — Physik, Algebra, Geometrie, Astronomie, Griechisch, Latein. — Anfälle von Kleinmut. — Abgang vom Gymnasium und Weiterbildung durch Privatunterricht. — Rückkehr nach Boston (Oktober 1898). — Schlußprüfung für das Radcliffe College (Juni 1899).
Bei Beginn des zweiten Schuljahres war ich voller Hoffnung und Vertrauen auf einen endgültigen Erfolg. Aber in den ersten paar Wochen stellten sich mir unvorhergesehene Schwierigkeiten in den Weg. Herr Gilman hatte seine Einwilligung dazu gegeben, daß ich in diesem Jahre hauptsächlich Mathematik treiben sollte. Ich erhielt Unterricht in Physik, Algebra, Geometrie, Astronomie, Griechisch und Latein. Leider waren viele von den Büchern, deren ich bedurfte, zu Beginn des Unterrichts noch nicht im Hochdruck fertig, und es fehlten mir daher wichtige Hilfsmittel zu einigen meiner Studien. Die Klassen, die ich besuchte, waren sehr groß, und es war unmöglich für die Lehrer, mir besondere Unterweisung zu erteilen. Fräulein Sullivan mußte mir alle Bücher vorlesen und mitteilen, was die Lehrer vortrugen, und zum erstenmal in elf Jahren hatte es den Anschein, als sei ihre liebe Hand der Aufgabe nicht gewachsen.
Ich mußte in der Klasse beim algebraischen und geometrischen Unterricht nachschreiben und physikalische Aufgaben lösen, und dies war mir unmöglich, ehe wir eine Brailleschreibmaschine gekauft hatten, mittels deren ich die nötigen Aufzeichnungen machen konnte. Mit meinen Augen konnte ich den auf die Wandtafel gezeichneten geometrischen Figuren nicht folgen, und das einzige Mittel, mir eine klare Vorstellung von ihnen zu machen, bestand darin, daß ich sie auf einem Kissen mit Hilfe von geraden und gekrümmten Drähten mit spitzen, umgebogenen Enden nachmachte. Ich hatte, wie Herr Keith in[S. 91] seinem Berichte sagte, die Buchstabenbezeichnung der Figuren, die Voraussetzung und Schlußfolgerung, die Konstruktion und den Gang des Beweises im Kopfe zu behalten. Mit einem Worte, in jedem Fache zeigten sich Schwierigkeiten. Zeitweilig verlor ich allen Mut und verriet meine Empfindungen in einer Weise, deren ich mich noch jetzt schäme, wenn ich mich daran erinnere, namentlich da die Äußerungen meines Kleinmuts später zu Angriffen auf Fräulein Sullivan benutzt wurden, der einzigen von all den lieben Freundinnen in Cambridge, die imstande war, mir meine Pfade zu ebnen und meine Aufgabe zu erleichtern.
Allmählich begannen jedoch die Schwierigkeiten zu schwinden. Die in Hochdruck hergestellten Bücher und andere Hilfsmittel langten an, und ich machte mich mit neuem Mute an die Arbeit. Algebra und Geometrie waren die einzigen Fächer, die nach wie vor allen Anstrengungen meinerseits, in sie einzudringen, spotteten. Wie ich schon erwähnt habe, besaß ich keine besondere Beanlagung für Mathematik; die einzelnen Punkte wurden mir nicht so klargemacht, wie ich es gewünscht hätte. Die geometrischen Zeichnungen waren teilweise völlig unverständlich für mich, da ich selbst auf dem Kissen das Verhältnis der verschiedenen Teile zu einander nicht erkennen konnte. Eine klarere Vorstellung von der Mathematik erhielt ich erst, seit Herr Keith mich darin unterrichtete.
Ich war auf dem Weg, alle diese Schwierigkeiten zu überwinden, als ein Ereignis eintrat, das einen vollständigen Umschwung herbeiführte.
Unmittelbar bevor die Bücher eintrafen, hatte Herr Gilman Fräulein Sullivan Vorstellungen darüber gemacht, daß ich zu angestrengt arbeitete, und trotz meiner eifrigen Proteste setzte er die Zahl meiner Unterrichtsstunden herab. Anfangs waren wir dahin übereingekommen, daß ich nötigenfalls fünf Jahre auf[S. 92] meine Vorbereitung für die Universität verwenden sollte; am Ende des ersten Jahres aber überzeugte der Erfolg meiner Prüfungen Fräulein Sullivan, Fräulein Harbaugh (Herrn Gilmans erste Lehrerin) und noch eine andere Lehrerin von der Möglichkeit, daß ich ohne allzugroße Anstrengung meine Vorbereitung in zwei weiteren Jahren beenden könne. Herr Gilman erklärte sich anfangs damit einverstanden; als aber meine Ausgaben etwas verwickelter wurden, bestand er darauf, ich sei überarbeitet und solle noch drei weitere Jahre auf dem Gymnasium zubringen. Mir gefiel dieser Plan nicht, denn ich wollte mit meiner Klasse zugleich die Universität beziehen.
Am 17. November fühlte ich mich nicht ganz wohl und konnte den Unterricht nicht besuchen. Obgleich Fräulein Sullivan sah, daß es sich nur um eine leichte Unpäßlichkeit handle, erklärte Herr Gilman als er davon hörte, doch, ich stehe im Begriff, zusammenzubrechen, und traf Änderungen in meinem Studienplan, die es mir unmöglich machten, meine Abgangsprüfung zugleich mit meiner Klasse abzulegen. Schließlich führte die Meinungsverschiedenheit zwischen Herrn Gilman und Fräulein Sullivan dahin, daß meine Mutter meine Schwester Mildred und mich von dem Gymnasium in Cambridge wegnahm.
Nach einiger Zeit wurde beschlossen, daß ich meine Studien unter der Leitung eines Hauslehrers, Herrn Merton S. Keith aus Cambridge, fortsetzen sollte. Den Rest des Winters verlebten Fräulein Sullivan und ich bei der uns befreundeten Familie Chamberlin in Wrentham, einer fünfundzwanzig Meilen von Boston entfernten Stadt.
Vom Februar bis Juli 1898 kam Herr Keith wöchentlich zweimal nach Wrentham und unterrichtete mich in Algebra, Geometrie, Griechisch und Latein. Fräulein Sullivan übersetzte mir seine Erläuterungen.
Im Oktober 1898 kehrten wir nach Boston zurück. Acht[S. 93] Monate hindurch erteilte mir Herr Keith wöchentlich fünfmal Unterricht, jedesmal ungefähr eine Stunde lang. Er erklärte mir stets, was ich in der vorhergehenden Unterrichtsstunde nicht begriffen hatte, stellte mir neue Aufgaben und nahm meine griechischen Exerzitien, die ich während der Woche auf meiner Schreibmaschine angefertigt hatte, nach Hause, korrigierte sie sorgfältig und gab sie mir das nächstemal zurück.
Auf diese Weise schritt meine Vorbereitung für die Universität ohne Unterbrechung weiter fort. Ich fand es leichter und angenehmer, für mich allein unterrichtet zu werden als in der Klasse mit anderen zusammen. Es gab hier keine Überstürzung, keine Verwirrung. Mein Lehrer hatte vollauf Zeit, mir zu erklären, was ich nicht verstand, und daher machte ich raschere Fortschritte und hatte bessere Leistungen aufzuweisen als je auf dem Gymnasium. Ich fand jedoch noch immer mehr Schwierigkeiten bei der Lösung von mathematischen Aufgaben als in jedem anderen Unterrichtsfache. Ich wünschte, Algebra und Geometrie wären mir nur halb so leicht gefallen wie das Sprach- und Literaturstudium. Aber selbst die Mathematik machte mir Herr Keith anziehend; es gelang ihm, mir die Lehrsätze und Aufgaben so faßlich zu machen, daß ich dem Unterrichte mit Leichtigkeit folgen konnte. Er erhielt meine Aufmerksamkeit rege und lebendig und gewöhnte mich an klares Denken und ruhiges, logisches Schließen anstatt meiner früheren wilden, ziellosen Kreuz- und Quersprünge. Er war stets freundlich und zuvorkommend, wie ungeschickt ich mich auch mitunter angestellt haben mag, und man kann es mir glauben, meine Beschränktheit würde oft sogar eine Hiobsgeduld erschöpft haben.
Am 29. und 30. Juni 1899 legte ich die Schlußprüfung für das Radcliffe College ab. Am ersten Tage kamen die Anfangsgründe im Griechischen und lateinische Lektüre, am zweiten[S. 94] Geometrie, Algebra und griechische Lektüre an die Reihe.
Die Universitätsbehörden gestatteten Fräulein Sullivan nicht, mir die Prüfungsaufgaben vorzulesen; dafür wurde Herr Eugen C. Vining, einer der Lehrer des Perkinsschen Blindeninstituts, mit der Übertragung der Aufgaben für mich in amerikanische Brailleschrift betraut. Herr Vining war mir völlig fremd und konnte sich nur mittels der Brailleschrift mit mir verständigen. Auch der aufsichtführende Beamte war mir fremd und machte keinerlei Versuch, sich mit mir in Verbindung zu setzen.
Die Brailleschrift genügte zwar für die Sprachen vollständig; als aber Geometrie und Algebra an die Reihe kamen, ergaben sich Schwierigkeiten. Ich war schmerzlich überrascht und niedergeschlagen, da ich viel kostbare Zeit verlor, namentlich in der Algebra. Zwar war ich mit allen gewöhnlich zu literarischen Zwecken benutzten Braillesystemen vertraut — dem englischen, dem amerikanischen und dem New Yorker; aber die geometrischen und algebraischen Zeichen sind in diesen drei Systemen sehr verschieden, und ich hatte in der Algebra nur das englische benutzt.
Zwei Tage vor dem Beginn der Prüfungen sandte mir Herr Vining die Braillekopie einer früher von der Harvard-Universität gestellten algebraischen Aufgabe. Zu meinem Schreck bemerkte ich, daß sie in der amerikanischen Notation gehalten war. Ich setzte mich unverzüglich hin und bat Herrn Vining in ein paar Zeilen um eine Erklärung der Zeichen. Umgehend erhielt ich eine andere Arbeit und eine Tabelle, in der die Zeichen erklärt waren, und setzte mich hin, um die Notation zu erlernen. Aber am Abend vor der Prüfung in der Algebra, während ich über einigen sehr verwickelten Aufgaben brütete, hatte ich keine Zeit, mir die Zusammenstellungen von Klammern, Haken und Wurzelzeichen einzuprägen. Sowohl Herr Keith wie ich waren[S. 95] niedergeschlagen und voll trüber Ahnungen für morgen; wir gingen aber ein wenig vor dem Beginn der Prüfung nach dem Universitätsgebäude und baten Herrn Vining, uns die amerikanischen Zeichen etwas eingehender zu erklären.
In der Geometrie bestand die Hauptschwierigkeit für mich darin, daß ich stets gewohnt gewesen war, die Sätze im Liniendruck zu lesen oder sie in die Hand buchstabiert zu bekommen, und obgleich die Sätze jetzt dicht vor mir lagen, fand ich doch die Brailleschrift einigermaßen verwirrend und konnte mir nicht klar vorstellen, was ich las. Als aber die Algebra an die Reihe kam, brach eine noch härtere Zeit für mich an. Ich konnte mich in die Zeichen, die ich so spät erlernt hatte und die ich zu kennen glaubte, nicht finden. Außerdem konnte ich nicht prüfen, was ich auf meiner Schreibmaschine geschrieben hatte. Ich hatte stets meine Arbeiten in Brailleschrift oder im Kopfe gemacht. Herr Keith hatte sich zu sehr auf meine Fertigkeit, die Aufgaben im Kopfe zu lösen, verlassen und hatte mich nicht im schriftlichen Anfertigen von Examensarbeiten unterwiesen. Infolgedessen ging meine Arbeit peinlich langsam von statten, und ich hatte die Aufgaben immer und immer wieder zu lesen, ehe ich begriff, was von mir verlangt wurde. In der Tat bin ich selbst jetzt noch nicht sicher, alle Zeichen richtig gelesen zu haben. Es fiel mir schwer, meinen Kopf beisammen zu halten.
Aber ich klage niemand an. Die Universitätsbehörde wußte nicht, wie schwer sie mir meine Prüfung machte, noch begriff sie die besonderen Schwierigkeiten, die ich zu überwinden hatte. Aber wenn sie mir unabsichtlich Hindernisse in den Weg legte, so habe ich die Genugtuung, zu wissen, daß ich sie alle überwunden habe.
Eintritt in das Radcliffe College. — Anfängliche Begeisterung und teilweise Enttäuschung. — Übelstände des Universitatsstudiums. — Erstes Studienjahr. — Französisch, Deutsch, englische Stillehre, englische Literatur. — Besuch der Vorlesungen. — Schreibmaschine. — Stunden des Unmuts. — Zweites Jahr: englische Stillehre, Bibel, politische Verhältnisse Amerikas und Europas, horazische Oden, lateinische Komödie, Nationalökonomie, Shakespeare, Geschichte der Philosophie. — Verknöcherung des Universitätswesens..— Pein der Prüfungen. — Enttäuschung.
Der Kampf um die Zulassung zur Universität war siegreich beendet, und ich konnte nun in das Radcliffe College eintreten, wann es mir beliebte. Bevor ich jedoch die Universität bezog, kamen wir überein, daß ich noch ein weiteres Jahr unter Herrn Keiths Leitung studieren sollte. Erst gegen Ende 1900 ging daher mein Traum, die Universität zu besuchen, in Erfüllung.
Ich erinnere mich heute noch meines ersten Tages im Radcliffe College. Es war ein interessanter Tag für mich. Ich hatte ihn jahrelang herbeigesehnt. Eine mächtige Kraft in mir, die stärker war als der Rat meiner Freunde, stärker selbst als die Warnungen meines eigenen Inneren, hatte mich dazu getrieben, meine Kräfte mit denen zu messen, die sehen und hören. Ich wußte, ich würde auf Hindernisse stoßen, aber ich war voller Eifer, sie zu überwinden. Ich hatte mir die Worte des weisen Römers zu Herzen genommen, der da gesagt hatte: „Aus Rom verbannt sein, heißt nur außerhalb Roms leben.“ — Abgeschnitten von der großen Heerstraße des Wissens war ich genötigt, meine Reise quer durchs Land auf wenig besuchten Straßen zurückzulegen — das war alles. Ich wußte, daß es auf einer Universität viele Nebenpfade gab, auf denen ich Hand in Hand mit Mädchen gehen konnte, die ebenso dachten, liebten und kämpften wie ich.
Ich begann meine Studien voller Eifer. Vor mir erblickte ich eine neue Welt, strahlend in Schönheit und Licht, und ich fühlte die Fähigkeit in mir, alles zu erkennen. In dem Wunderland des Geistes würde ich so frei sein wie jede andere. Seine Bewohner, seine Landschaft, seine Sitten, seine Freuden, seine Leiden sollten lebendige verkörperte Vermittler der realen Welt sein. Die Vorlesungssäle schienen mir mit dem Geiste der großen Weisen aller Zeiten erfüllt, und ich hielt die Professoren für Personifikationen der Weisheit selbst. Ich bin seitdem zu einer anderen Überzeugung gelangt, doch habe ich nicht die Absicht, irgend jemand mit Namen zu nennen.
Aber bald entdeckte ich, daß das College nicht ganz das romantische Lyceum war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Viele der Träume, die meine unerfahrene Jugend entzückt hatten, „verblaßten in dem grauen Lichte des Alltags“. Allmählich begann ich einzusehen, daß der Besuch der Universität auch seine Schattenseiten habe.
Die eine, deren ich mir am schmerzlichsten bewußt war und noch bewußt bin, besteht in dem Mangel an Zeit. Ich pflegte Zeit zum Denken, zum Sinnen zu haben, mein Geist und ich. Wir hatten manchen lieben Abend beieinander gesessen und der Melodie in unserem Innern gelauscht, die man nur in Mußestunden vernimmt, wenn die Worte eines Lieblingsdichters eine tiefe wohllautende Saite in unserer Seele anschlagen, die bis dahin noch nicht erklungen war. Aber auf der Universität hat man keine Zeit, mit seinen Gedanken zu verkehren. Man besucht, scheint es, die Vorlesungen, um zu lernen, nicht, um zu denken. Betritt man die Portale der Gelehrsamkeit, so läßt man die besten Freuden — Einsamkeit, Bücher und Phantasie — draußen bei den rauschenden Tannen. Ich glaube, ich müßte einige Beruhigung in dem Gedanken finden, daß ich Schätze für zukünftige Genüsse aufspeichere, aber ich bin zu unvorsorg[S. 98]lich, um nicht den Genuß des Augenblicks der Ansammlung von Reichtümern für trübe Tage vorzuziehen.
Meine Studien erstreckten sich im ersten Jahre auf Französisch, Deutsch, Geschichte, englischen Stil und englische Literatur. Im Französischen las ich einige Werke von Corneille, Moliere, Racine, Alfred de Musset, Sainte-Beuve und im Deutschen von Goethe und Schiller. In der Geschichte verschaffte ich mir einen raschen Ueberblick über den ganzen Zeitraum vom Untergange des Römischen Reiches bis zum achtzehnten Jahrhundert, und in der englischen Literatur studierte ich kritisch Miltons Gedichte und »Areopagitica«.
Ich bin häufig gefragt worden, in welcher Weise ich die eigenartigen Schwierigkeiten, unter denen ich die Universität besuche, überwinde. Im Auditorium bin ich natürlich so gut wie allein. Der Professor ist so weit von mir entfernt, als ob er durch ein Telephon spräche. Die Vorlesungen werden mir so rasch wie möglich in die Hand buchstabiert, und in dem Bestreben, das Tempo innezuhalten, geht mir viel von der Individualität des Vortragenden verloren. Die Worte eilen durch meine Hand wie Hunde auf der Jagd nach einem Hasen, der ihnen aber oft entkommt. Aber in dieser Beziehung glaube ich nicht, daß ich viel schlechter daran bin als die Mädchen, die sich ihre Aufzeichnungen machen. Ist der Geist mit dem mechanischen Prozesse des Hörens beschäftigt und soll man zu gleicher Zeit das Gehörte in fliegender Eile zu Papier bringen, so kann man, glaube ich, weder dem behandelten Gegenstande noch der Art des Vortrags die gebührende Aufmerksamkeit zuwenden. Ich kann während der Vorlesungen keine Aufzeichnungen machen, weil meine Hände mit Aufmerken beschäftigt sind. Gewöhnlich schreibe ich mir dann zu Hause das, was ich behalten habe, nieder. Ich fertige meine Exerzitien, Aufsätze, Kritiken, die Arbeiten zu den Semester- und Jahresprüfungen auf meiner[S. 99] Schreibmaschine an, sodaß die Professoren keine Schwierigkeit haben, herauszufinden, wie wenig ich weiß. Als ich das Studium der lateinischen Prosodie begann, schrieb ich meinem Professor eine Reihe von Zeichen auf, die die verschiedenen Metra und Quantitäten kenntlich machen sollten, und erklärte sie ihm.
Ich bediene mich der Hammond-Schreibmaschine. Ich habe viele Maschinen versucht, finde aber, daß die Hammondsche sich am besten für die Besonderheiten meiner Arbeit eignet. Bei dieser Maschine können Umschalttasten benutzt werden, und man kann deren mehrere haben, jede mit verschiedenen Typen — Griechisch, Französisch oder Mathematik — entsprechend der Art von Schrift, die man auf der Schreibmaschine hervorbringen will. Wenn ich die Hammondsche Schreibmaschine nicht hätte, so würde ich wohl schwerlich die Universität besuchen können.
Sehr wenige von den in den verschiedenen Kursen gebrauchten Bücher sind in Blindenschrift gedruckt, und ich muß sie mir in die Hand buchstabieren lassen. Infolgedessen brauche ich mehr Zeit zur Vorbereitung auf meine Lektionen als andere Mädchen. Die Handarbeit dauert länger, und ich habe mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die sie gar nicht kennen. Es gibt Tage, an denen die gespannte Aufmerksamkeit, mit der ich die Einzelheiten verfolgen muß, mein Blut in Wallung bringt und der Gedanke, daß ich stundenlang dasitzen muß, um ein paar Kapitel zu lesen, während andere Mädchen lachen, singen und tanzen, mich rasend macht; aber bald gewinne ich meinen Gleichmut wieder und lache mir die Unzufriedenheit vom Herzen herunter. Denn alles in allem muß jeder, der zur wahren Erkenntnis hindurchdringen will, den Berg Schwierigkeit allein erklimmen, und da für mich keine breite gerade Straße auf den Gipfel führt, so muß ich ihn eben auf dem für mich bestimmten Pfade im Zickzack zu erreichen suchen. Ich gleite häufig zu[S. 100]rück, ich falle, ich stehe still, ich stoße gegen die Ecken verborgener Hindernisse, ich verliere meine gute Laune, bekomme sie wieder und halte sie von da an fester, ich schleppe mich weiter, komme eine kleine Strecke vorwärts, fühle neuen Mut, werde immer eifriger und klimme immer höher und höher, bis ich endlich den Horizont sich weiten sehe. Jeder Kampf ist ein Sieg. Noch eine letzte Anstrengung, und ich erreiche die leuchtende Wolke, die blauen Himmelstiefen, das Land meiner Sehnsucht da droben. Bei diesen Kämpfen stehe ich jedoch nicht stets allein. Herr William Wade und Herr E. E. Allen, der Leiter des pennsylvanischen Instituts für den Blindenunterricht, haben mir viele der erforderlichen Bücher in Hochdruck besorgt. Mit ihrer liebenswürdigen Aufmerksamkeit haben sie mir mehr Hilfe und Ermutigung gebracht, als sie es selbst je ahnen können.
Im vergangenen Jahre, dem zweiten, das ich im Radcliffe College zubrachte, beschäftigte ich mich mit englischer Stillehre, mit der Bibel vom literarischen Standpunkte aus, den politischen Verhältnissen Amerikas und Europas, den horazischen Oden und der lateinischen Komödie. Der Unterricht im englischen Stil war mir der liebste, weil er sehr lebendig war. Die Vorlesungen waren stets interessant und geistvoll; denn der Professor, Herr Charles Townsend Copeland, trägt die Hauptwerke der Literatur in all ihrer ursprünglichen Frische und Gewalt vor. Eine kurze Stunde darf man die ewige Schönheit der alten Meister ohne unnötige Erklärungen und Zergliederungen genießen und sich ihrer erhabenen Gedanken erfreuen; mit ganzer Seele kann man sich der milden Erhabenheit des Alten Testaments hingeben, ohne an das Dasein Jahwes und Elohims zu denken, und man geht nach Hause mit dem Bewußtsein, daß man einen Schimmer von jener Vollendung erhascht hat, bei der Geist und Form in ewiger Harmonie ver[S. 101]schmolzen sind und Wahrheit und Schönheit dem alten Stamme der Zeit neues Wachstum bringen.
Dieses Jahr ist das glücklichste für mich, weil ich Gegenstände studiere, die mich besonders interessieren: Nationalökonomie, Literatur der elisabethanischen Zeit, Shakespeare unter Professor George L. Kittredge und Geschichte der Philosophie unter Professor Josiah Royce. Durch die Philosophie lernt man sich verständnisvoll in die Ueberlieferungen alter Zeiten und andere Denkweisen zu versenken, die einem vorher seltsam und unvernünftig vorgekommen sind.
Aber das College ist nicht das universale Athen, für das ich es gehalten habe. Man tritt hier nicht den großen, weisen Männern Auge in Auge gegenüber, man fühlt nicht ihren belebenden Hauch. Zwar sind sie gegenwärtig, das muß zugegeben werden, aber sie scheinen mumifiziert zu sein. Wir müssen sie von der sie umgebenden Hülle von Gelehrsamkeit befreien, sie zergliedern und analysieren, ehe wir sicher sein können, daß wir einen Milton oder Jesaias vor uns haben und nicht nur eine geschickte Nachahmung. Wie mir scheint, vergessen viele Gelehrte, daß unser Genuß an den großen Werken der Literatur mehr von der Tiefe unseres Mitempfindens als von der Schärfe unseres Verstandes abhängt. Der Hauptübelstand ist der, daß sehr wenige ihrer mühsamen Erläuterungen im Gedächtnis haften. Der Geist wirft sie ab, wie ein Baum seine reifen Früchte abwirft. Man vermag eine Blume zu kennen, Wurzel und Stengel und alles, ebenso den ganzen Wachstumsprozeß und ist vielleicht doch nicht imstande, die Schönheit der frisch im Tau des Himmels gebadeten Blume zu würdigen. Immer und immer wieder frage ich ungeduldig: „Was sollen mir all diese Erläuterungen und Hypothesen?“ Sie schwirren in meinem Geiste hin und her gleich blinden Vögeln, die die Luft mit ihren kraftlosen Schwingen zu zerteilen suchen. — Ich[S. 102] wende mich nicht gegen eine gründliche Kenntnis der berühmten Werke, die wir lesen, sondern nur gegen die endlosen Kommentare und verwirrenden Kritiken, aus denen nur das eine hervorgeht, daß es mehr Ansichten als Menschen gibt. Wenn jedoch ein großer Gelehrter, wie Professor Kittredge erklärt, was der Meister sagt, so ist’s, „als werde dem Blinden ein neues Gesicht gegeben“. Er bringt uns Shakespeare, den Dichter, zurück.
Es gibt jedoch Zeiten, in denen ich wünschte, ich könnte die Hälfte der Dinge, die ich mir zu lernen vornahm, streichen; denn der überbürdete Geist kann sich der Schätze nicht erfreuen, die er sich unter den größten Anstrengungen erworben hat. Es ist unmöglich, glaube ich, an einem Tage vier bis fünf verschiedene Bücher in verschiedenen Sprachen und über ganz verschiedene Gegenstände zu lesen und nicht die wahren Zwecke, wegen deren man liest, aus den Augen zu verlieren. Liest man hastig und nervös und denkt dabei an Zeugnisse und Prüfungen, so wird das Gehirn mit einer durcheinandergewürfelten Menge von Eindrücken belastet, für die es wenig Verwendung besitzt. Gegenwärtig ist mein Geist so sehr mit ganz heterogenen Dingen angefüllt, daß ich beinahe daran verzweifle, je wieder Ordnung in ihm zu schaffen. So oft ich die Gegend betrete, die einst das Reich meines Geistes war, so komme ich mir vor, wie der Stier im Porzellanladen, wie das bekannte Sprichwort sagt. Wie Hagelkörner sausen mir Tausende von winzigen Kleinigkeiten um den Kopf, und wenn ich mich ihnen zu entziehen versuche, so verfolgen mich Aufsatzgespenster und Vorlesungskobolde aller Art, bis ich wünsche — o möge mir dieser verruchte Wunsch verziehen werden! — die Idole zerschmettern zu können, die anzubeten ich hierher kam.
Aber die Prüfungen sind doch die Hauptschrecken meines Collegelebens. Obgleich ich ihnen schon oft Auge in Auge[S. 103] gegenübergestanden, sie zu Boden geschmettert und in den Staub getreten habe, so erheben sie sich doch immer wieder von neuem und drohen mir bleichen Angesichts, bis ich mich ganz mutlos fühle. Die Tage, die diesen hochnotpeinlichen Verhören vorangehen, werden darauf verwandt, den Geist mit mystischen Formen und unverdaulichen Daten — unschmackhaftem Zeuge — vollzustopfen, bis man wünscht, daß Bücher, Wissenschaft und man selbst auf dem Grunde des Meeres läge, wo es am tiefsten ist.
Endlich naht die gefürchtete Stunde, und glücklich die, die sich gerüstet fühlt, und zur rechten Zeit imstande ist, Gedanken, die ihr in dieser höchsten Not von Nutzen sein können, zu ihrem Beistande herbeizurufen. Es kommt nur zu häufig vor, daß der Trompetenstoß ungehört verhallt. Es ist im höchsten Grade verwirrend und erbitternd, daß gerade in dem Augenblick, in dem man sein Gedächtnis und einen scharfen Unterscheidungssinn am nötigsten hat, diese beiden Dinge Flügel erhalten und davonflattern. Die Kenntnisse, die man sich mit so unendlicher Mühe angeeignet hat, lassen einem im Notfalle unfehlbar im Stich.
„Geben Sie mir einen kurzen Ueberblick über Huß und seine Bedeutung!“ — Huß? Wer war denn das, und was hat er doch gleich getan? Der Name klingt so seltsam vertraut. Man wühlt seinen Vorrat historischer Kenntnisse um und um, genau so, als wollte man nach einem Stückchen Seide in einem Lumpensack suchen. Man ist überzeugt, es steckt irgendwo im Gedächtnisse ganz oben — man weiß, man hat es erst ganz kürzlich gesehen, als man den Beginn der Reformation betrachtete. Aber wo ist es nun? Man fischt allerhand Wissensbrocken heraus — Revolutionen, Schismen, Niedermetzelungen, Regierungssysteme — aber Huß, wo steckt der? Man wundert sich über das, was man alles weiß, was aber jetzt nicht in Frage kommt. In der Verzweiflung packt man seinen Sack und schüttet ihn um, und dort in einem Winkel steckt der betreffende[S. 104] Mann und brütet unbekümmert über seinen Privatgedanken, ohne eine Ahnung von dem Unheil zu haben, das er über unsereinen gebracht hat.
Gerade in diesem Augenblick aber kündigt der Examinator an, daß die Frist um ist. Mit einem Gefühl des äußersten Ekels wirft man die Masse Gerümpel in eine Ecke und geht nach Hause, den Kopf angefüllt mit revolutionären Plänen, die die Abschaffung des göttlichen Rechtes der Professoren bezwecken, Fragen ohne die Genehmigung der Befragten zu stellen.
Es mag sein, daß ich auf den letzten zwei bis drei Seiten dieses Kapitels Redewendungen gebraucht habe, wegen deren man mich auslachen wird. Ach ja, hier sind sie — die hinkenden Gleichnisse, die sich vor mich hinstellen und mich verhöhnen, indem sie auf den von Hagelkörnern umwirbelten Stier im Porzellanladen und die Schreckensgespenster mit bleichem Antlitz — eine noch nicht analysierte Art — hinweisen. Laßt sie höhnen! Die Worte schildern so getreu die Atmosphäre sich drängender und überstürzender Gedanken, in der ich lebe, daß ich sie mir später noch einmal vergegenwärtigen möchte, um dann eine ernste Miene anzunehmen und zu erklären, daß sich meine Ansichten über die Universität geändert haben.
Als mein Universitätsstudium noch im Schoße der Zukunft schlummerte, war es von einem Strahlenkranze von Romantik umwoben, den es jetzt eingebüßt hat; aber bei dem Uebergange von der Romantik zur Wirklichkeit habe ich vieles gelernt, was mir nie zum Bewußtsein gekommen sein würde, wenn ich dieses Experiment nicht unternommen hätte. Das eine ist die köstliche Wissenschaft der Geduld, die uns lehrt, daß wir unsere Bildung betreiben sollen, als wollten wir einen Spaziergang auf das Land machen, in voller Muße und mit Sinnen, die für die Eindrücke jeder Art ihre gastlichen Tore weit geöffnet haben. Solches Wissen überströmt unser innerstes Wesen mit einer uner[S. 105]schöpflichen Flutwoge tiefer Gedanken. Wissen ist Macht! Besser ausgedrückt: Wissen ist Glückseligkeit, denn der Besitz von Wissen — umfassendem, tiefem Wissen — ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit, wahre Zwecke von falschen und erhabene Dinge von niedrigen zu unterscheiden. Die für den Fortschritt des Menschen entscheidenden Gedanken und Taten kennen, heißt den gewaltigen Pulsschlag der Menschheit über die Jahrhunderte hinweg fühlen, und wer in diesen Schlägen nicht ein himmelwärts gerichtetes Streben wahrnimmt, der muß in der Tat für die Harmonie des Lebens taub sein.
Bücherstudium. — Rückblick. — Bibliothek in Boston. — Heißhunger auf Bücher. — »Little Lord Fauntleroy«. — Lafontaines Fabeln. — Begeisterung für das griechische Altertum. — Ilias. — Aeneis. — Bibel. — Shakespeare: Macbeth, König Lear. — Geschichte. — Deutsche Literatur. — Französische Literatur. — Mark Twain. — Scott.
Bisher habe ich die Ereignisse meines Lebens kurz skizziert, aber noch nicht davon gesprochen, wieviel ich den Büchern verdanke, nicht nur hinsichtlich des Genusses und der Belehrung, die sie allen bringen, die da lesen, sondern auch betreffs jener Kenntnisse, die andere durch Vermittelung ihrer Augen und Ohren erhalten. In der Tat haben Bücher in der Geschichte meiner Bildung eine soviel wesentlichere Rolle gespielt als bei anderen, daß ich bis auf die Zeit zurückgreifen muß, da ich lesen lernte.
Meine erste zusammenhängende Geschichte las ich im Mai 1887, als ich sieben Jahre alt war, und von jenem Tage an bis zum gegenwärtigen Augenblicke habe ich alles, was in der Gestalt eines Hochdruckes in den Bereich meiner[S. 106] heißhungrigen Fingerspitzen geriet, förmlich verschlungen. Wie ich bereits erwähnt habe, erhielt ich während der ersten Jahre meiner Erziehung keinen regelmäßigen Unterricht; auch las ich nicht regelmäßig.
Zuerst besaß ich nur wenig Bücher in Hochdruck — »Fibeln« für Anfänger, eine Sammlung von Kindergeschichten und ein geographisches Buch, »Our World«. Ich denke, das war alles; aber ich las sie immer und immer wieder, bis die Worte so abgenutzt und abgegriffen waren, daß ich sie kaum noch erkennen konnte. Bisweilen las mir Fräulein Sullivan vor, indem sie mir kleine Geschichten und Gedichte in die Hand buchstabierte, von denen sie wußte, daß ich sie verstehen konnte; ich zog es jedoch vor, für mich selbst zu lesen, weil ich es liebte, das, was mir gefiel, immer und immer wieder zu lesen.
Erst während meines ersten Besuches in Boston begann ich systematisch und mit vollem Ernste zu lesen. Es war mir gestattet worden, an jedem Tage eine bestimmte Zeit in der Bibliothek zu verweilen, von Bücherbrett zu Bücherbrett zu gehen und mir jedes Buch herunterzunehmen, auf das meine Finger stießen. Und ich las und las, ob ich nun ein Wort von zehn oder zwei Wörter auf einer Seite verstand. Die Wörter selbst übten eine Art von Zauber auf mich aus; aber ich hatte kein bewußtes Verständnis für das, was ich las. Mein Geist muß jedoch zu dieser Zeit sehr eindrucksfähig gewesen sein, denn er behielt viele Wörter und ganze Sätze, von deren Bedeutung ich nicht die mindeste Ahnung hatte, und als ich später zu sprechen und zu schreiben begann, kamen mir diese Wörter und Sätze ganz von selbst wieder ins Gedächtnis, sodaß sich meine Freunde über die Reichhaltigkeit meines Wortschatzes wunderten. Ich muß Abschnitte aus vielen Büchern (in jenen frühen Tagen habe ich, wie ich glaube, nie ein Buch vollständig gelesen) und eine große Menge Gedichte auf jene unverstandene Art gelesen haben, bis[S. 107] ich den »Little Lord Fauntleroy« entdeckte. Dies war das erste zusammenhängende Buch, das ich mit Verständnis las.
Eines Tages fand mich meine Lehrerin in einer Ecke der Bibliothek, wie ich meine Finger über die Seiten von Hawthornes »The Scarlet Letter« gleiten ließ. Ich war damals ungefähr acht Jahre alt. Ich erinnere mich, daß sie mich fragte, ob mir little Pearl gefalle, und erklärte mir einige Worte, die ich nicht verstanden hatte. Dann erzählte sie mir, sie habe eine wunderhübsche Geschichte von einem kleinen Knaben, die mir sicherlich besser gefallen würde als »The Scarlet Letter«. Der Titel dieser Geschichte lautete »Little Lord Fauntleroy«, und sie versprach es mir im nächsten Sommer vorzulesen. Aber wir begannen mit dieser Lektüre erst im August; die ersten paar Wochen meines Aufenthaltes an der Küste waren so voller Entdeckungen und Aufregungen, daß ich darüber das Vorhandensein von Büchern ganz und gar vergaß. Dann reiste meine Lehrerin nach Boston, um einige Freunde zu besuchen, und ließ mich kurze Zeit allein.
Nach ihrer Rückkehr war beinahe das erste, was wir taten, daß wir die Geschichte von dem »kleinen Lord Fauntleroy« zu lesen begannen. Ich erinnere mich noch deutlich der Zeit und des Platzes, wo wir die ersten Kapitel dieser reizenden Kindergeschichte lasen. Es war ein warmer Augustnachmittag. Wir saßen zusammen in einer Hängematte, die zwischen zwei mächtigen Fichten in der Nähe unseres Hauses befestigt war. Wir waren gleich nach dem zweiten Frühstück aufgebrochen, um möglichst viel Zeit für die Geschichte zu haben. Als wir durch das hohe Gras zu der Hängematte eilten, sprangen die Grillen in großer Menge um uns herum und blieben an unseren Kleidern hängen, und ich entsinne mich, daß meine Lehrerin darauf bestand, sie alle abzusammeln, ehe wir uns hinsetzten, was mir jedoch als unnötiger Zeitverlust erschien. Die Hängematte war[S. 108] mit Fichtennadeln bedeckt, denn sie war während der Abwesenheit meiner Lehrerin nicht benutzt worden. Die Sonne schien warm auf die Fichtennadeln, sodaß sie all ihren Wohlgeruch ausströmten. Die Luft war erquickend und hatte etwas von der Seeluft an sich. Ehe wir zu lesen begannen, erklärte mir Fräulein Sullivan alles, wovon sie wußte, daß ich es nicht verstehen würde, und während des Lesens selbst erklärte sie mir die unbekannten Wörter. Anfänglich waren es sehr viele Wörter, die ich nicht verstand, und die Lektüre wurde beständig unterbrochen; sobald ich aber die allgemeine Situation aufgefaßt hatte, wurde ich von der Erzählung selbst zu stark in Anspruch genommen, als daß ich auf einzelne Wörter geachtet hätte, und ich fürchte, ich paßte sehr wenig auf die Erläuterungen auf, die Fräulein Sullivan für nötig fand. Als ihre Finger zu müde waren, um noch ein weiteres Wort zu buchstabieren, hatte ich zum erstenmal ein deutliches Empfinden von meinem körperlichen Gebrechen. Ich nahm das Buch in meine Hände und versuchte die Buchstaben mit einer Sehnlichkeit des Verlangens zu fühlen, die ich nie werde vergessen können.
Später übertrug Herr Anagnos auf mein inständiges Bitten die Erzählung in die Blindenschrift, und ich las sie immer und immer wieder, bis ich sie beinahe auswendig kannte, und während meiner Kinderzeit blieb der »kleine Lord Fauntleroy« mein holder, lieber Begleiter. Ich habe diese Einzelheiten mitgeteilt, selbst auf die Gefahr hin, langweilig zu erscheinen, weil sie in so starkem Gegensatze zu meinen sonstigen unbestimmten, schwankenden und verworrenen Erinnerungen an meine erste Lektüre stehen.[10]
Von »Little Lord Fauntleroy« datiert sich der Beginn meines wirklichen Interesses an Büchern. Während der[S. 109] nächsten beiden Jahre las ich viele Bücher zu Hause und bei meinen Besuchen in Boston. Ich kann mich nicht auf alle entsinnen, auch nicht, in welcher Reihenfolge ich sie gelesen habe; aber ich weiß, daß sich unter ihnen befanden »Greek Heroes«, Lafontaines Fabeln, Hawthornes »Wonder Book«, »Bible Stories«, Lambs »Tales from Shakespeare«, »A Child’s History of England« von Dickens, »The Arabian Nights«, »The Swiss Family Robinson«, »The Pilgrim’s Progress«, »Robinson Crusoe«, »Little Women« und »Heidi«, eine hübsche kleine Geschichte, die ich später deutsch las. Ich las sie in den Pausen zwischen Unterricht und Spiel, mit einem sich immer mehr vertiefenden Verständnis. Ich studierte die Bücher nicht, noch analysierte ich sie — ich wußte nicht, ob sie gut geschrieben waren oder nicht, ich dachte weder an ihren Stil noch an ihre Verfasser. Sie legten mir ihre Schätze zu Füßen, und ich nahm sie hin, wie wir den Sonnenschein und die Liebe unserer Angehörigen hinnehmen. Die Erzählung »Little Women« gefiel mir sehr gut, weil sie in mir das Gefühl der Verwandtschaft mit Mädchen und Knaben erweckte, die sehen und hören konnten. Da mein Leben in so vielen Beziehungen eingeengt war, mußte ich in Büchern nach der Kunde von einer Welt suchen, die außerhalb meiner eigenen lag.
Lafontaines Fabeln las ich zuerst in einer englischen Uebersetzung, fand aber keinen rechten Geschmack an ihnen. Später las ich das Buch französisch; es gefiel mir aber trotz der in ihm enthaltenen lebhaften Schilderungen und der wunderbaren Beherrschung der Sprache nicht besser. Ich weiß nicht, woher dies kommen mag, aber Geschichten, in denen Tiere vorkommen, die wie menschliche Wesen sprechen und handeln, haben mich niemals besonders angesprochen. Die possierlichen Karikaturen der Tiere nehmen mein Interesse so in Anspruch, daß ich an die moralische Lehre gar nicht zu denken vermag.
Ferner wendet sich Lafontaine selten, wenn überhaupt, an unser höheres moralisches Bewußtsein. Die höchsten Saiten, die er anschlägt, sind die der Vernunft und des Egoismus. Alle seine Fabeln durchzieht der Gedanke, daß die Sittlichkeit des Menschen ausschließlich aus dem Egoismus entspringe und daß, wenn dieser letztere durch die Vernunft geleitet und im Zaum gehalten werde, notwendig Glückseligkeit die Folge sein müsse. Nun ist aber, soweit ich zu urteilen vermag, der Egoismus die Wurzel alles Schlechten; ich habe aber natürlich vielleicht unrecht, denn Lafontaine hatte bessere Gelegenheit, die Menschen zu beobachten, als ich wahrscheinlich je haben werde. Ich wende mich nicht sowohl gegen die cynischen und satirischen Fabeln, wie vielmehr gegen diejenigen, in denen wichtige Wahrheiten von Füchsen und Affen gepredigt werden.
Wohl aber liebe ich »The Jungle Book« und »Wild Animals I Have Known«. Für die Tiere selbst empfinde ich ein wahrhaftes Interesse, weil sie wirkliche Tiere und keine Karikaturen von Menschen sind. Man sympathisiert mit ihrer Liebe und ihrem Hasse, man lacht über ihre Possen und weint über ihre Leiden. Und wenn sie eine moralische Lehre verkünden, so ist diese so fein versteckt, daß wir uns ihrer gar nicht bewußt werden.
Mit Freude und Bewunderung erfüllte mich die Betrachtung des klassischen Altertums. Griechenland, das alte Griechenland übte einen geheimnisvollen Zauber auf mich aus. In meiner Phantasie wandelten die heidnischen Götter und Göttinnen noch auf Erden und verkehrten persönlich mit den Menschen, und in meinem Herzen baute ich denen, die ich am meisten liebte, Altäre. Ich kannte und liebte die ganze Schar der Nymphen und Helden und Halbgötter — nein, nicht alle, denn die Grausamkeit und Leidenschaftlichkeit Medeas und Jasons waren zu ungeheuerlich, um vergeben werden zu können, und ich habe mich stets ge[S. 111]wundert, warum die Götter ihnen erst gestatteten, Böses zu tun, und sie dann für ihre Verruchtheit bestraften. Und das Geheimnis ist noch jetzt nicht gelöst. Ich wundere mich auch jetzt noch oft, warum
Es war die Ilias, die mir Griechenland zum Paradiese machte. Ich war mit der Geschichte von Troja vertraut, ehe ich sie noch im Original las, und stieß infolgedessen auf geringe Schwierigkeiten, als ich daran ging, die Schätze, die in dem griechischen Text verborgen liegen, zu heben, nachdem ich einmal die Vorhalle der Grammatik durchschritten hatte. Wahre Poesie, mag sie in griechischer oder englischer Sprache geschrieben sein, bedarf keines anderen Auslegers als eines empfänglichen Herzens. Möchte doch die Menge der Philologen, die die großen Werke der Dichter durch ihre Analyse, ihre Interpolationen und mühsamen Kommentare ungenießbar machen, diese einfache Wahrheit einsehen! Es ist nicht notwendig, daß man imstande sei, jedes Wort zu erklären und ihm seine grammatische Stellung im Satze anzuweisen, um ein schönes Gedicht zu verstehen und zu würdigen. Ich weiß, meine gelehrten Professoren haben größere Reichtümer in der Ilias gefunden, als ich je finden werde; ich bin aber nicht scheelsüchtig. Ich bins zufrieden, daß andere klüger sind als ich. Aber all ihr umfassendes und gründliches Wissen kann ebensowenig den Maßstab für ihren Genuß an dem herrlichen Epos abgeben wie mein lückenhaftes Wissen für meinen Genuß. Wenn ich die schönsten Stellen der Ilias lese, so werde ich mir einer Seelenkraft bewußt, die mich weit über die engen, mich einzwängenden Schranken meines Daseins hinaushebt. Meine physischen Gebrechen sind vergessen — meine Welt liegt droben, der ganze Himmel gehört mir, so weit und hoch er sich wölbt.
Meine Bewunderung für die Aeneis ist nicht so groß, aber nicht weniger echt. Ich lese sie soviel wie möglich ohne die Hilfe von Anmerkungen oder Wörterbuch und finde stets Genuß an der Uebersetzung der Episoden, die mir besonders gefallen. Vergils Schilderungen sind manchmal prachtvoll; aber seine Götter und Menschen bewegen sich in Leidenschaft, Streit, Mitleid und Liebe wie die anmutigen Gestalten in einem Maskenspiel aus der Zeit der Königin Elisabeth, während sie in der Ilias jauchzend emporspringen und singend einhergehen. Vergil ist heiter und lieblich wie ein marmorner Apollon im Mondschein; Homer ist ein schöner, lebender Jüngling im vollen Sonnenschein, dessen Locken im Winde flattern.
Wie leicht ist es doch, mittels papierner Schwingen zu fliegen! Zwischen den »Griechischen Helden« und der Ilias lag eine Strecke, die ich nicht an einem Tage habe zurücklegen können; auch war die Reise nicht allzu angenehm. Man hätte vielmal rund um die Erde reisen können, während ich mir meinen steilen Pfad mühsam durch labyrinthische Massen von Grammatiken und Wörterbüchern bahnte oder in jene furchtbaren Fallgruben, Examina genannt, stürzte, die von Schulen und Universitäten zum Verderben derer angelegt werden, die Erkenntnis suchen. Ich glaube, diese Pilgerfahrt wird durch die Erreichung des Zieles gerechtfertigt; allein sie erschien mir endlos trotz der schönen, überraschenden Ausblicke, die ich dann und wann bei einer Biegung der Straße hatte.
In der Bibel begann ich zu lesen, lange bevor ich sie verstehen konnte. Jetzt erscheint es mir seltsam, daß es je eine Zeit gegeben haben soll, in der meine Seele gegen die wunderbaren Harmonien der Bibel taub war; aber ich entsinne mich noch ganz gut eines regnerischen Sonntagvormittags, als ich nichts anderes zu tun hatte und daher meine Cousine bat, mir eine Geschichte aus der Bibel vorzulesen. Obgleich sie nicht[S. 113] glaubte, daß ich sie verstehen würde, begann sie mir die Geschichte von Josef und seinen Brüdern in die Hand zu buchstabieren. Aber sie interessierte mich nicht. Die ungewöhnliche Sprache und die fortwährenden Wiederholungen ließen mir die Geschichte als unglaubwürdig erscheinen, besonders da sie in dem weit entlegenen Lande Kanaan spielte; ich schlief ein und wanderte in das Land der Träume hinüber, ehe die Brüder mit dem bunten Rock in das Zelt Jakobs kamen und ihre verruchten Lügen vorbrachten! Ich kann nicht begreifen, aus welchem Grunde die Erzählungen der Griechen für mich so voller Reiz und die der Bibel so interesselos gewesen waren, wenn dies nicht vielleicht daher rührte, daß ich in Boston die Bekanntschaft mehrerer Griechen gemacht hatte und durch deren Begeisterung für die Sagen des Vaterlandes angesteckt worden war, während ich noch mit keinem einzigen Hebräer oder Aegypter zusammengekommen war und daher zu der Ueberzeugung gelangte, daß diese Völker nichts als Barbaren und die Geschichten über sie alle wahrscheinlich erdichtet seien, eine Annahme, die die vielen Wiederholungen und die sonderbaren Namen erklärte. Seltsam, es war mir nie eingefallen, die griechischen Patronymika »sonderbar« zu finden.
Wie soll ich aber von den Herrlichkeiten sprechen, die ich seitdem in der Bibel entdeckt habe? Jahrelang habe ich dieses Buch der Bücher mit immer wachsendem Entzücken und begeistertem Genuß gelesen, und ich liebe es, wie ich kein anderes Buch liebe. Es steht zwar vieles in der Bibel, gegen das sich jede Faser meines Wesens so sehr empört, daß ich die Notwendigkeit bedaure, die mich zwang, sie von Anfang bis zu Ende zu lesen. Ich glaube nicht, daß die Kenntnis, die ich von der Geschichte ihrer Entstehung und ihren Quellen gewonnen habe, mich für die widerwärtigen Einzelheiten entschädigt, auf die ich meine Aufmerksamkeit habe lenken müssen. Ich für[S. 114] meinen Teil wünsche mit Herrn Howells, daß die Literatur der Vergangenheit von allem häßlichen und barbarischen gesäubert werden möge, obgleich ich mich ebenso sehr dagegen sträube, daß diese großen Werke verstümmelt oder verfälscht werden.
In der Schlichtheit und der furchtbaren Folgerichtigkeit des Buches Esther liegt etwas Wirkungsvolles und Erhabenes. Kann etwas dramatischer sein als die Szene, in der Esther vor ihrem schändlichen Herrn steht? Sie weiß, ihr Leben liegt in seiner Hand, es gibt keinen Schutz für sie gegen seine Gewalttätigkeit. Und doch bezwingt sie ihre weibliche Furcht und nähert sich ihm, beseelt von der edelsten Liebe zu ihrem Volke und nur von dem einen Gedanken beherrscht: Wenn ich sterbe, so sterbe ich; wenn ich aber am Leben bleibe, so soll mein Volk auch am Leben bleiben.
Auch die Geschichte von Ruth — wie echt orientalisch ist sie! Und doch wie verschieden ist das Leben dieser einfachen Landleute von dem Leben und Treiben am Hofe des Perserkönigs! Ruth ist so pflichtgetreu und gutherzig, daß wir sie notgedrungen lieben müssen, wie sie unter den Schnittern in dem wogenden Kornfelde steht. Ihre edle, selbstlose Gesinnung glänzt hell wie ein strahlender Stern in der Nacht einer finsteren und grausamen Zeit. Eine Liebe wie die Ruths, eine Liebe, die sich über feindliche Glaubenssatzungen und tiefgewurzelte Rassenvorurteile hinwegzusetzen vermag, ist in der ganzen Welt selten zu finden.
Die Bibel predigt mir den tiefen, tröstlichen Gedanken, daß die „sichtbaren Dinge zeitlich, die unsichtbaren ewig sind“.
Seitdem ich Bücher zu lieben imstande bin, kann ich mich keines Zeitpunktes entsinnen, in dem ich Shakespeare nicht geliebt hätte. Ich kann nicht genau angeben, wann ich Lambs »Tales from Shakespeare« zu lesen begann; ich weiß nur, daß ich[S. 115] sie zuerst mit kindlichem Verständnis und kindlichem Staunen las. »Macbeth« scheint auf mich den tiefsten Eindruck gemacht zu haben. Ein einmaliges Lesen genügte, jede Einzelheit der Erzählung meinem Gedächtnisse für immer einzuprägen. Lange Zeit hindurch verfolgten mich die Geister und Hexen sogar bis in meine Träume. Ich konnte den Dolch und Lady Macbeths kleine weiße Hand sehen, buchstäblich sehen — der furchtbare Fleck stand so leibhaft vor meinem inneren Auge, wie die von ihrem Gewissen gefolterte Königin.
»König Lear« las ich kurze Zeit nach »Macbeth«, und ich werde nie das Grauen vergessen, das mich befiel, als ich zu der Szene kam, in der Gloster die Augen ausgestochen werden. Zorn erfaßte mich, meine Finger wollten nicht weiter, ich saß lange Zeit starr da, das Blut hämmerte in meinen Schläfen, und aller Haß, dessen ein Kind fähig ist, stieg in meinem Herzen auf.
Die Bekanntschaft mit Shylock und Satan muß ich ungefähr um dieselbe Zeit gemacht haben, denn die beiden Charaktere waren lange in meinem Geiste miteinander verbunden. Ich erinnere mich, daß sie mir leid taten. Ich hatte die unbestimmte Empfindung, daß sie nicht gut sein konnten, selbst wenn sie gewollt hätten, weil niemand bereit schien, ihnen zu helfen oder Gelegenheit zu bieten, ihre Güte zu betätigen. Selbst jetzt kann ich es nicht über mein Herz bringen, sie gänzlich zu verurteilen. Es gibt Augenblicke, in denen ich die Empfindung habe, Männer wie Shylock, wie Judas und selbst der Teufel seien zerbrochene Speichen in dem großen Rade des Guten, die der Meister zu gehöriger Zeit schon wieder ausbessern wird.
Es erscheint seltsam, daß meine erste Shakespeare-Lektüre so viele unangenehme Erinnerungen bei mir hinterlassen hat. Die heiteren, anmutigen, phantasievollen Stücke scheinen anfangs keinen Eindruck auf mich gemacht zu haben, vielleicht weil sie[S. 116] den Sonnenschein und die Heiterkeit, die in der Regel über dem Leben eines Kindes lagern, wiederspiegeln. Aber nichts ist launenhafter als das Gedächtnis eines Kindes betreffs dessen, was es behalten und was es nicht behalten will.
Seitdem habe ich Shakespeares Stücke zu wiederholtenmalen gelesen und kenne Stellen aus ihnen auswendig, aber ich kann nicht angeben, welches von ihnen mir am besten gefällt. Mein Genuß an ihnen wechselt mit meiner Stimmung. Die kleinen Liedchen und die Sonette schätze ich in ihrer wunderbaren Frische ebenso hoch wie die Dramen. Aber bei all meiner Liebe für Shakespeare fällt mir es oft schwer, aus seinen Versen alle Bedeutungen herauszulesen, die Kritiker und Erklärer ihnen untergeschoben haben. Ich habe den Versuch gemacht, ihre Erläuterungen zu behalten, aber ich habe bald entmutigt davon Abstand genommen, und einen heimlichen Vertrag mit mir selbst geschlossen, keinen weiteren Versuch zu unternehmen. Diesen Vertrag habe ich nur einmal gebrochen, und zwar bei meinem Studium Shakespeares unter Leitung Professor Kittredges. Ich weiß, es gibt viele Dinge in Shakespeare und in der Welt, die ich nicht verstehe, und ich bin froh, zu sehen, wie sich allmählich Schleier nach Schleier lüftet und mir neue Reiche des Gedankens und der Schönheit enthüllt.
Nächst der Poesie liebe ich Geschichte. Ich habe jedes historische Werk gelesen, auf das ich meine Hände habe legen können, von der Aufzählung trockener Tatsachen und noch trockenerer Daten bis hin zu Greens unparteiischer und glänzend geschriebener »History of the English People«; von Freemans »History of Europe« bis zu Emertons »Middle Ages«. Das erste Buch, durch das ich einen richtigen Begriff von dem Werte der Geschichte erhielt, war Swintons »World’s History«, die ich an meinem dreizehnten Geburtstage erhielt. Obgleich ich glaube, daß das Werk gegenwärtig als veraltet angesehen[S. 117] wird, betrachte ich es doch immer noch als einen wertvollen Schatz. Aus ihm habe ich gelernt, wie sich die Menschenrassen über die Erde verbreitet und große Städte erbaut haben, wie einige große Herrscher, irdische Titanen, alles unterworfen und durch ein einziges Wort Millionen den Zugang zum Glücke geöffnet, aber vor noch mehr Millionen denselben verschlossen haben, wie verschiedene Völker in Kunst und Wissenschaft Pionierdienste geleistet und den Grund zu den bedeutenderen Leistungen künftiger Zeiten gelegt haben, wie die Kultur gleichsam zum Brandopfer eines entarteten Geschlechtes wurde und einem Phönix gleich unter den edleren Söhnen des Nordens wieder erstand und wie große, weise Männer durch Pflege der Freiheit, Duldung und Bildung den Weg für die Erlösung der ganzen Welt gebahnt haben.
Durch die Universitätsvorlesungen wurde ich auch einigermaßen mit der französischen und deutschen Literatur bekannt. Der Deutsche zieht sowohl im Leben wie in der Literatur Kraft der Schönheit und Wahrheit dem Herkommen vor. Es liegt eine Stärke in allem, was er tut, die mit der Gewalt eines Schmiedehammers wirkt. Wenn er spricht, so geschieht es nicht, um andere zu überzeugen, sondern weil sein Herz springen würde, wenn er den Gedanken, die in seiner Seele brennen, keinen Ausweg eröffnete.
Ferner liegt in der deutschen Literatur eine keusche Zurückhaltung, die mir sympathisch ist; ihr größter Ruhm aber besteht meines Erachtens in der Anerkennung der erlösenden Macht der selbstaufopfernden Liebe des Weibes, die sich in ihr findet. Dieser Gedanke durchdringt die gesamte deutsche Literatur und findet in mystischer Weise seinen Ausdruck in Goethes »Faust«:
Von allen französischen Schriftstellern, die ich gelesen habe, sagen mir Molière und Racine am meisten zu. Bei Balzac finden sich einzelne Schönheiten und bei Merimée Stellen, die wie ein frischer Windstoß von der See her wirken. Alfred de Musset ist unmöglich. Ich bewundere Victor Hugo — ich schätze sein Genie, seine glänzende Sprache, seine Romantik; trotzdem gehört er nicht zu meinen Lieblingsschriftstellern. Goethe und Schiller, überhaupt alle großen Dichter großer Völker sind Verkünder ewiger Wahrheiten, und mein Geist folgt ihnen verehrungsvoll in die Regionen, wo das Schöne, Wahre, Gute eins sind.
Ich fürchte, ich bin in der Aufzählung meiner Lieblingsbücher zu ausführlich geworden, und doch habe ich nur die Schriftsteller erwähnt, die mir am besten gefallen; dabei könnte man leicht auf die Vermutung kommen, daß mein Freundeskreis sehr engbegrenzt und undemokratisch sei, und doch wäre dies ein gewaltiger Irrtum. Ich habe viele Schriftsteller aus[S. 119] mancherlei Gründen gern, — Carlyle wegen seiner Rauheit und seiner Verhöhnung alles falschen Wesens, Wordsworth, der die Einheit von Mensch und Natur lehrt; ich finde einen hohen Genuß an den Seltsamkeiten und Abenteuerlichkeiten Hoods, an Herricks Zierlichkeit und dem Duft von Rosen und Lilien, den seine Verse ausströmen; ich liebe Whittier wegen seiner Begeisterung und sittlichen Geradheit. Ich kenne ihn persönlich, und die Erinnerung an unsere Freundschaft verdoppelt den Genuß, den ich beim Lesen seiner Gedichte empfinde. Ich liebe Mark Twain — wer tut dies nicht? Auch die Götter haben ihn geliebt und in sein Herz alle Keime der Weisheit gepflanzt, auch aus Furcht, er könne Pessimist werden, über seinen Geist den Regenbogen der Liebe und des Glaubens gespannt. Ich liebe Scott wegen seiner Frische, und seiner stürmisch sich Bahn brechenden Rechtlichkeit. Ich liebe alle Schriftsteller, deren Empfindungen wie bei Lowell in dem Sonnenschein des Optimismus emporquellen, Jungbrunnen der Freude und des guten Willens, die gelegentlich auch einen Zornesspritzer von sich geben und eine erquickende Atmosphäre von Liebe und Erbarmen um sich her verbreiten.
Mit einem Worte, die Literatur ist mein Utopien. Hier bin ich von keinem Rechte ausgeschlossen. Keine Sinnesschranke schließt mich von dem wohltuenden, genußreichen Verkehr mit meinen Lieblingsbüchern aus; sie sprechen frei und unbehindert zu mir. Alle Schulweisheit erscheint mir lächerlich gering gegenüber der „weltumspannenden Liebe und himmlischen Barmherzigkeit“, die sich in ihnen ausspricht.
[11] Im Original sind die Goetheschen Verse in einer, nebenbei bemerkt mittelmäßigen, englischen Uebersetzung wiedergegeben und lauten hier:
Liebe zur Natur. — Körperliche Uebungen. — Rudern. — Segeln. — Halifax. — Regatta. — Sturm. — Aufenthalt in Wrentham. — Weltbegebenheiten. — Krieg mit Spanien. — Soziale Kämpfe. — Unterschied zwischen Stadt und Land. — Soziales Mitgefühl. — Spaziergänge. — Radfahren. — Liebe zu Hunden. — Dame- und Schachspiel. — Liebe zu Kindern. — Museen und Kunstsammlungen. — Theaterbesuch. — Zeitweiliges Gefühl der Vereinsamung.
Ich hoffe, meine Leser werden aus dem vorhergehenden Kapitel, das sich mit meiner Lektüre beschäftigt, nicht etwa die Folgerung ziehen, daß Bücher meine einzige Unterhaltung bilden; meine Unterhaltung und Erholung sind sehr mannigfaltiger Art.
Mehr als einmal habe ich in dem Verlauf meiner Selbstbiographie meine Liebe zur Natur und zu körperlichen Uebungen im Freien erwähnt. Schon als ich ein ganz kleines Mädchen war, lernte ich rudern und schwimmen, und wenn ich mich im Sommer in Wrentham in Massachusetts aufhalte, so verbringe ich den größten Teil meiner Zeit im Boote. Nichts gewährt mir größeres Vergnügen, als meine Freunde, die mich besuchen, auf den Fluß hinauszurudern. Selbstverständlich kann ich das Boot nicht gut allein leiten. In der Regel sitzt jemand am Steuer und lenkt es, während ich rudere. Bisweilen rudere ich jedoch auch ohne Steuer. Es ist ganz amüsant, an den Wasserrosen und Wasserlilien oder an den Büschen, die das Ufer umsäumen, entlangzufahren. Ich benutze Ruder mit Lederstrippen, durch die sie in ihrer Lage in den Dollen festgehalten werden, und merke an dem Widerstande des Wassers, wann sich die Ruder im Gleichgewichte befinden. In derselben Weise kann ich auch erkennen, wann ich gegen den Strom rudere. Ich liebe den Kampf mit Wind und Wellen. Was wirkt er[S. 121]frischender auf unser Gemüt, als wenn unser kleines festes Boot, unserem Willen und unserer Muskelkraft gehorchend, leicht über die glitzernden, auf und nieder tanzenden Wellen dahinschießt und wir das beständige, unwiderstehliche Anbranden des Wassers spüren!
Ebenso liebe ich das Canoefahren, und ich glaube, der Leser wird lächeln, wenn ich erkläre, daß ich es namentlich in mondhellen Nächten liebe. Zwar kann ich den Mond nicht hinter den Fichten am Himmel emporsteigen und leise an der klaren Wölbung dahingleiten sehen und auch nicht den leuchtenden Pfad, den sein Licht in dem Wasser bildet; aber ich weiß es, Frau Luna ist da, und wenn ich auf meine Kissen zurückgelehnt liege und meine Hand ins Wasser halte, so stelle ich mir vor, sie berühre mich im Vorüberschreiten mit dem Saum ihres Gewandes. Bisweilen schlüpft mir ein kühnes Fischlein zwischen den Fingern hindurch, und oft streift eine Wasserlilie leise meine Hand. Häufig werde ich mir der Weite des mich umgebenden Luftraumes bewußt, wenn wir unter der Wölbung überhängender Büsche herauskommen. Eine leuchtende Wärme scheint mich dann zu umfluten. Ob dies von den Bäumen herrührt, die von der Sonne erwärmt wurden, oder vom Wasser, kann ich nicht sagen. Ich habe es an kalten, stürmischen Tagen und in der Nacht gespürt. Es ist wie der Kuß von warmen Lippen auf mein Gesicht.
Mein Lieblingsvergnügen ist das Segeln. Im Sommer 1901 besuchte ich Neuschottland und hatte dort mehrmals Gelegenheit, den Ozean kennen zu lernen, wie ich sie noch nie zuvor gehabt hatte. Nachdem ich einige Tage in der Heimat Evangelines zugebracht hatte, um die Longfellows schönes Gedicht einen berückenden Zauber gewoben hat, gingen Fräulein Sullivan und ich nach Halifax, wo wir den größten Teil des Sommers über blieben. Der Hafen war unsere Freude, unser Paradies![S. 122] Was für herrliche Segelfahrten unternahmen wir nach Bedford Basin, Mc. Nabbs Island, York Redoubt und nach dem Northwest Arm! Und nachts, was verbrachten wir da für erquickende, wunderbare Stunden zwischen den großen Kriegsschiffen! O, es war alles so interessant, so schön! Die Erinnerung daran ist mir eine Freude für immer.
Eines Tages erlebten wir ein schreckliches Abenteuer. Es fand eine Regatta im Northwest Arm statt, an der die Boote der verschiedenen Kriegsschiffe teilnahmen. Wir fuhren mit vielen anderen in einem Segelboot hin, um uns die Wettfahrten mit anzusehen. Hunderte von kleinen Segelbooten schaukelten auf und nieder, und die See war still. Als die Wettfahrten vorüber waren und wir uns auf den Heimweg machten, entdeckte jemand von der Gesellschaft eine schwarze Wolke, die sich von der See aus näherte und immer größer und dichter wurde, bis sie den ganzen Himmel bedeckte. Der Wind erhob sich, und die Wogen brandeten zornig gegen unsichtbare Schranken an. Unser kleines Boot nahm furchtlos den Kampf auf; mit gespannten Segeln und straffen Tauen schoß es pfeilschnell vor dem Winde dahin. Jetzt verschwand es in den Wirbeln, jetzt tanzte es auf dem Kamme einer riesigen Woge, aber nur, um im nächsten Augenblicke unter furchtbarem Brausen und Zischen wieder in die Tiefe zu schießen. Das Hauptsegel wurde heruntergerissen. Wendend und beidrehend kämpften wir gegen den Wind an, der uns mit fürchterlichem Ungestüm von einer Seite zur anderen warf. Unsere Herzen pochten rascher, und unsere Hände bebten vor Aufregung, nicht vor Furcht; denn wir besaßen die Herzen von Wikingern und wußten, daß unser Steuermann Herr der Situation blieb. Er war durch manchen Sturm mit sicherer Hand und seekundigem Auge gesegelt. Als wir an der großen Barke und den im Hafen liegenden Kanonenbooten vorüberkamen, wurden wir stürmisch begrüßt, und die[S. 123] Matrosen brachten dem Lenker des einzigen kleinen Bootes, das sich in den Sturm hinausgewagt hatte, ein »Hipp, hipp, Hurra« aus. Endlich erreichten wir frierend, hungrig und müde die Landungsbrücke.
Den vergangenen Sommer brachte ich in einem der anmutigsten Winkel der Erde, einer der reizendsten Städte Neuenglands zu. Wrentham in Massachusetts steht beinah zu all meinen Freuden und Leiden in Beziehung. Viele Jahre lang war Red Farm, in der Nähe von King Philips Pond, das Besitztum von Herrn I. E. Chamberlin und seiner Familie, meine Heimat. Ich gedenke mit der tiefsten Dankbarkeit der Güte dieser meiner lieben Freunde und der glücklichen Tage, die ich bei ihnen verlebt habe. Die liebenswürdige Gesellschaft ihrer Kinder war mir unendlich wert. Ich nahm an allen ihren Spielen, ihren Spaziergängen durch die Wälder und ihren Lustfahrten auf dem Wasser teil. Das Geplauder der Kleinen und ihr Wohlgefallen an den Geschichten, die ich ihnen von Elfen und Gnomen, von dem Helden und dem schlauen Bär erzählte, sind angenehme Erinnerungen für mich. Herr Chamberlin weihte mich in die Geheimnisse der Bäume und der wild wachsenden Blumen ein, bis ich mit dem leisen Ohr der Liebe das Emporsteigen des Saftes in der Eiche vernahm und die Sonnenstrahlen von Blatt zu Blatt huschen sah.
so besitze ich auch eine Anschauung von Dingen, die ich nicht sehen kann.
Es scheint mir, als liege in jedem von uns die Fähigkeit, die Eindrücke und Empfindungen zu verstehen, die das Men[S. 124]schengeschlecht von Anfang an gehabt hat. Jedes Individuum besitzt eine unter der Schwelle des Bewußtseins verborgene Erinnerung an die grünende Erde und die murmelnden Gewässer, und weder Blindheit noch Taubheit kann es dieser von vergangenen Generationen her überkommenen Gabe berauben. Diese ererbte Fähigkeit ist eine Art sechsten Sinnes — ein Seelensinn, der zugleich sieht, hört, fühlt.
Ich habe viele Freunde unter den Bäumen in Wrentham. Einer von ihnen, eine herrliche Eiche, ist der besondere Stolz meines Herzens. Ich bringe alle meine übrigen Freunde zu dieser Königin des Waldes hin. Sie steht auf einer Anhöhe bei King Philips Pond, und diejenigen, die in der Baumkunde bewandert sind, behaupten, sie habe hier achthundert bis tausend Jahre gestanden. Nach einer Ueberlieferung warf unter diesem Baume König Philipp, der heldenhafte Indianerhäuptling, seinen letzten Blick auf Himmel und Erde.
Ich hatte auch noch eine andere Baumfreundin, liebenswürdig und nicht so unnahbar wie die große Eiche — eine Linde, die an dem Hoftore von Red Farm wuchs. Eines Nachmittages, während eines furchtbaren Gewitters, spürte ich einen heftigen Krach gegen die Wand des Hauses und wußte, noch ehe es mir jemand sagte, daß die Linde gefallen sei. Wir gingen hinaus, um uns den Heldenbaum anzusehen, der sovielen Stürmen widerstanden hatte, und mein Herz blutete, als ich ihn, der so machtvoll gestritten hatte und jetzt so machtvoll gefallen war, am Boden hingestreckt erblickte.
Ich darf jedoch nicht vergessen, daß ich von meinen Erlebnissen im letzten Sommer erzählen will. Sobald meine Examina vorüber waren, eilten Fräulein Sullivan und ich nach diesem grünen Winkel, wo wir ein kleines Landhaus an einem von den drei Seen besitzen, wegen deren Wrentham berühmt ist. Hier gehörten die langen, sonnigen Tage mir, und[S. 125] jeder Gedanke an Arbeit, College und die lärmende Stadt wurde in den Hintergrund gedrängt. In Wrentham vernahmen wir ein Echo von dem, was in der Welt vorging — Krieg, Bündnis, sozialer Kampf. Wir hörten von den blutigen, unnötigen Seeschlachten in dem weitabgelegenen Stillen Ozean und erfuhren von den Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit. Wir wußten, daß jenseits der Grenzen unseres Edens die Menschen im Schweiße ihres Angesichts Geschichte machten, während sie doch besser getan hätten, sich einen Feiertag zu gönnen. Aber wir kümmerten uns wenig um diese Dinge. Sie würden vorübergehen; hier lagen Seen und Wälder, weite mit Tausendschönchen übersäte Felder und süß duftende Wiesen, und diese werden in aller Zukunft fortbestehen.
Leute, die der Meinung sind, daß uns alle sinnlichen Eindrücke durch Auge und Ohr zugehen, haben sich gewundert, daß ich, vielleicht abgesehen von dem Fehlen des Pflasters, einen Unterschied zwischen den Straßen der Stadt und den Wegen auf dem Lande bemerke. Sie vergessen, daß mein ganzer Körper auf die mich umgebenden Verhältnisse reagiert. Das Getöse und der Lärm der Stadt peitscht meine Gesichtsnerven; ich fühle das rastlose Auf- und Niederwogen einer ungesehenen Menschenmenge, und das mißtönende Treiben macht einen peinlichen Eindruck auf mich. Das Rollen der schweren Wagen auf dem harten Pflaster und das eintönige Klappern der Maschinen sind um so marternder für die Nerven, wenn jemandes Aufmerksamkeit nicht durch die bunten, wechselnden Bilder abgelenkt wird, die sich sehenden Menschen in den geräuschvollen Straßen auf Schritt und Tritt darbieten.
Auf dem Lande dagegen erblickt man nur die Schönheiten der Natur, und die Seele wird nicht traurig gestimmt durch den erbarmungslosen Kampf um das bloße Dasein, der in der dichtbevölkerten Stadt wütet. Zu verschiedenenmalen habe[S. 126] ich die engen, schmutzigen Straßen besucht, in denen die armen Leute wohnen, und heißer Zorn und Entrüstung steigen in mir auf bei dem Gedanken, daß gute Menschen es über sich gewinnen können, in prächtigen Häusern zu wohnen und gesund und stark zu sein, während andere dazu verurteilt sind, in häßlichen, sonnenlosen Behausungen zu weilen und in Armseligkeit zu verkümmern. Die Kinder, die sich auf diesen schmutzigen Straßen halbnackt und abgemagert umhertreiben, schrecken vor jeder ausgestreckten Hand zurück, als sollten sie einen Schlag bekommen. Ich kann die Erinnerung an die lieben kleinen Geschöpfe nicht loswerden, und empfinde einen fortwährenden nagenden Schmerz dabei. Auch Männer und Frauen gibt es, die alle an Körper und Geist verkrüppelt und zurückgeblieben sind. Ich habe ihre harten, rauhen Hände in den meinigen gehalten und begriffen, was für ein endloses Ringen ihr Leben sein muß — nichts weiter als eine Kette nutzloser Versuche, emporzukommen. Ihr Dasein scheint ein ungeheures Mißverhältnis zwischen Anstrengung und Erfolg zu sein. Sonne und Luft sind Gottes freies Geschenk an jedermann; sind sie dies aber in der Tat? In die schmutzigen Straßen der Stadt drüben dringt kein Sonnenstrahl, und die Luft ist verdorben. O Mensch, wie kannst du deinen Bruder vergessen, ihm hindernd in den Weg treten und dabei beten: „Unser täglich Brot gib uns heute“, wenn er keins hat. O wollten doch jene Menschen die Stadt, deren Glanz und geräuschvolles Treiben, ihr Gold verlassen und zu Wald und Feld, zu einer schlichten, ehrenhaften Lebensweise zurückkehren! Dann würden ihre Kinder kräftig wie edle Bäume werden und ihre Gedanken friedlich und lauter wie die Blumen am Wegesrain. Es ist mir unmöglich, diese Gedanken zu verbannen, wenn ich nach einem arbeitsreichen Jahre in der Stadt auf das Land zurückkehre.
Was für eine Freude ist es für mich, den weichen, elastischen Boden wieder unter meinen Füßen zu fühlen, auf grasbewachsenen Wegen zu Bächen zu wandern, deren Ufer mit Farnkraut bedeckt sind und in deren sich kräuselnden Wellen ich meine Hände kühlen kann, oder über ein Steinmäuerchen zu klettern und mich auf grünen Wiesen in ausgelassener Fröhlichkeit umherzutummeln, mich auf dem Boden zu wälzen und die Abhänge emporzuklimmen.
Nächst einem behaglichen Spaziergange kommt als ein Hauptvergnügen für mich ein Ausflug auf meinem Tandem in Betracht. Es ist ein herrliches Gefühl, wenn mir der Wind ins Gesicht weht und ich die elastische Bewegung meines Stahlrosses empfinde. Das rasche Durchschneiden der Luft gewährt mir ein köstliches Gefühl der Kraft und des Schwunges, und bei der Anstrengung hüpfen meine Pulse und jubelt mein Herz.
Wenn irgend möglich, begleitet mich mein Hund auf meinen Ausflügen zu Fuß, Rad, Pferd oder Boot. Ich habe viele Freunde unter den Hunden gehabt — riesige Bullenbeißer, sanfte Wachtelhündchen, Jagdhunde und ehrbare, zutrauliche Bull Terriers. Augenblicklich besitzt einer von diesen letzteren die ganze Zuneigung meines Herzens. Er hat einen langen Stammbaum, ein geringeltes Schwänzchen und das drolligste Gesicht von der Welt. Meine Hundefreunde scheinen Kenntnis von meinen Gebrechen zu haben und halten sich stets dicht an meiner Seite, wenn ich allein bin. Ich liebe ihre Zärtlichkeiten und das beredte Wedeln ihres Schweifes.
Hält mich ein regnerischer Tag im Zimmer gefangen, so vertreibe ich mir die Zeit wie andere Mädchen. Ich stricke und häkele gern; ich lese aufs Geratewohl, wie ich es liebe, hier eine Zeile und dort eine oder spiele vielleicht mit einem Freunde eine oder zwei Partien Dame oder Schach. Ich habe ein besonderes Brett, auf dem ich diese Spiele spiele. Die Felder sind[S. 128] vertieft, sodaß die Figuren in ihnen feststehen. Die schwarzen Damensteine sind flach und die weißen oben gewölbt. Jeder Stein hat in der Mitte eine Vertiefung, in der ein Metallknopf zur Unterscheidung der Dame von den übrigen Steinen befestigt werden kann. Die Schachfiguren sind von zweierlei Größe, die weißen größer als die schwarzen, sodaß ich keine Mühe habe, die Operationen meines Gegners zu verfolgen, indem ich nach jedem Zuge meine Hände leicht über das Brett gleiten lasse. Das bei dem Bewegen der Figuren von einem Felde zum anderen entstehende Geräusch zeigt mir an, wann die Reihe an mir ist.
Bin ich zufällig ganz allein und in schlechter Laune, so lege ich mir eine Patience — ein Spiel, das ich sehr liebe. Ich benutze dazu Spielkarten, die rechts oben mit Braillezeichen versehen sind, die den Wert der Karte angeben.
Sind Kinder in meiner Nähe, so weiß ich kein größeres Vergnügen, als mit ihnen herumzutollen. Selbst das kleinste Kind gibt für mich einen ausgezeichneten Gesellschafter ab, und ich freue mich, sagen zu können, daß die Kinder mich in der Regel gern haben. Sie führen mich herum und zeigen mir die Dinge, die für sie von Interesse sind. Natürlich können die Kleinen noch nicht mit ihren Fingern buchstabieren, aber ich versuche, ihnen die Worte von den Lippen abzulesen. Wenn es mir nicht gelingt, so nehmen sie ihre Zuflucht zu Gestikulationen. Mitunter mißverstehe ich sie und tue etwas Verkehrtes. Dann brechen sie über mein Versehen in kindliches Gelächter aus, und die Pantomime beginnt von neuem. Ich erzähle ihnen oft Geschichten oder lehre sie ein Spiel, und die Stunden enteilen uns im Fluge und hinterlassen uns frohe und heitere Erinnerungen.
Auch Museen und Kunstsammlungen sind für mich eine Quelle des Genusses und der Begeisterung. Ohne Zweifel wird es manchem seltsam erscheinen, daß die Hand ohne Unter[S. 129]stützung durch das Gesicht in dem kalten Marmor Handlung, Empfindung, Schönheit soll wahrnehmen können; und doch habe ich in der Tat hohen Genuß bei der Berührung großer Kunstwerke. Wenn meine Fingerspitzen die Linien und die schwellenden Formen verfolgen, so finden die die Idee und die Empfindung heraus, die der Künstler dargestellt hat. Ich kann in den Zügen der Götter und Heroen Haß, Mut und Liebe wahrnehmen, genau so, wie ich diese Gemütsbewegungen bei lebenden Personen erkennen kann, wenn ich deren Gesicht berühren darf. Ich fühle aus der Haltung der Diana die Anmut, die Waldesfreiheit und den Geist heraus, der den Berglöwen zähmt und die wildesten Leidenschaften unterjocht. Meine Seele ergötzt sich an der Ruhe und den anmutigen Wellenlinien einer Venus, und in Barrés Bronzen enthüllen sich mir die Geheimnisse des Dschungels.
Ein Medaillon Homers hängt in meinem Studierzimmer an der Wand, in passender Höhe, sodaß ich es leicht erreichen und mit liebender Verehrung das schöne, traurige Antlitz berühren kann. Wie gut ich jede Linie auf dieser hoheitsvollen Stirn kenne — Furchen, die das Leben und die bitteren Erfahrungen des Kampfes und des Schmerzes gezogen haben, diese blinden Augen, die selbst in dem toten Gips das Licht und den blauen Himmel seines geliebten Hellas suchen und vergebens suchen, diesen schönen festen, aufrichtigen, liebevollen Mund! Es ist das Antlitz eines Dichters und eines Mannes, der mit dem Schmerz vertraut ist. Ach, wie gut ich dieses Gebrechen verstehe, das ewige Dunkel, in dem er weilte —
In meiner Phantasie kann ich hören, wie Homer singend sich mit unsicheren, langsamen Schritten seinen Weg von Lager zu[S. 130] Lager tastet — singend von Leben, von Liebe, von Krieg, von den Heldentaten eines edlen Volkes. Es war ein wunderbares, herrliches Lied, das dem blinden Dichter unsterblichen Ruhm, die Bewunderung aller Zeiten eintrug.
Ich bin mitunter im Zweifel, ob die Hand nicht empfänglicher für die Schönheiten der Plastik ist als das Auge. Ich sollte meinen, der wunderbare rhythmische Fluß der Linien ließe sich besser fühlen als sehen. Wie dem aber auch sei, ich weiß, daß ich den Herzschlag der alten Griechen in ihren marmornen Göttern und Göttinnen fühlen kann.
Eine fernere Unterhaltung, zu der sich freilich seltener die Gelegenheit bietet als zu den übrigen, ist der Theaterbesuch. Ich habe viel mehr Genuß von der Beschreibung eines Stückes während der Bühnenaufführung als von seiner Lektüre, weil ich mich dabei in die Mitte der dargestellten aufregenden Ereignisse selbst versetzt glaube. Ich habe das Glück gehabt, ein paar große Schauspieler und Schauspielerinnen kennen zu lernen, die die Macht besaßen, die Zuhörer so in ihrem Bann zu halten, daß diese darüber Zeit und Raum vergaßen und in der romantischen Vergangenheit lebten. Ich habe Gesicht und Kostüm von Fräulein Ellen Terry berühren dürfen, während sie das Ideal einer Königin verkörperte, und ihr ganzes Wesen atmete eine Erhabenheit, die auch das herbste Weh verklärt. Neben ihr stand Sir Henry Irving, angetan mit den Insignien der Königswürde, und in jeder Gebärde, in seiner ganzen Haltung lag eine Geisteshoheit, in jedem Zuge seines ausdrucksvollen Gesichtes sprach sich ein Herrscherbewußtsein aus, das überwältigend wirkte. In dem Königsantlitz, das er als Maske trug, lagen eine Vornehmheit und ein Erhabensein über den Schmerz, die ich nie vergessen werde.
Auch Herrn Jefferson kenne ich. Ich bin stolz darauf, ihn zu meinen Freunden zählen zu dürfen. Ich besuche das Theater[S. 131] stets, wenn ich mich an dem Orte befinde, wo er auftritt. Zum erstenmal sah ich ihn spielen, als ich in New York in die Schule ging. Er trat als Rip van Winkle auf. Ich hatte oft die Erzählung gelesen, aber niemals war mir der Reiz von Rips sanfter, kluger, gütiger Handlungsweise so zum Bewußtsein gekommen, wie in dem Stücke. Herrn Jeffersons schöne, ergreifende Darstellung riß mich vor Entzücken hin. Ich habe ein Bild des alten Rip in meinen Fingern, das sich denselben unauslöschlich eingeprägt hat. Nach der Vorstellung führte mich Fräulein Sullivan zu ihm hinter die Kulissen, und ich betastete hier sein seltsames Gewand, sein wallendes Haar, seinen Bart. Herr Jefferson ließ mich sein Gesicht berühren, sodaß ich mir eine Vorstellung von seinem Aussehen machen konnte, als er von jenem seltsamen zwanzigjährigen Schlafe erwachte, und er zeigte mir, wie der arme alte Rip auf seinen Füßen hin- und herschwankte.
Auch in den »Rivals« habe ich ihn gesehen. Einst spielte er mir, als ich ihm in Boston, wo er auftrat, einen Besuch machte, die packendsten Szenen der »Rivals« vor. Das Empfangszimmer, in dem wir saßen, diente als Bühne. Er und sein Sohn setzten sich an den großen Tisch, und Bob Acres schrieb seine Herausforderung. Ich verfolgte alle seine Bewegungen mit den Händen und erhielt einen Eindruck von der Komik seiner seltsamen Gebärden, den ich nie erhalten hätte, wenn mir alles nur in die Hand buchstabiert worden wäre. Dann erhoben sich beide, um das Duell auszufechten, und ich folgte den schnellen Stößen, dem Parieren der Degen und dem Zittern des armen Bob, als ihm allmählich der Mut entsank. Dann gab sich der große Schauspieler einen Ruck und zog seine Mundwinkel herunter — und im Nu befand ich mich in dem Dorfe Falling Water und fühlte Schneiders rauhes Haupt an meinem Knie. Herr Jefferson[S. 132] rezitierte die schönsten Szenen aus »Rip van Winkle«, in denen die Träne dem Lächeln dicht auf dem Fuße folgt. Er bat mich, ihm, soweit es mir möglich sei, die Gestikulationen und das Spiel anzugeben, die ich zu beobachten wünschte. Natürlich habe ich keine Ahnung von dramatischem Spiel, und ich konnte nur aufs Geratewohl Andeutungen machen; aber mit meisterhafter Kunst paßte er das Spiel den Worten an. Rips Seufzer, als er murmelt: „Wird denn ein Mann so rasch vergessen, wenn er fort ist?“, die Verdutztheit, mit der er Hund und Gewehr nach seinem langen Schlafe sucht, und seine komische Unentschlossenheit betreffs der Unterzeichnung des Vertrages mit Derrick — all dies schien aus dem Leben selbst gegriffen zu sein, das heißt, aus dem idealen Leben, in dem sich die Ereignisse nach unseren Wünschen richten.
Ich erinnere mich meines ersten Theaterbesuches noch sehr gut. Es war vor zwölf Jahren. Die kleine Schauspielerin Elsie Leslie war in Boston, und Fräulein Sullivan nahm mich zur Aufführung von »The Prince and the Pauper« mit. Nie werde ich den Wechsel von Heiterkeit und Trauer vergessen, der in dem hübschen kleinen Stück herrschte, oder das wunderbare Kind, das in ihm auftrat. Nach Beendigung der Vorstellung durfte ich hinter die Kulissen gehen und sie in ihrem Königsgewande betasten. Es würde schwer gewesen sein, ein lieblicheres oder liebenswürdigeres Kind zu finden als Elsie, wie sie mit ihren auf die Schultern herabfallenden goldenen Locken dastand, mit einem strahlenden Lächeln um den Mund, ohne die geringste Spur von Befangenheit oder Ermüdung, trotzdem sie vor einer zahllosen Zuschauermenge gespielt hatte. Ich lernte damals eben sprechen und hatte mir vorher ihren Namen so oft wiederholt, bis ich ihn ganz deutlich aussprechen konnte. Man kann sich mein Entzücken denken, als sie die wenigen Worte, die ich zu ihr sprach, verstand[S. 133] und mir sofort die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte.
Ist es nun nicht wahr, daß mein Leben mit all seinen Beschränkungen in vielen Punkten dem Leben der großen Welt gleicht? Alles besitzt sein Wunderbares, selbst Dunkelheit und Stille, und ich lerne mich unter allen Umständen mit meiner Lage bescheiden.
Manchmal allerdings befällt mich ein Gefühl der Vereinsamung wie ein kalter Nebel, wenn ich allein bin und vor dem geschlossenen Tore des Lebens wartend sitze. Da drinnen ist Licht und Musik und heitere Geselligkeit; aber mir ist der Eintritt verwehrt. Das Schicksal versperrt mir schweigend, erbarmungslos den Weg. Gern würde ich wegen seines unabwendbaren Beschlusses mit ihm hadern, denn mein Herz ist noch ungebärdig und leidenschaftlich; aber meine Zunge will die bitteren, nutzlosen Worte, die sich auf meine Lippen drängen, nicht aussprechen, und sie sinken in mein Herz zurück wie unvergossene Tränen. Unermeßliches Schweigen lagert über meiner Seele. Dann naht sich die Hoffnung mit einem Lächeln und flüstert mir zu: „Auch im Selbstvergessen liegt Genuß.“ Und so versuche ich das Licht in anderer Augen zu meiner Sonne, die Musik in anderer Ohren zu meiner Symphonie, das Lächeln auf anderer Lippen zu meinem Glücke zu machen.
Beglückendes Gefühl der Freundschaft. — Bischof Brooks. — Kein Verlangen nach dem Jenseits. — Henry Drummond. — Dr. Oliver Wendell Holmes. — Whittier. — Dr. Edward Everett Hale. — Dr. Alexander Graham Bell.— Charles Dudley Warner. — Mark Twain u. a. — Schlußwort.
Ich wollte, ich könnte in dieser Skizze die Namen aller derer aufführen, die zur Erhöhung meines Glückes beigetragen haben! Teils würde man sie in den Annalen unserer[S. 134] Literatur aufgezeichnet finden, vielen Herzen teuer, während andere den meisten meiner Leser völlig unbekannt sein dürften. Aber der Einfluß ihrer Persönlichkeit wird, obgleich nichts von ihm verlautet, in dem Dasein derer, die durch ihn gebildet und veredelt worden sind, eine unvergängliche Rolle spielen. Das sind Festtage in unserem Leben, wenn wir Menschen begegnen, die auf uns wirken wie ein schönes Gedicht, Menschen, deren Handschlag voller unausgesprochener Sympathie ist und deren milde, reiche Naturen unserem ungestümen, ungeduldigen Gemüte eine wunderbare Ruhe mitteilen, die im innersten Kerne ihres Wesens göttlichen Ursprunges ist. Die Rastlosigkeit, die Erbitterung, die Qual, die uns verfolgt haben, verschwinden wie böse Träume, und wir erwachen, um die Schönheit und Harmonie von Gottes wirklicher Welt mit neuen Augen zu erblicken und mit neuen Ohren zu vernehmen. Die leeren Förmlichkeiten, die unser Alltagsleben ausfüllen, gewinnen plötzlich eine höhere, tiefere Bedeutung. Mit einem Worte, in der Nähe solcher Freunde fühlen wir, daß alles gut ist. Vielleicht haben wir sie nie zuvor gesehen, und vielleicht werden sich unsere Lebenspfade nie wieder kreuzen, aber der Einfluß ihrer ruhigen, milden Naturen wirkt wie ein kühlendes Bad auf unsere Unzufriedenheit, und wir spüren die von ihm ausgehende heilkräftige Erquickung, wie der Ozean die Bergströme spürt, die seine Fluten erfrischen.
Ich bin oft gefragt worden: „Werden Sie von den Leuten nicht belästigt?“ Ich verstehe nicht ganz, was dies heißen soll. Ich glaube, die Besuche beschränkter und neugieriger Menschen, namentlich die der Zeitungsberichterstatter, sind stets unbequem. Auch liebe ich Leute nicht, die sich im Gespräch zu meinem Standpunkt herabzulassen bemühen. Sie gleichen denen, die, wenn sie neben uns hergehen, sich bemühen, ihre Schritte zu verkürzen, um sie den unsrigen anzu[S. 135]passen; die Heuchelei wirkt in beiden Fällen gleich erbitternd.
Die Hände der Menschen führen für mich eine beredte Sprache. Die Berührung mancher Hände ist eine Beleidigung. Ich bin Leuten begegnet, die so bar aller Lebensfreude waren, daß, wenn ich ihre eisigen Fingerspitzen berührte, es mir vorkam, als reiche ich einem Nordoststurm die Hand. Es gibt andere, deren Hände gleichsam Sonnenstrahlen an sich tragen, so daß mir ihre Berührung das Herz erwärmt. Es braucht nur der Druck einer Kinderhand zu sein; aber für mich liegt darin ebensoviel erquickender Sonnenstrahl wie für andere in einem Liebesblicke. Ein herzlicher Händedruck oder ein freundlicher Brief macht mir stets Freude.
Ich habe viele Freunde in der Ferne, die ich nie gesehen habe. In der Tat sind ihrer so viele, daß ich oft außer stande bin, ihre Briefe zu beantworten; ich wünsche ihnen jedoch hier zu sagen, daß ich ihnen stets für ihre gütigen Worte dankbar bin, so unzulänglich auch die Anerkennung meinerseits ausfallen mag.
Ich rechne es zu den angenehmsten Erinnerungen meines Lebens, viele bedeutende Männer kennen gelernt zu haben und mit ihnen in persönliche Berührung gekommen zu sein. Nur wer Bischof Brooks kennt, vermag zu ermessen, wie wertvoll seine Freundschaft für die ist, die sie besitzen. Als Kind liebte ich es, auf seinen Knien zu sitzen und meine kleine Hand auf seine große zu legen, während Fräulein Sullivan mir in die andere seine herrlichen Worte über Gott und das Jenseits buchstabierte. Ich hörte ihm mit kindlichem Staunen und Entzücken zu. Mein Geist konnte dem Fluge des seinigen nicht folgen, aber er lehrte mich wahren Lebensgenuß, und ich verließ ihn nie, ohne einen erhebenden Gedanken mit mir davonzutragen, der an Schönheit und Tiefe der Bedeutung zunahm, je mehr ich heranwuchs. Als ich einst über die große Menge der Religionen[S. 136] verwirrt war, sagte er zu mir: „Es gibt nur eine Weltreligion, Helen — die Religion der Liebe. Liebe deinen himmlischen Vater von ganzem Herzen und mit ganzer Seele, liebe jedes Kind Gottes, so innig du es nur kannst, und erinnere dich daran, daß das Gute eher Aussicht auf Verwirklichung besitzt als das Böse, und du hast den Schlüssel zum Himmelreich.“ — Und sein Leben bildete ein treffliches Beispiel zu dieser großen Wahrheit. In seiner edlen Seele standen Liebe und das umfassendste Wissen im Bunde mit dem Glauben, der zur Erkenntnis geworden war. Er erblickte
Bischof Brooks lehrte mich kein besonderes Glaubensbekenntnis oder Dogma; allein er prägte meinem Geiste zwei große Ideen ein — die Eigenschaft Gottes als Vater und die der Menschen als Brüder — und setzte mir auseinander, daß diese Wahrheiten allen Glaubensbekenntnissen und Kulturformen zugrunde liegen. Gott ist die Liebe, Gott ist unser Vater, wir sind seine Kinder; daher werden sich die dunkelsten Wolken dereinst zerteilen, und obgleich das Recht mit Füßen getreten werden kann, so soll das Unrecht doch nicht triumphieren.
Ich bin hier auf Erden zu glücklich, um viel an das Jenseits zu denken, abgesehen davon, daß ich mich erinnere, daß geliebte Freunde im Himmelreich meiner warten. Trotz der Reihe von Jahren scheinen sie mir doch so nahe zu sein, daß ich mich keinen Augenblick wundern würde, wenn sie meine Hand ergriffen und zärtliche Worte sprächen, wie sie dies vor ihrem Hinscheiden zu tun pflegten.
Seit Bischof Brooks’ Tode habe ich die Bibel von Anfang bis zu Ende gelesen, ebenso einige philosophische Werke über[S. 137] Religion, unter ihnen Swedenborgs »Himmel und Hölle« und Drummonds »Ascent of Man«; ich habe jedoch kein Glaubensbekenntnis oder System gefunden, das mich mehr befriedigt hätte als Bischof Brooks’ Religion der Liebe. Ich kannte Herrn Henry Drummond persönlich, und bei der Erinnerung an seinen kräftigen, warmen Händedruck ist es mir, als erteilte er mir seinen Segen. Er war der angenehmste Gesellschafter, den man sich denken kann. Er besaß ein so reiches Wissen und war so geistvoll, daß er jedermann mit sich fortriß.
Ich erinnere mich noch sehr gut meines ersten Zusammentreffens mit Dr. Oliver Wendell Holmes. Er hatte Fräulein Sullivan und mich eingeladen, ihn eines Sonntagnachmittags zu besuchen. Es war zu Beginn des Frühjahrs, kurz, nachdem ich sprechen gelernt hatte. Wir wurden sofort nach der Bibliothek gewiesen, wo wir ihn in einem großen Armstuhl bei einem offenen Feuer, das im Kamin glühte und prasselte, sitzen fanden, in Erinnerungen vergangener Zeiten versunken, wie er sagte.
„Und zugleich in das Rauschen des Charlesflusses“, — fügte ich hinzu.
„Ja,“ — antwortete er, „der Charlesfluß erinnert mich an viele glückliche Stunden.“ — Es herrschte ein Geruch von bedrucktem Papier und Leder in dem Raume, der mir sagte, daß es voller Bücher sei, und ich streckte unwillkürlich meine Hand aus, um sie zu suchen. Ich ergriff eine schöne Ausgabe von Tennysons Gedichten, und als mir Fräulein Sullivan gesagt hatte, was es für ein Buch sei, begann ich zu rezitieren:
Aber ich hielt plötzlich inne. Ich fühlte Tränen auf meiner Hand. Ich hatte meinen geliebten Dichter zum Weinen gebracht und war ganz untröstlich darüber. Er nötigte mich in[S. 138] seinen Armstuhl und brachte mir verschiedene interessante Dinge zum Befühlen, und auf seine Bitte deklamierte ich ihm auch »The Chambered Nautilus«, das damals mein Lieblingsgedicht war. Später besuchte ich Dr. Holmes noch öfters und lernte in ihm sowohl den Menschen wie den Dichter lieben.
An einem schönen Sommertage, nicht lange nach meiner ersten Begegnung mit Dr. Holmes, besuchten Fräulein Sullivan und ich Herrn Whittier in seinem stillen Heim am Merrimac. Seine Ritterlichkeit und seine gewählte Ausdrucksweise gewannen ihm sofort mein Herz. Er besaß einen Band seiner Gedichte in Hochdruck, aus dem ich »In School Days« las. Er war entzückt, daß ich die Worte so gut aussprechen konnte, und sagte, es sei ihm nicht schwer gefallen, mich zu verstehen. Dann richtete ich einige Fragen betreffs des Gedichtes an ihn und las seine Antwort ab, indem ich ihm meine Finger auf die Lippen legte. Er erklärte, er selbst sei der kleine Knabe in dem Gedicht, der Name des Mädchens sei Sally gewesen und noch mehr dergleichen, was ich aber vergessen habe. Ich deklamierte auch »Laus Deo«, und als ich die Schlußworte sprach, legte er mir die Statue eines Sklaven in die Hände, von dessen zusammengekrümmter Gestalt die Ketten abfielen, gerade so wie sie von Petrus’ Gliedern abfielen, als der Engel ihn aus dem Kerker herausführte. Später gingen wir in sein Studierzimmer, und hier schrieb er ein Autogramm[12] für meine Lehrerin nieder und drückte ihr seine Bewunderung über das, was sie getan hatte, aus, indem er zu mir sagte: „Sie ist deine geistige Befreierin“. Dann geleitete er mich bis zur Gartenpforte und[S. 139] küßte mich zum Abschiede zärtlich auf die Stirn. Ich versprach ihm, ihn im folgenden Sommer wieder zu besuchen; er starb aber, ehe ich mein Versprechen erfüllen konnte.
Dr. Edward Everett Hale ist einer meiner allerältesten Freunde. Ich kenne ihn seit meinem achten Lebensjahre, und meine Liebe zu ihm hat zugenommen, je älter ich wurde. An seiner weisen, liebevollen Teilnahme haben Fräulein Sullivan und ich uns in den Tagen der Prüfung und Trübsal aufgerichtet, und seine starke Hand hat uns über manche steile und steinige Strecke unseres Pfades hinweggeholfen, und was er für uns getan hat, das hat er für tausend andere getan, die schwierige Aufgaben zu erfüllen haben. Er hat die alten Schläuche des Dogmas mit dem neuen Wein der Liebe gefüllt und den Menschen gezeigt, was es heißt, zu glauben, zu leben und frei zu sein. Was er gelehrt hat, das haben wir in seinem Leben auf das schönste ausgedrückt gefunden — Vaterlandsliebe, Güte dem geringsten seiner Brüder gegenüber und ein aufrichtiges Verlangen, sich über das irdische emporzuschwingen. Er ist ein Prophet und Herzenskündiger gewesen, ein mächtiger »Täter des Worts«, der Freund seines ganzen Geschlechtes — Gott segne ihn!
Meine erste Begegnung mit Dr. Alexander Graham Bell habe ich schon erwähnt. Seitdem habe ich viele glückliche Tage mit ihm in Washington und auf seinem schönen Landsitz im Innern von Cape Breton Island verlebt, in der Nähe von Baddeck, dem durch Charles Dudley Warners Buch berühmt gewordenen Dorfe. Hier habe ich in Dr. Bells Laboratorium oder auf den Feldern am Ufer des großen Bras d’Or viele genußreiche Stunden zugebracht, in denen er mir von seinen Experimenten erzählte und ich ihm bei dem Steigenlassen von Drachen half, mittels deren er die Gesetze, die die Luftschiffahrt der Zukunft beherrschen werden, zu ergründen hofft. Dr. Bell[S. 140] hat bedeutende Leistungen auf vielen wissenschaftlichen Gebieten aufzuweisen und besitzt die Gabe, alles, was er in die Hand nimmt, interessant zu machen, selbst die verwickeltsten Fragen. Man hat bei ihm das Gefühl, daß, wenn man nur ein wenig mehr Zeit hätte, man auch ein Erfinder sein könnte. Dazu hat er eine humoristische und eine poetische Seite. Seine Hauptleidenschaft ist seine Liebe zu Kindern. Nie ist er so durchaus glücklich, als wenn er ein kleines taubstummes Kind in seinen Armen hält. Seine Arbeiten zum Besten der Taubstummen werden fortleben und noch über künftige Generationen von Kindern Segen verbreiten, und wir lieben ihn ebenso für das, was er selbst geleistet, wie für das, wozu er andere angeregt hat.
In den zwei Jahren, die ich in New York verlebte, hatte ich oft Gelegenheit, mit hervorragenden Männern zu sprechen, deren Namen ich oft gehört, mit denen ich aber niemals zusammenzutreffen gehofft hatte. Zum größten Teile lernte ich diese in dem Hause meines lieben Freundes Herrn Laurence Hutton kennen. Es war eine große Vergünstigung, ihn und die liebe Frau Hutton in ihrer reizenden Villa besuchen zu dürfen, ihre Bibliothek zu besichtigen und die herrlichen Empfindungen und glänzenden Gedanken zu lesen, die begabte Freunde für sie niedergeschrieben hatten. Man hat mit Recht gesagt, Herr Hutton besitzt die Fähigkeit, aus jedem die besten Gedanken und die zartesten Empfindungen herauszulocken. Man braucht nicht die Erzählung »A Boy I Knew« zu lesen, um ihn zu verstehen — den mit dem reinsten, kindlichsten Gemüt begabten Mann, den treuen Freund in allen Lebenslagen, der sowohl das Leben der Hunde wie das seiner Mitmenschen liebevoll verfolgt.
Frau Hutton ist eine aufrichtige, bewährte Freundin. Vieles, was ich für das Beste und Wertvollste halte, verdanke ich ihr. Oft hat sie mir während meines Universitätsstudiums[S. 141] mit Rat und Tat beigestanden. Wenn ich meine Lebensaufgabe schwer und entmutigend finde, so schreibt sie mir Briefe, die mich wieder froh und tapfer machen; denn sie gehört zu denen, von denen wir lernen können, daß die Erfüllung einer mühevollen Pflicht die Erfüllung der nächsten einfacher und leichter macht.
Herr Hutton führte mich bei vielen seiner literarischen Freunde ein, von denen die bedeutendsten Herr William Dean Howells und Mark Twain sind. Auch mit Herrn Richard Watson Gilder und Herrn Edmund Clarence Stedman traf ich zusammen. Auch Herrn Charles Dudley Warner lernte ich kennen, den reizendsten Erzähler und liebenswürdigsten Freund, dessen Gutherzigkeit so umfassend war, daß man von ihm in Wahrheit sagen konnte, er liebte alle lebenden Wesen und seinen Nächsten wie sich selber. Einmal stellte mir Herr Warner den Dichter der Wälder, — Herrn John Burroughs, vor. Sie waren alle liebenswürdig und sympathisch, und ich wurde mir des Zaubers ihrer Persönlichkeit ebenso bewußt, wie ich früher die Schönheit ihrer Abhandlungen und Gedichte bewundert hatte. Ich konnte nicht Schritt halten mit all diesen Schriftstellern, wie sie von einem Gegenstand zum anderen übersprangen und sich in tiefsinnige Disputationen einließen oder in der Unterhaltung ihren Witz glänzen ließen. Ich glich dem kleinen Ascanius, der mit seinen trippelnden Füßchen den heroischen Schritten seines Vaters Aeneas auf seinem Lebenswege, der ihn mächtigen Geschicken entgegenführte, folgte. Aber sie teilten mir viel Interessantes mit. So erzählte mir Herr Gilder von seinen Reisen im Mondschein durch die weite Wüste zu den Pyramiden, und in seinem Briefe, den er mir schrieb, drückte er unter der Unterschrift seinen Stempel so tief in das Papier hinein, daß ich ihn fühlen konnte. Dies erinnert mich daran, daß Dr. Hale seinen Briefen an mich einen[S. 142] persönlichen Zug verlieh, indem er seine Unterschrift in Brailleschrift gab. Von Mark Twains Lippen las ich ein paar seiner prächtigen Erzählungen ab. Er hat seine eigene Art, zu denken, zu sprechen und zu handeln. Ich fühle das Zwinkern seines Auges in seinem Händedrucke. Eben dadurch, daß er seine cynische Weisheit in einer unsagbar drolligen Weise vorbringt, erweckt er die Empfindung, daß sein Herz voll des tiefsten, innigsten Mitgefühls ist.
Es gibt noch eine Menge anderer interessanter Leute, mit denen ich in New York zusammengetroffen bin: Frau Mary Mapes Dodge, die beliebte Herausgeberin vom »St. Nicholas-Magazine«, und Frau Riggs (Kate Douglas Wiggin), die anmutige Verfasserin von »Patsy«. Ich erhielt von ihnen Geschenke, bei deren Auswahl das Herz mitgesprochen hat, Bücher mit ihren eigenen Gedanken, seelenvolle Briefe und Photographien, die ich mir immer und immer wieder beschreiben lasse. Allein mir fehlt der Raum, hier aller meiner Freunde zu gedenken, und in der Tat gibt es in Bezug auf sie Dinge, die sich hinter Cherubsschwingen bergen, Dinge, die zu heilig sind, um in kalte Druckschrift umgesetzt zu werden. Nur mit innerem Widerstreben habe ich soeben von Frau Laurence Hutton gesprochen.
Ich will noch zwei weitere befreundete Personen erwähnen. Die eine ist Frau William Thaw in Pittsburgh, die ich oft auf ihrem Landsitze in Lyndhurst besucht habe. Sie ist stets damit beschäftigt, jemand glücklich zu machen, und all die Jahre über, die meine Lehrerin und ich sie kennen, haben wir stets bei ihr großmütige Hilfe und weisen Rat gefunden.
Auch meinem anderen Freunde bin ich zu tiefem Danke verpflichtet. Er ist wegen seiner mächtigen Hand, mit der er große Unternehmungen leitet, weit und breit bekannt, und seine bewundernswerten Eigenschaften haben ihm die allgemeine Achtung erworben. Freundlich zu jedermann tut er unausgesetzt[S. 143] in der Stille und unbemerkt Gutes. Wiederum berühre ich den Kreis geachteter Namen, die ich nicht nennen darf, aber ich möchte gern seine Hochherzigkeit und seine rege Teilnahme an meinem Geschick hervorheben, die es mir möglich gemacht haben, die Universität zu besuchen.
So haben meine Freunde mein Leben zu dem gemacht, was es ist. Auf tausenderlei Art haben sie meine Gebrechen in herrliche Vorrechte verwandelt und mich in den Stand gesetzt, heiter und glücklich in dem von meinen körperlichen Mängeln geworfenen Schatten zu wandeln.
[12] With great admiration of thy noble work in releasing from bondage the mind of thy dear pupil, I am truly thy friend, John G. Whittier. (Mit der größten Bewunderung für dein edles Werk der Befreiung des Geistes deiner lieben Schülerin von der Knechtschaft bin ich dein aufrichtiger Freund John G. Whittier.)
Erste Schreibversuche. — Zwei Briefe an die blinden Mädchen im Perkinsschen Institut. — Brief an Herrn Anagnos mit der Schilderung eines Picknicks im Walde. — Brief an Onkel Morrie über den Ausflug nach Plymouth. — Brief an Herrn Anagnos mit einigen französischen und griechischen Redensarten. — Brief an Tante Eveline Keller mit Übersetzungen von griechischen, französischen, lateinischen und deutschen Redensarten und Wörtern. — Brief mit astronomischen Angaben. — Briefe an Herrn Anagnos über seine Reise nach Europa. — Brief mit Wiedergabe des Inhalts eines Andersenschen Märchens. — Brief an Fräulein Sullivan. — Brief an Whittier. — Brief an Dr. Holmes. — Brief an Fräulein Sarah Fuller. — Brief an den nachmaligen Bischof Brooks. — Brief über Tommy Stringer. — Brief über die Reise nach dem Niagarafall. — Brief über den Besuch der Weltausstellung in Chicago. — Brief über ein Zusammentreffen mit Mark Twain. — Brief über den Besuch des Bostoner Museums. — Brief über den Eindruck, den das Orgelspiel auf Helen Keller gemacht hat. — Stellen aus verschiedenen Briefen über Leidensgefährten. — Brief an Dr. Hale, geschrieben am Vorabend der Howefeier.
Fräulein Sullivan begann Helen Keller am 3. März 1887 zu unterrichten. Dreieinhalb Monate, nachdem dieser das erste Wort in die Hand buchstabiert worden war, schrieb sie mit Bleistift folgenden Brief:
An Helens Cousine Anna (Frau George T. Turner).[13]
[Tuscumbia, Alabama, 17. Juni 1887.]
helen write anna george will give Helen apple simpson will shoot bird jack will give Helen stick of candy doctor will give mildred medicine mother will make mildred new dress
[Ohne Unterschrift.]
[13] Die ersten Äußerungen Helens sind englisch wiedergegeben worden, weil der in ihnen enthaltene eigenartige Reiz in der Übersetzung vollständig verwischt werden würde. Auf die beiden Briefe an die blinden Mädchen im Perkinsschen Institute wird im dritten Teil (S. 248) Bezug genommen, weswegen sie hier im vollständigen Wortlaute mitgeteilt werden. — Das Faksimile der dem Buche vorangeschickten eigenhändigen Widmung Fräulein Kellers gewährt eine Vorstellung von ihrer Handschrift, wie sie jetzt ist.
An Frau Kate Adams Keller.
[Huntsville, Alabama, 12. Juli 1887.]
Helen will write mother letter papa did give helen medicine mildred will sit in swing mildred did kiss helen teacher did give helen peach george is sick in bed george arm is hurt anna did give helen lemonade dog did stand up.
conductor did punch ticket papa did give helen drink of water in car
carlotta did give helen flowers anna will buy helen pretty new hat helen will hug and kiss mother helen will come home grandmother does love helen
good-by
[Ohne Unterschrift.]
Im folgenden September zeigte Helen Fortschritte in Bezug auf vollständigere Satzkonstruktion und reicheren Gedankeninhalt.
An die blinden Mädchen im Perkinsschen Institut in Boston.
[Tuscumbia, September 1887.]
Helen will write little blind girls a letter Helen and teacher will come to see little blind girls Helen and teacher will go in steam car to boston Helen and blind girls will have fun blind girls can talk on fingers Helen will see Mr anagnos Mr anagnos will love and kiss Helen Helen will go to school with blind girls Helen can read and count and spell and write like blind girls mildred will not go to boston Mildred does cry prince and jumbo will go to boston papa does shoot ducks with gun and ducks[S. 149] do fall in water and jumbo and mamie do swim in water and bring ducks out in mouth to papa Helen does play with dogs Helen does ride on horseback with teacher Helen does give handee grass in hand teacher does whip handee to go fast Helen is blind Helen will put letter in envelope for blind girls
good-by
Helen Keller
Ein paar Wochen später ist ihr Stil korrekter und gewandter. Ihre Ausdrucksweise ist besser geworden, obgleich sie immer noch den Artikel ausläßt und die Konstruktion mit »did« für das einfache Imperfektum gebraucht. Es ist dies eine Eigenart, die sich bei Kindern häufig findet.
An die blinden Mädchen im Perkinsschen Institute.
[Tuscumbia, 24. Oktober 1887.]
dear little blind girls
I will write you a letter I thank you for pretty desk I did write to mother in memphis on it mother and mildred came home Wednesday mother brought me a pretty new dress and hat papa did go to huntsville he brought me apples and candy I and teacher will come to boston and see you nancy is my doll she does cry I do rock nancy to sleep mildred is sick doctor will give her medicine to make her well. I and teacher did go to church Sunday mr. lane did read in book and talk Lady did play organ. I did give man money in basket. I will be good girl and teacher will curl my hair lovely. I will hug and kiss little blind girls mr. Anagnos will come to see me.
good-by
Helen Keller.
Mit Beginn des nächsten Jahres wird Helens Ausdrucksweise bestimmter. Sie gebraucht mehr Adjektiva, auch Adjektiva der Farbe. Obgleich sie keine sinnliche Kenntnis von Farben haben kann, so vermag sie doch die Worte in verständiger, zutreffender Weise zu gebrauchen. Der folgende Brief enthält die Schilderung eines Picknicks im Walde und zeigt, in welcher Weise Fräulein Sullivan die Erholungsstunden zur Belehrung auszunutzen wußte.
An Herrn Michael Anagnos.
Tuscumbia, Ala. 3. Mai 1888.
Lieber Herr Anagnos. Ich freue mich, heute an Sie schreiben zu können, da ich Sie sehr liebe. Ich war sehr glücklich, hübsches Buch und niedliche Bonbons und zwei Briefe von Ihnen zu erhalten. Ich werde Sie bald besuchen und viele Fragen über Länder an Sie richten, und Sie werden gutes Kind lieben.
Mutter macht mir hübsche neue Kleider, die ich in Boston tragen werde (to wear in Boston), und ich werde niedlich aussehen, um kleine Mädchen und Knaben und Sie zu besuchen. Freitag gingen Lehrerin und ich zu einem Picknick mit kleinen Kindern. Wir spielten Spiele und aßen Mittagbrot unter den Bäumen, und wir fanden Farne und wilde Blumen. Ich ging in die Wälder und lernte Namen von vielen Bäumen. Es gibt Pappel- und Zedern- und Fichten- und Eichen- und Eschen- und Hickory- und Ahornbäume. Sie werfen einen angenehmen Schatten, und die kleinen Vögel lieben es, sich auf den Bäumen hin- und herzuschaukeln und zu singen. Kaninchen hüpfen, und Eichhörnchen laufen, und häßliche Schlangen kriechen in den Wäldern. Geranien und Jasminrosen sind kultivierte Pflanzen. Ich helfe Mutter und Lehrerin sie jeden Abend vor dem Essen begießen.
Vetter Artur machte mir eine Schaukel in der Esche. Tante Ev. ist nach Memphis gegangen. Onkel Frank ist hier. Er pflückt Erdbeeren für das Mittagessen. Nancy ist wieder krank, neue Zähne machen sie unwohl. Adeline ist gesund, und sie kann am Montag mit mir nach Cincinnati gehen. Tante Ev. will mir eine Knabenpuppe schicken, Harry wird Nancys und Adelines Bruder sein. Kleine Schwester ist gutes Mädchen. Ich bin jetzt müde und will nach unten gehen. Ich sende Ihnen mit Brief viele Küsse und Liebkosungen.
Ihr Lieblingskind
Helen Keller.
Gegen Ende Mai reisten Frau Keller, Helen und Fräulein Sullivan nach Boston. Unterwegs blieben sie ein paar Tage in Washington, wo sie Dr. Alexander Graham Bell und den Präsidenten Cleveland besuchten. Am 26. Mai langten sie in Boston an und begaben sich nach dem Perkinsschen Institut; hier traf Helen mit den kleinen blinden Mädchen zusammen, mit denen sie das Jahr zuvor korrespondiert hatte.
(Vergl. Teil I S. 43.)
Im Juli besuchte Helen Plymouth. Der folgende, drei Monate später geschriebene Brief zeigt, wie gut sie sich ihres ersten Geschichtsunterrichts erinnerte. Der »Onkel Morrie« ist Herr Morrison Heady aus Normandy (Kentucky), der als Knabe das Gesicht und Gehör verloren hatte. Er hat einige Gedichte geschrieben, die gar nicht übel sind.
An Herrn Morrison Heady.
Süd-Boston, Mass. 1. Oktober 1888.
Mein lieber Onkel Morrie! Ich hoffe, Du wirst Dich recht freuen, einen Brief von Deiner kleinen lieben Freundin Helen zu erhalten. Ich bin sehr glücklich, Dir zu schreiben,[S. 152] weil ich an Dich denke und Dich liebe. Ich lese schöne Geschichten in dem Buche, das Du mir geschickt hast, über Karl und sein Boot und Artur und seinen Traum und Rosa und das Schäfchen.
Ich bin in einem großen Boote gewesen. Es war wie ein Schiff. Mutter und Lehrerin und Frau Hopkins und Herr Anagnos und Herr Rodocanachi und viele andere Freunde gingen nach Plymouth, um sich viele alte Dinge anzusehen. Ich will Dir eine kleine Geschichte über Plymouth erzählen.
Vor vielen Jahren lebten in England viele gute Leute, aber der König und seine Freunde waren nicht lieb und sanft und geduldig mit den guten Leuten, weil der König nicht wollte, daß die Leute ihm ungehorsam waren. Die Leute wollten nicht gerne mit dem König in die Kirche gehen, sondern bauten für sich selbst sehr niedliche kleine Kirchen.
Der König war sehr böse auf die Leute, und sie waren traurig, und sie sagten: Wir wollen nach einem fremden Lande gehen, dort zu wohnen, und liebe teure Heimat und unartigen König verlassen. So legten sie alle ihre Sachen in große Kisten und sagten: Lebewohl. Sie tun mir leid, weil sie sehr weinten. Als sie nach Holland kamen, kannten sie niemand, und sie konnten nicht wissen, worüber die Leute sprachen, denn sie verstanden kein Holländisch. Aber bald lernten sie einige holländische Wörter, aber sie liebten ihre eigene Sprache und wünschten nicht, daß kleine Knaben und Mädchen sie vergaßen und komisches Holländisch sprechen lernten. So sagten sie: Wir müssen nach einem neuen Lande gehen weitweg und Schulen und Häuser und Kirchen bauen und neue Städte machen. So legten sie alle ihre Sachen in Kisten und sagten Lebewohl zu ihren neuen Freunden und segelten in einem großen Boote fort, um ein neues Land zu finden. Arme Leute waren nicht glücklich, denn ihre Herzen waren voller trauriger Gedanken, weil sie nicht[S. 153] viel von Amerika wußten. Ich denke, kleine Kinder müssen sich vor einem großen Ozean gefürchtet haben, denn er ist sehr stark und wirft ein großes Boot hin und her, und dann fallen die kleinen Kinder hin und zerschlagen sich ihre Köpfe. Nachher waren sie viele Wochen auf dem tiefen Ozean, wo sie keine Bäume oder Blumen und kein Gras sehen konnten, sondern nur Wasser und den schönen Himmel, denn die Schiffe konnten damals nicht schnell segeln, weil die Menschen noch nichts von Maschinen und vom Dampf wußten. Eines Tages wurde ein lieber kleiner Knabe (a dear little baby-boy) geboren. Sein Name war Peregrine White. Ich bin sehr traurig, daß der arme kleine Peregrine jetzt tot ist. Jeden Tag gingen die Leute auf Deck, um nach Land auszuschauen. Eines Tages war ein großes Geschrei auf dem Schiff, denn die Leute sahen das Land und waren voller Freude, weil sie sicher ein neues Land erreicht hatten. Kleine Mädchen und Knaben hüpften und klatschten in die Hände. Sie waren alle froh, als sie an einem großen Felsen Halt machten. Ich sah den Felsen in Plymouth und ein kleines Schiff wie die Mayflower und die Wiege, in der der liebe kleine Peregrine schlief, und viele alte Dinge, die in der Mayflower kamen. Es würde Dich freuen, Plymouth einmal zu besuchen und viele alte Dinge zu sehen.
Nun bin ich sehr müde, und ich will mich ausruhen.
Mit vieler Liebe und vielen Küssen von Deiner kleinen Freundin
Helen A. Keller.
Die fremdsprachigen Ausdrücke in den folgenden Briefen, von denen der erste während eines Besuches im Blindenkindergarten geschrieben wurde, hat Helen Monate zuvor kennen gelernt und in ihrem Gedächtnis aufbewahrt. Sie machte sich die Wörter zurecht und bediente sich ihrer, indem sie sie mit[S. 154]unter ganz sinngemäß gebrauchte, mitunter aber auch nur nach Papageienart wiederholte. Selbst wenn sie Wörter oder Gedanken nicht ganz verstand, so liebte sie sie dennoch niederzuschreiben. Auf diese Weise lernte sie Wörter, die einen Gesichts- und Gehörseindruck und mithin Vorstellungen bezeichnen, die außerhalb ihrer persönlichen Erfahrung liegen, richtig gebrauchen. »Edith« ist Edith Thomas.
An Herrn Michael Anagnos.
Roxbury, Mass. 17. Oktober 1888.
Mon cher Monsieur Anagnos.
Ich sitze am Fenster, und die schöne Sonne bescheint mich. Lehrerin und ich kamen gestern in den Kindergarten. Es sind hier sieben kleine Mädchen, und alle sind blind. Ich bin traurig, daß sie nicht viel sehen können. Werden sie einst sehr gesunde Augen haben? Die arme Edith ist blind und taub und stumm. Sind Sie sehr traurig über Edith und mich? Ich werde bald nach Hause gehen, um meine Mutter und meinen Vater und meine kleine gute, süße Schwester wiederzusehen. Ich hoffe, Sie werden nach Alabama kommen, um mich zu besuchen, und ich will Sie in meinem kleinen Wagen zu einer Ausfahrt mitnehmen, und ich hoffe, Sie werden sich freuen, wenn Sie mich auf dem Rücken meines kleinen lieben Ponys sehen... Wenn ich dreizehn Jahre alt bin, will ich in viele fremde und schöne Länder reisen. Ich werde sehr hohe Berge in Norwegen ersteigen und viel Eis und Schnee sehen. Ich hoffe, ich werde nicht fallen und mir den Kopf zerschlagen. Ich werde den kleinen Lord Fauntleroy[14] in England besuchen, und er wird sich freuen, mir sein großes und sehr altes Schloß zu zeigen. Und wir werden zu den Hirschen laufen und die Kaninchen füttern und die Eichhörnchen fangen. Ich werde mich nicht[S. 155] vor Fauntleroys großem Hunde Dougal fürchten. Ich hoffe, Fauntleroy wird mich mitnehmen, damit ich eine sehr freundliche Königin sehe. Wenn ich nach Frankreich gehe, will ich französisch sprechen. Ein kleiner französischer Knabe wird sagen: Parlez-vous français? und ich werde sagen: Oui, Monsieur, vous avez un joli chapeau. Donnez-moi un baiser. Ich hoffe, Sie werden mich mit nach Athen nehmen, um das Mädchen von Athen zu besuchen. Sie war eine sehr liebliche Dame, und ich will griechisch mit ihr sprechen. Ich will sagen: se agapo und pos echete, und ich denke, sie wird sagen kalos, und dann will ich sagen chaere. Wollen Sie die Freundlichkeit haben, mich bald zu besuchen und mich mit nach dem Theater zu nehmen. Wenn Sie kommen, will ich sagen Kale emera, und wenn Sie nach Hause gehen, will ich sagen Kale nykta. Nun bin ich zu müde, um mehr zu schreiben. Je vous aime. Au revoir.
Von Ihrer kleinen Lieblingsfreundin
Helen A. Keller.
An Fräulein Evelina H. Keller.
[Boston, 29. Oktober 1888.]
Meine liebste Tante! Ich werde sehr bald kommen, und ich denke, Du und jedermann wird sehr froh sein, meine Lehrerin und mich wiederzusehen. Ich freue mich sehr, daß ich viel über viele Dinge gelernt habe. Ich studiere Französisch und Deutsch und Lateinisch und Griechisch. Se agapo ist griechisch und heißt: Ich liebe dich. J’ai une bonne petite soeur ist französisch und heißt: Ich habe eine gute kleine Schwester. Nous avons un bon père et une bonne mère heißt: Wir haben einen guten Vater und eine gute Mutter. Puer ist Knabe im Lateinischen und Mutter ist mother im Deutschen. Ich[S. 156] will Mildred viele Sprachen lehren, wenn ich nach Hause komme.
Helen A. Keller.
In einem Briefe an ein Fräulein Bennet, datiert Tuscumbia, den 29. Januar 1889, teilt Helen ihre astronomischen Kenntnisse mit. Es heißt darin unter anderem:
Ich habe in meinem Buche über Astronomen gelesen. Astronom kommt von dem lateinischen Worte astra, das Sterne bedeutet, und Astronomen sind Männer, die die Sterne studieren und uns von ihnen erzählen. Wenn wir ruhig in unseren Betten schlafen, beobachten sie den schönen Himmel durch das Teleskop. Ein Teleskop gleicht einem sehr scharfen Auge. Die Sterne sind soweit entfernt, daß man ohne ganz vorzügliche Instrumente wenig von ihnen erzählen kann. Sehen Sie gern aus Ihrem Fenster und betrachten Sie die kleinen Sterne? Lehrerin sagt, sie kann die Venus von unserem Fenster aus sehen, und dies ist ein großer, schöner Stern. Die Sterne heißen die Geschwister der Erde.
Während des Winters arbeiteten Fräulein Sullivan und ihre Schülerin fleißig in Tuscumbia, und zwar mit gutem Erfolge, denn im Laufe des Frühjahrs nahm Helens Ausdrucksweise echt englisches Gepräge an. Seit dem Mai 1889 finden sich, abgesehen von einigen offenbaren Schreibfehlern, keine Verstöße gegen die Regeln der Sprache; sie gebraucht die Worte richtig und bildet fließende Sätze. So schreibt sie am 18. Mai 1889 in einem Briefe an Herrn Anagnos:
Sie können es sich nicht vorstellen, wie erfreut ich war, gestern abend einen Brief von Ihnen zu erhalten. Es tut mir sehr leid, daß Sie so weit fortgehen. Wir werden Sie sehr, sehr vermissen. Ich würde gern viele schöne Städte mit Ihnen[S. 157] besuchen. Als ich in Huntsville war, traf ich mit Dr. Bryson zusammen, und er erzählte mir, er sei in Rom, Athen, Paris und London gewesen. Er hatte die hohen Berge in der Schweiz erstiegen, schöne Kirchen in Italien und Frankreich besucht und viele alte Schlösser gesehen. Ich hoffe, Sie werden die Freundlichkeit haben, mir aus allen Städten, die Sie besuchen, zu schreiben. Wenn Sie nach Holland kommen, so grüßen Sie bitte die liebliche Prinzessin Wilhelmine herzlichst von mir. Sie ist ein liebes kleines Mädchen, und wenn sie alt genug ist, so wird sie Königin von Holland sein. Wenn Sie nach Rumänien kommen, so fragen Sie, bitte, die Königin Elisabeth nach ihrem kleinen kranken Bruder und sagen Sie ihr, daß ich sehr traurig bin, daß ihr geliebtes Töchterchen gestorben ist. Ich möchte gern Vittorio, dem kleinen Prinzen von Neapel, einen Kuß senden, aber Lehrerin sagt, sie fürchte, Sie könnten so viele Aufträge nicht behalten. Wenn ich dreizehn Jahre alt bin, so werde ich sie alle selbst besuchen.
Der folgende Brief an Helens französische Lehrerin enthält die Wiedergabe eines Märchens von Andersen (vergl. unten S. 327).
An Fräulein Fannie S. Marrett.
Tuscumbia, 17. Mai 1889.
Mein liebes Fräulein Marrett! Ich muß an ein liebes, kleines Mädchen denken, das sehr heftig weinte. Sie weinte, weil ihr Bruder sie sehr geärgert hatte. Ich will Ihnen erzählen, was er getan hatte, und ich denke, Sie werden das kleine Mädchen von Herzen bedauern. Sie hatte eine sehr schöne Puppe zum Geschenk erhalten. O, es war eine reizende, zarte Puppe! aber der Bruder des kleinen Mädchens, ein großer Junge, hatte ihr die Puppe weggenommen und sie auf einen[S. 158] hohen Baum im Garten gesetzt und war dann davongelaufen. Das kleine Mädchen konnte die Puppe nicht erreichen und konnte ihr nicht herunterhelfen, und daher weinte sie. Auch die Puppe weinte und breitete ihre Arme zwischen den grünen Zweigen aus und machte ein ganz trauriges Gesicht. Bald würde die finstere Nacht kommen — sollte da die Puppe die ganze Nacht ganz allein auf dem Baume sitzen? Das kleine Mädchen konnte diesen Gedanken nicht ertragen. »Ich will bei dir bleiben,« sagte sie zu der Puppe, obgleich sie nicht allzu beherzt war. Schon begann sie ganz deutlich zu sehen, wie die kleinen Elfen in ihren großen spitzigen Hüten durch die dunkelen Baumgänge tanzten und aus den Sträuchern hervorblickten; und sie schienen näher und näher zu kommen. Das kleine Mädchen streckte ihre Hände nach dem Baume aus, auf dem die Puppe saß, und die Elfen lachten und deuteten mit den Fingern auf sie. Wie erschrocken war das kleine Mädchen! Wenn man aber nichts Böses getan hat, so können einem diese sonderbaren kleinen Elfen kein Leid zufügen. Habe ich etwas Böses getan? Ach ja! sagte das kleine Mädchen. Ich habe über die arme Ente und ihr mit einem roten Lappen umwickeltes Bein gelacht. Sie hinkte, und darüber mußte ich lachen; aber es ist unrecht, über die armen Tiere zu lachen!
Ist das nicht eine traurige Geschichte? Ich hoffe, der Vater hat den unartigen Knaben bestraft...
Im Sommer war Fräulein Sullivan dreieinhalb Monate verreist. Folgender Brief Helens an sie legt Zeugnis von dem herzlichen Verhältnis ab, das zwischen Lehrerin und Schülerin bestand.
Tuscumbia, Ala. 7. August 1889.
Liebstes Fräulein! Ich freue mich sehr, Ihnen heut abend schreiben zu können, denn ich habe den ganzen Tag viel an Sie[S. 159] gedacht. Ich sitze auf der Piazza, und meine kleine weiße Taube sitzt auf der Lehne meines Stuhles und sieht mir zu, während ich schreibe. Ihr kleiner brauner Gefährte ist mit den übrigen Vögeln davongeflogen, aber Annie[15] ist nicht traurig, denn sie leistet mir gern Gesellschaft.
Der kleine Artur[16] wächst sehr schnell. Er hat jetzt ein kurzes Kleidchen an. Cousine Leila glaubt, daß er binnen kurzem gehen wird. Dann will ich seine weiche, dicke Hand in die meinige nehmen und mit ihm im hellen Sonnenschein spazieren gehen. Er wird die größten Rosen pflücken und auf die lustigsten Schmetterlinge Jagd machen. Ich will sehr sorgfältig auf ihn achtgeben, damit er nicht fällt und sich wehtut...
Ein Herr schenkte mir eine schöne Karte. Sie stellt eine Mühle an einem schönen Bache dar. Auf dem Wasser schwimmt ein Boot, und rings um das Boot wachsen duftende Lilien. Nicht weit von der Mühle liegt ein altes Haus, das ganz dicht von Bäumen umgeben ist. Auf dem Dach des Hauses sitzen acht Tauben, und auf der Schwelle liegt ein Hund...
Ich lese täglich in meinen Büchern. Ich liebe sie recht, recht, recht sehr. Ich wünschte, Sie kehrten bald zu mir zurück. Ich vermisse Sie recht, recht sehr. Ich kann vieles nicht verstehen, wenn mein liebes Fräulein nicht hier ist. Ich sende Ihnen fünftausend Küsse und mehr Liebe, als ich sagen kann.
Ihre dankbare kleine Schülerin
Helen A. Keller.
Unter ihren Freunden zählt Fräulein Keller in ihrer Selbstbiographie auch den Dichter John Greenleaf Whittier auf (s. oben S. 138). Ihr erster Brief an ihn lautet folgendermaßen:
Boston, Mass. 27. Nov. 1889.
Teurer Dichter!
Ich glaube, Sie werden überrascht sein, einen Brief von einem kleinen Mädchen zu erhalten, das Sie nicht kennen, aber ich glaubte, es würde Sie freuen, zu hören, daß Ihre schönen Gedichte mich sehr glücklich machen. Gestern las ich »In School Days« und »My Playmate« und freute mich von Herzen darüber. Ich war sehr traurig, daß das arme kleine Mädchen mit den braunen Augen und den »goldenen Locken« sterben mußte. Es ist sehr angenehm, auf unserer schönen Welt zu leben. Ich kann die lieblichen Dinge nicht mit meinen Augen sehen, aber mein Geist kann sie alle sehen, und so bin ich den ganzen Tag über fröhlich.
Wenn ich in meinem Garten spazieren gehe, so kann ich die schönen Blumen nicht sehen, aber ich weiß, daß sie mich alle rings umgeben; denn ist nicht die Luft mit ihrem süßen Wohlgeruche angefüllt? Auch weiß ich, daß die zarten Glöckchen der Lilien ihren Genossinnen hübsche Geheimnisse zuflüstern, sonst würden sie nicht so glücklich aussehen. Ich liebe Sie von Herzen, denn Sie haben mich soviel Schönes über Blumen, Vögel und Menschen gelehrt. Nun muß ich Ihnen Lebewohl sagen.
Ihre Sie liebende kleine Freundin
Helen A. Keller.
Aus einem Briefe an Dr. Oliver Wendell Holmes[17]
vom 1. März 1890.
... Ich lese jetzt eine sehr traurige Geschichte, »Little Jakey« mit Titel. Jakey war der lieblichste kleine Knabe, den Sie sich denken können, aber er war arm und blind. Als ich[S. 161] klein war und noch nicht lesen konnte, glaubte ich, daß jedermann stets glücklich sei, und zuerst machte es mich sehr traurig, als ich von Schmerz und großem Leide erfuhr; aber jetzt weiß ich, daß wir niemals lernen würden, tapfer und geduldig zu sein, wenn es nur Freude auf der Welt gäbe.
Ich beschäftige mich in der Zoologie jetzt mit den Insekten, und ich habe viel über die Schmetterlinge gelernt. Sie machen keinen Honig für uns wie die Bienen, aber viele von ihnen sind so schön wie die Blumen, auf denen sie ruhen, und erfreuen stets das Herz kleiner Kinder. Sie führen ein fröhliches Leben, flattern von Blume zu Blume und nippen die Tropfen Honigtau, ohne an den morgenden Tag zu denken. Sie sind genau wie kleine Knaben und Mädchen, wenn sie Bücher und Schule vergessen und durch die Wälder und Felder laufen, um wilde Blumen zu pflücken oder nach duftenden Lilien in die Teiche waten, glücklich im strahlenden Sonnenschein.
[17] Vergl. oben S. 137 ff.
An Fräulein Sarah Fuller.[18]
Boston, Mass., 3. April 1890.
Mein liebes Fräulein Fuller!
Mein Herz ist an diesem schönen Morgen voller Freude, weil ich viele neue Wörter sprechen gelernt habe und ich ein paar Sätze bilden kann. Gestern abend ging ich in den Hof hinaus und redete den Mond an. Ich sagte: O Mond, komm zu mir! Glauben Sie, daß sich der liebe Mond freute, als er mich sprechen hörte? Wie froh wird meine Mutter sein! Ich kann den Juni kaum erwarten, so sehnlich wünsche ich, zu ihr und zu meiner reizenden kleinen Schwester sprechen zu können. Mildred konnte mich nicht verstehen, wenn ich mit meinen Fingern buchstabierte, aber jetzt wird sie auf meinem[S. 162] Schoß sitzen und ich werde ihr viel erzählen, was ihr gefallen soll, und wir werden so glücklich miteinander sein. Sind Sie sehr, sehr glücklich, daß Sie so viele Menschen glücklich machen? Ich glaube, Sie sind sehr gütig und geduldig, und ich liebe Sie recht von Herzen. Meine Lehrerin sagte mir am Dienstag, Sie wünschten zu wissen, wie der Wunsch in mir aufstieg, mit meinem Munde zu sprechen. Ich will es Ihnen ausführlich erzählen, denn ich erinnere mich ganz genau daran. Als ich ein ganz kleines Kind war, pflegte ich die ganze Zeit über auf meiner Mutter Schoß zu sitzen, weil ich sehr furchtsam war und nicht gern allein blieb. Ich hielt fortwährend meine kleine Hand an ihr Gesicht, weil es mir Spaß machte, zu fühlen, wie sich ihr Gesicht und ihre Lippen bewegten, wenn sie mit anderen sprach. Ich wußte damals noch nicht, was sie tat, denn ich war in allem ganz unwissend. Als ich dann älter wurde, lernte ich mit meiner Wärterin und den kleinen Negerkindern spielen und bemerkte, daß sie ihre Lippen genau wie meine Mutter bewegten; daher bewegte ich auch die meinigen, aber das machte mich mitunter zornig, und ich schlug meine Spielgefährten oft heftig auf den Mund. Ich wußte damals noch nicht, daß dies sehr unartig war. Nach langer Zeit kam meine teure Lehrerin zu mir und lehrte mich, wie ich mich mit meinen Fingern verständlich machen könnte, und ich war glücklich und zufrieden. Als ich dann aber in die Schule nach Boston kam, traf ich mehrere taube Leute, die mit ihrem Munde sprachen wie alle anderen Leute, und eines Tages kam eine Dame, die in Norwegen gewesen war, zu mir, um mich zu besuchen, und erzählte mir von einem blinden und tauben Mädchen, das sie in jenem fernen Lande gesehen hatte und das sprechen und andere verstehen gelernt hatte, wenn sie zu ihr sprachen. Diese guten, fröhlichen Nachrichten entzückten mich über die Maßen, denn jetzt war ich überzeugt, daß ich es auch[S. 163] lernen würde. Ich versuchte Töne hervorzubringen wie meine kleinen Spielgefährten, aber Fräulein sagte mir, die Stimme sei etwas sehr Zartes und Empfindliches und ich würde sie schädigen, wenn ich unrichtige Töne ausstieße, und sie versprach mir, mich mit zu einer gütigen und klugen Dame zu nehmen, die mich lehren würde, sie richtig hervorzubringen. Diese Dame waren Sie selbst. Jetzt bin ich so glücklich wie die kleinen Vögel, denn ich kann sprechen, und vielleicht werde ich sogar singen lernen. Alle meine Freunde werden darüber erstaunt und erfreut sein.
Ihre Sie liebende kleine Schülerin
Helen A. Keller.
Aus einem Briefe vom 14. Juli 1890 an den nachmaligen Bischof Brooks.
... Meine Eltern waren entzückt, mich sprechen zu hören, und ich war überglücklich, ihnen eine so frohe Ueberraschung bereiten zu können. Ich denke mir, es muß ein wohltuendes Gefühl sein, jedermann glücklich zu machen. Warum hält es der liebe Vater im Himmel manchmal für das beste, uns recht großes Leid zu senden? Ich bin stets glücklich, und dies war auch der kleine Lord Fauntleroy, aber des armen kleinen Jakeys Leben war voller Traurigkeit. Gott hatte Jakeys Augen kein Licht geschenkt, und sein Vater war nicht freundlich und liebevoll. Glauben Sie, daß der arme Jakey seinen Vater im Himmel deswegen mehr liebte, weil sein anderer Vater unfreundlich zu ihm war? Auf welche Weise hat Gott den Menschen verkündet, daß seine Heimat im Himmel ist? Wenn die Menschen Böses tun, Tiere quälen und Kinder unfreundlich behandeln, so ist Gott betrübt, aber auf welche Weise will er sie lehren, barmherzig und liebreich zu sein? Ich denke, er wird ihnen[S. 164] sagen, wie herzlich er sie liebt und daß er wünscht, sie möchten gut und glücklich sein, und dann werden sie ihren Vater, der sie so sehr liebt, nicht betrüben und wünschen, ihm in allem, was sie tun, zu Gefallen zu sein, und dann werden sie einander lieben und jedermann Gutes tun und gegen die Tiere freundlich sein.
Bitte, erzählen Sie mir alles, was Sie von Gott wissen. Es macht mich glücklich, viel von meinem liebenden Vater zu erfahren, der gut und weise ist. Ich hoffe, Sie werden Ihrer kleinen Freundin schreiben, wenn Sie Zeit haben.
Tommy Stringer, dessen Name in den Briefen der nächsten Zeit oft vorkommt, wurde im Alter von fünf Jahren blind und taub. Seine Mutter war tot und sein Vater zu arm, um ihn unterrichten zu lassen. Eine Zeitlang war er in dem allgemeinen Krankenhaus in Allegheni untergebracht. Von dort wurde er nach einem Armenhause geschickt, denn zu jener Zeit gab es in Pennsylvania keinen anderen Platz. Helen hörte von ihm durch einen Bekannten, der ihr schrieb, es sei ihm nicht gelungen, einen Gönner für Tommy zu finden. Sie wünschte, daß er nach Boston gebracht würde, und als man ihr mitteilte, es gehöre viel Geld dazu, ihm eine Lehrerin zu halten, antwortete sie: Wir wollen es zusammenbringen. Sie begann Beiträge unter ihren Bekannten zu sammeln und leerte selbst ihre Sparbüchse.
Dr. Alexander Graham riet, Tommy nach Boston zu schicken, und wirkte ihm einen Platz in dem Blindenkindergarten aus.
Inzwischen bot sich für Helen Gelegenheit, eine beträchtliche Summe zu Tommys Erziehung beizusteuern. Den Winter zuvor war ihr Hund Lioneß gestorben, und ihre Freunde faßten den Plan, Geld zu sammeln, um ihr einen neuen Hund zu[S. 165] kaufen. Helen bat, die Beiträge, die aus ganz Amerika und England zusammenflossen, auf Tommys Erziehung zu verwenden. In Anbetracht dieses neuen Zweckes wuchs der Fonds rasch an, und für Tommy war gesorgt. Er wurde am 6. April in den Kindergarten aufgenommen.
Helen hatte sich mit wahrem Feuereifer der Sache angenommen. So heißt es in einem Briefe vom 20. März 1891: Und nun möchte ich Ihnen mitteilen, was die Hundeliebhaber in Amerika zu tun im Begriffe stehen. Sie wollen mir Geld für ein armes taubstummes und blindes Kind schicken. Sein Name ist Tommy, und es ist fünf Jahre alt. Seine Eltern sind zu arm, um den kleinen Kerl in die Schule schicken zu können, und daher wollen die Herren, anstatt mir einen Hund zu schenken, dazu beitragen, Tommys Leben so strahlend und fröhlich wie das meinige zu machen. Ist dies nicht ein schönes Unternehmen? Die Erziehung wird Licht und Musik in Tommys Seele bringen, und dann muß er unbedingt glücklich sein. — Und in einem anderen Briefe vom April 1891 heißt es: Ich wünschte, Sie könnten den kleinen Tom sehen, jenes blinde und taubstumme Kind, das soeben in unserem hübschen Garten eingetroffen ist. Er ist jetzt arm, hilflos und einsam, aber vor Ablauf eines Jahres wird die Erziehung Licht und Heiterkeit in Tommys Leben gebracht haben. — Ferner schreibt Helen in einem Briefe vom 30. April: Sie werden sich freuen, zu hören, daß Tommy jetzt eine freundliche Dame zur Lehrerin hat und daß er ein hübscher, lebhafter, kleiner Bursche ist. Das Umherklettern gefällt ihm allerdings besser als das Buchstabieren, aber dies kommt daher, daß er noch nicht weiß, was für ein wunderbares Ding die Sprache ist. Er kann sich nicht denken, wie sehr, sehr glücklich er sein wird, wenn er uns seine Gedanken mitteilen kann und wir ihm sagen können, daß wir ihn schon so lange geliebt haben.
Auf Helens Bitte eröffnete Bischof Brooks eine öffentliche Sammlung für Tommy, die über 1600 Dollars einbrachte. Helen selbst schrieb Briefe an die Zeitungen und quittierte öffentlich über den Empfang des Geldes. Der vom 13. Mai 1891 datierte folgende Brief ist an den Herausgeber des »Boston Herald« gerichtet: Ich glaube, die Leser Ihrer Zeitung werden sich freuen, zu hören, daß soviel für den lieben kleinen Tommy getan worden ist. Er fühlt sich in der Tat im Kindergarten sehr glücklich, und lernt täglich etwas Neues. Er hat herausgefunden, daß die Türen Schlösser haben und daß kleine Hölzchen und Stückchen Papier sich ganz leicht in die Schlüssellöcher hineinstecken lassen; aber er scheint nicht halb soviel Lust zu haben, sie herauszunehmen wie hineinzustecken. Das Hinaufklettern an den Bettpfosten und das Abschrauben der Dampfventile gefällt ihm allerdings viel besser als das Buchstabieren, aber dies kommt daher, daß er noch nicht versteht, daß die Wörter ihm zu neuen, interessanten Entdeckungen verhelfen werden. Ich hoffe, daß gute Menschen fortfahren werden, für Tommy zu sorgen, bis der Fonds vollständig ist und die Erziehung Licht und Musik in sein kleines Leben gebracht hat.
Im Mai 1892 gab Helen zum Besten des Blindenkindergartens einen »Tee«, der über 2000 Dollars einbrachte. Auf diese Veranstaltung bezieht sich folgender Brief vom 9. Mai 1892 an eine Freundin: Brauche ich Ihnen zu sagen, wie ich mich freute, zu hören, daß Sie sich für meinen »Tee« interessieren? Keinenfalls dürfen wir ihn aufgeben. Sehr bald werde ich weit fortgehen, in mein teures Elternhaus, in den sonnigen Süden, und der Gedanke würde mich für immer glücklich machen, daß das letzte, was meine teueren Freunde in Boston mir zuliebe getan haben, darin bestand, daß sie das Leben so vieler kleiner des Gesichts beraubter Kinder froh und glücklich zu[S. 167] machen halfen. Ich weiß, daß gütige Menschen gar nicht umhin können, liebevolle Teilnahme für die Kleinen zu hegen, die das herrliche Licht nicht zu erblicken vermögen, und es scheint mir, als müsse sich alle liebevolle Teilnahme in Handlungen werktätiger Hilfe äußern; und wenn die Freunde der kleinen hilflosen, blinden Kinder einsehen, daß wir für ihre Glückseligkeit sorgen, so werden sie bestimmt kommen und unserem »Tee« den Erfolg sichern, und ich bin fest davon überzeugt, ich werde das glücklichste kleine Mädchen auf der ganzen Welt sein.
Von der Reise zum Niagarafall (s. oben S. 74) handelt folgender Brief Helens vom 13. April 1893 an ihre Mutter:
... Herr Westerfelt[19] gab uns zu Ehren eine Nachmittags-Gesellschaft. Es kam eine große Menge Menschen. Einige von ihnen richteten sehr sonderbare Fragen an mich. Eine Dame schien überrascht zu sein, daß ich die Blumen liebte, da ich doch ihre schönen Farben nicht zu sehen vermöchte, und als ich sie versicherte, ich liebte sie trotzdem, antwortete sie: »Gewiß fühlen Sie die Farben mit Ihren Fingern.« Aber natürlich lieben wir die Blumen, nicht nur ihrer herrlichen Farbe wegen... Ein Herr fragte mich, was der Begriff Schönheit für mich bedeute. Ich muß gestehen, ich war für einen Augenblick verwirrt. Dann aber antwortete ich ihm, Schönheit sei eine Form der Güte — und er verschwand.
[19] Der Leiter einer Taubstummenschule in Rochester.
Ueber den Eindruck, den der Niagarafall selbst auf Helen machte, heißt es weiterhin:
Das Hotel stand so nahe am Flusse, daß ich sein Vorbei[S. 168]rauschen fühlen konnte, wenn ich die Hand an das Fenster legte... Du kannst Dir nicht vorstellen, was ich fühlte, als ich am Niagara stand, ehe Du nicht selbst die nämliche geheimnisvolle Empfindung gehabt hast. Ich konnte mir kaum denken, daß es Wasser sei, was ich mit ungestümer Wut zu meinen Füßen brausen und tosen fühlte. Es kam mir vor, als sei es ein lebendes Wesen, das einem furchtbaren Geschicke entgegeneilte. Ich wünschte, ich könnte den Wasserfall schildern, wie er ist, seine Schönheit und majestätische Größe, das furchtbare, unwiderstehliche Hinabstürzen des Wassers über den Hang des Abgrundes. Man fühlt sich in Gegenwart einer solchen ungeheueren Kraft hilflos und überwältigt. Ich hatte schon einmal dieses selbe Gefühl, als ich am Strande des Ozeans stand und seine Wogen gegen das Ufer anbranden fühlte. Ich glaube, auch Du hast diese Empfindung, wenn Du in der Stille der Nacht zu den Sternen aufblickst, nicht wahr?... Wir ließen uns 120 Fuß in einem Elevator nieder, um die furchtbaren Wogen und Wirbel in der tiefen Schlucht unterhalb des Falles zu beobachten.
Ihren Besuch der Weltausstellung in Chicago schildert Helen in einem Briefe vom 17. August 1893. Es heißt darin unter anderem: Jedermann auf der Ausstellung war sehr freundlich zu mir... Fast alle Aussteller schienen gern bereit zu sein, mich auch die zerbrechlichsten Dinge berühren zu lassen, und sie erklärten mir alles in der liebenswürdigsten Weise. Ein Franzose, dessen Namen ich vergessen habe, zeigte mir die großen französischen Bronzen. Ich glaube, sie machten mir mehr Freude als sonst etwas auf der Ausstellung: so lebendig und wundervoll erschienen sie mir bei der Berührung..... Dann ging ich mit Professor Morse nach der japanischen Abteilung. Ich hatte keine Ahnung davon, was für ein wunder[S. 169]bares Volk die Japaner sind, ehe ich ihre höchst interessante Ausstellung sah. Japan muß in der Tat ein Paradies für die Kinder sein, nach der großen Menge von Spielsachen zu urteilen, die hier angefertigt werden.
Ueber ihre Begegnung mit Mark Twain schreibt Helen Keller im März 1895 an ihre Mutter folgendes:
Lehrerin und ich verbrachten den gestrigen Nachmittag bei Herrn Hutton und waren sehr vergnügt dort!
Wir trafen Mr. Clemens (Mark Twain) und Mr. Howells dort. Ich hatte schon lange von ihnen gehört, aber nie hatte ich gedacht, daß ich die einmal sehen und mit ihnen sprechen sollte. ... Die beiden berühmten Schriftsteller waren sehr lieb und freundlich mit mir, und ich könnte nicht sagen, welcher von beiden mir lieber ist. Mark Twain erzählte uns viele unterhaltende Geschichten und brachte uns zum Lachen, bis wir weinten. Ich möchte nur, Du hättest ihn sehen und hören können. Er erzählte uns, daß er in einigen Tagen nach Europa gehen wolle, um seine Frau und seine Tochter Jeanne nach Amerika zurückzuholen, weil Jeanne, die in Paris studiert, in 3½ Jahren soviel gelernt hätte, daß wenn er sie jetzt nicht nach Hause brächte, sie bald mehr wüßte, als er selber.
Ich finde, »Mark Twain« ist ein sehr passender nom de plume für Herrn Clemens, denn er klingt so komisch und drollig und paßt gut zu seinen lustigen Geschichten, und seine nautische Bedeutung[20] weist auf die tiefsinnigen und schönen Sachen hin, die er geschrieben hat. Ich finde, er ist sehr schön — — —.
(Vgl. oben S. 141 ff. 182.)
[20] Mark twain = Ruf des Mississippi-Lotsen bei 2 Faden Tiefe.
Einen Besuch im Bostoner Museum schildert Helen in einem Briefe vom 3. Februar 1899. Sie schreibt darin: Vorigen Mon[S. 170]tag hatte ich ein äußerst interessantes Erlebnis. Eine Freundin nahm mich an diesem Tage mit nach dem Bostoner Kunstmuseum. Sie hatte mir schon vorher bei General Loring, dem Direktor des Museums, die Erlaubnis ausgewirkt, die Statuen berühren zu dürfen, namentlich die, welche meine alten Freunde aus der Ilias und der Aeneis darstellten. War dies nicht liebenswürdig? Während ich dort weilte, trat General Loring selbst ein und zeigte mir einige der schönsten Statuen, unter denen sich die Venus von Medici, die Athene vom Parthenon, Diana in ihrem Jagdkleide mit der Hand am Köcher und einer Hindin neben ihr, sowie der unglückliche Laokoon nebst seinen beiden Söhnen befanden, die sich in den furchtbaren Umschlingungen zweier riesiger Schlangen winden und unter herzzerreißendem Geschrei ihre Arme zum Himmel emporstrecken. Auch den Apollo vom Belvedere sah ich. Er hat soeben den Python erlegt und steht neben einem großen Marmorpfeiler, die schöne Hand triumphierend über den furchtbaren Drachen ausstreckend. O er ist einfach wundervoll! Venus entzückte mich. Sie sah aus, als sei sie soeben aus dem Schaume des Meeres emporgestiegen, und ihre Lieblichkeit wirkte auf mich wie ein himmlischer Gesang. Auch die arme Niobe sah ich mit ihrem jüngsten Kinde, das sich fest an die anklammert, während sie die grausame Göttin anfleht, ihr nicht auch den letzten Liebling zu töten. Ich weinte beinahe, so lebenswahr und tragisch war dies alles. General Loring zeigte mir auch in liebenswürdiger Weise eine Nachbildung einer der wundervollen Bronzetüren aus dem Baptisterium zu Florenz, und ich befühlte die schönen Pfeiler, die auf den Rücken grimmiger Löwen ruhen. So hatte ich, wie Sie sehen, einen Vorgeschmack des Genusses, den ich eines Tages haben werde, wenn ich Florenz besuche. Meine Freundin versprach mir, später eine Nachbildung der von Lord Elgin nach London gebrachten Parthenonskulpturen zu zeigen.[S. 171] Ich würde es jedoch vorziehen, die Originale an der Stelle zu sehen, für die sie von dem Genius bestimmt waren, nicht nur als Hymnus zum Preise der Götter, sondern auch als Denkmal für den Ruhm Griechenlands. Es scheint mir tatsächlich ein Frevel zu sein, solche geweihte Werke aus dem Heiligtume der Vergangenheit, in das sie gehören, zu entführen.
Ebenso interessant wie das vorstehende Schreiben ist eine Aeußerung Helens in einem Briefe vom 2. Januar 1900 über ihre Empfindungen beim Orgelspiel. Es heißt darin: Am Sonntag gingen wir nach der Bartholomäuskirche... Nach dem Gottesdienste bat der Geistliche den Organisten Herrn Warren, die Orgel für mich zu spielen. Ich stand mitten in der Kirche, wo die von der großen Orgel erzeugten Luftschwingungen am stärksten sind, und fühlte die mächtigen Tonwogen gegen mich anbranden, wie die großen Meereswellen gegen ein kleines Schiff schlagen...
Zum Schluß seien noch einige Aeußerungen Helens über Schicksalsgefährten von ihr angeführt. Am 5. Juni 1899 schreibt sie über Linnie Haguewood, ein taub-blindes Mädchen, das von einem Fräulein Dora Donald erzogen worden war, an Herrn William Wade (vergl. S. 78): Linnie Haguewoods Brief interessierte mich sehr. Er scheint mir auf Selbständigkeit und große Sanftmut des Charakters hinzuweisen. Sehr interessant sind ihre Aeußerungen über Geschichte. Ich bedauere, daß sie kein Gefallen daran findet; aber auch ich empfinde es bisweilen, wie dunkel, geheimnisvoll und selbst furchtbar die Geschichte alter Völker, alter Religionen und alter Regierungsformen in Wahrheit ist.
Nun, ich muß offen gestehen, ich liebe die Zeichensprache nicht und glaube auch nicht, daß sie den Taub-Blinden von[S. 172] großem Nutzen ist. Ich finde es sehr schwer, den raschen Bewegungen der Taubstummen zu folgen, und außerdem scheinen die Zeichen ein großes Hindernis für sie bei der Gewöhnung an einen freien, gewandten Gebrauch der Sprache zu sein. Es fällt mir bisweilen schwer, sie zu verstehen, wenn sie mit den Fingern buchstabieren. Im ganzen genommen erscheint mir, wenn sie nicht die Lautsprache erlernen können, das Fingeralphabet als das beste und bequemste Verständigungsmittel für sie. Jedenfalls bin ich fest davon überzeugt, daß die Taub-Blinden es nicht fertig bringen, die Zeichensprache einigermaßen gewandt zu handhaben.
Eines Tages traf ich einen tauben Norweger, der Ragnhild Kaata und ihre Lehrerin sehr genau kennt, und wir unterhielten uns über sie in sehr interessanter Weise. Er erzählte, sie sei sehr fleißig und heiter. Sie spinnt und beschäftigt sich viel mit weiblichen Handarbeiten, sie liest und führt ein angenehmes, nützliches Leben. Aber denken Sie, sie versteht sich nicht auf das Fingeralphabet. Sie liest gut von den Lippen ab, und wenn sie etwas nicht versteht, so schreiben ihre Bekannten es ihr in die Hand, und auf diese Weise unterhält sie sich mit Fremden. Ich kann nichts verstehen, was man mir in die Hand schreibt; daraus können Sie sehen, daß Ragnhild mir in einigen Punkten überlegen ist. Ich hoffe, ich werde sie einmal sehen.
Am 9. Dezember 1900 schreibt Fräulein Keller an denselben Herrin:
... Im vergangenen Oktober hörte ich von einem ungewöhnlich geweckten taub-blinden Mädchen in Texas. Sie heißt Ruby Rice und ist, glaube ich, dreizehn Jahre alt. Sie hat niemals Unterricht erhalten; doch kann sie nähen und hilft anderen bei dieser Arbeit. Ihr Geruchssinn ist wunderbar fein ausgebildet. Wenn sie in einen Laden tritt, geht sie direkt auf[S. 173] die Schaukästen zu; ebenso kann sie ihre eigenen Sachen von fremden unterscheiden. Ihre Eltern wünschen möglichst bald eine Lehrerin für sie. Auch haben sie schon an Herrn Hitz über ihre Tochter geschrieben.
Ebenso kenne ich ein Kind in dem Taubstummen-Institut in Mississippi. Sie heißt Maud Scott und ist sechs Jahre alt. Fräulein Watkins, ihre Erzieherin, hat mir einen sehr interessanten Brief geschrieben. Sie teilte mir mit, daß Maud taub geboren ist und ihr Gesicht schon im Alter von drei Monaten verlor, sowie daß sie bei ihrer vor ein paar Wochen erfolgten Aufnahme in das Institut ganz hilflos war. Sie konnte nicht einmal gehen und konnte auch ihre Hände nur wenig gebrauchen. Als man versuchte, ihr das Aufreihen von Perlen beizubringen, sanken ihr die Händchen herab. Augenscheinlich ist ihr Gefühlssinn nicht entwickelt worden, und bis jetzt kann sie nur gehen, wenn jemand sie bei der Hand faßt; aber sie scheint ein außergewöhnlich gewecktes Kind zu sein. Fräulein Watkins fügt hinzu, daß sie sehr hübsch ist. Ich habe ihr geschrieben, daß, wenn Maud lesen lernt, ich ihr viele Erzählungen schicken werde. Das Herz tut mir weh bei dem Gedanken, wie gänzlich dieses liebe, süße kleine Mädchen von allem abgeschnitten ist, was im Leben gut und wünschenswert ist. Aber Fräulein Watkins scheint gerade die richtige Erzieherin für sie zu sein.
Vor kurzem war ich in New York und traf Fräulein Rhoades, die mir erzählte, sie habe Katie Mc. Gier gesehen. Sie sagte, das arme junge Mädchen spreche und bewege sich gerade wie ein kleines Kind. Katie spielte mit Fräulein Rhoades’ Ringen, zog sie ihr ab und sagte mit einem fröhlichen Lachen: Sie bekommen sie nicht wieder. Sie konnte Fräulein Rhoades nur verstehen, wenn diese von den einfachsten Dingen sprach. Sie wollte ihr einige Bücher schicken, konnte aber keins finden, das einfach genug für sie gewesen wäre! Sie sagte, Katie sei sehr[S. 174] sanft, sei aber in Bezug auf den eigentlichen Unterricht in betrübender Weise zurückgeblieben. Ich war sehr überrascht, all dies zu hören; denn nach Ihren Briefen zu urteilen, muß Katie ein sehr frühreifes Mädchen sein.
Vor ein paar Tagen traf ich Tommy Stringer auf dem Bahnhofe in Wrentham. Er ist jetzt ein großer, starker Junge und wird bald der Leitung eines Mannes bedürfen; denn er ist wirklich zu groß, als daß sich eine Dame noch mit ihm abgeben könnte. Er geht, wie ich höre, in die öffentliche Schule, und seine Fortschritte sollen ganz erstaunlich sein; aber in der Unterhaltung zeigt er dies bis jetzt noch nicht, denn diese beschränkt sich auf ja und nein.
Ferner schreibt Helen in einem Briefe vom 27. Dezember 1890 an eine bekannte Dame: Ein Herr in Philadelphia hat vor kurzem an meine Lehrerin über ein taub-blindes Kind in Paris, dessen Eltern Polen sind, geschrieben. Die Mutter ist Aerztin und, wie er sagt, eine prächtige Frau. Der kleine Knabe konnte zwei bis drei Sprachen sprechen, bevor er sein Gehör durch Krankheit verlor, und ist jetzt erst fünf Jahre alt. Armer kleiner Bursche, ich wollte, ich könnte etwas für ihn tun; aber er ist so jung, meine Lehrerin glaubt, eine Trennung von seiner Mutter würde von zu nachteiligen Folgen für ihn begleitet sein. Frau Thaw schrieb mir kürzlich einen Brief über die Möglichkeit, etwas für all diese Kinder zu tun. Dr. Bell meint, die gegenwärtige Volkszählung würde ergeben, daß sich allein in den Vereinigten Staaten mehr als tausend befänden, und Frau Thaw glaubt, wenn alle meine Freunde ihre Anstrengungen vereinigten, so würde es ein leichtes sein, mit Beginn dieses neuen Jahrhunderts der Wohltätigkeit eine neue Bahn zu eröffnen und die Rettung dieser unglücklichen Kinder zu bewirken.
Am 11. November 1901 wurde Dr. Howes hundertjähriger Geburtstag in Boston feierlich begangen. Am Tage vorher schrieb Helen Keller an ihren Verwandten Dr. Edward Everett Hale (vergl. oben S. 139) folgenden Brief:
Cambridge, 10. November 1901.
Meine Lehrerin und ich hoffen morgen der Feier der hundertsten Wiederkehr von Dr. Howes Geburtstag beiwohnen zu können; aber ich bezweifle es sehr, ob wir eine Gelegenheit finden werden, mit Ihnen zu sprechen. Daher schreibe ich Ihnen heut, um Ihnen zu sagen, wie erfreut ich darüber bin, daß Sie die Festrede halten werden; denn ich fühle es, daß Sie besser als sonst jemand, den ich kenne, die aus dem tiefsten Herzen kommende Dankbarkeit derer zum Ausdruck bringen werden, die ihre Bildung, ihre Stellung im Leben, ihr Glück dem verdanken, der den Blinden die Augen geöffnet und den Stummen die Lautsprache geschenkt hat.
Während ich hier in meinem Studierzimmer sitze, umgeben von meinen Büchern, mich der tröstenden und erhebenden Gemeinschaft mit den großen Weisen erfreuend, suche ich mir vorzustellen, was mein Leben wohl gewesen wäre, wenn es Dr. Howe nicht gelungen wäre, die große, ihm von Gott gestellte Aufgabe zu lösen. Hätte er nicht die Verantwortung für Laura Bridgmans Erziehung übernommen und sie aus dem Schlunde des Acheron zurück zu ihrem Menschentume geführt, würde ich dann heut eine Schülerin des Radcliffe College sein — wer vermag dies zu sagen? Aber es ist nutzlos, über das zu grübeln, was in Bezug auf Dr. Howes große Leistung hätte sein können.
Ich glaube, nur diejenigen, welche jenem mehr dem Tode als dem Leben ähnlichen Dasein entronnen sind, von dem auch Laura Bridgman gerettet worden ist, können wissen, wie vereinsamt, wie in Dunkel gehüllt, wie durch die eigene Ohnmacht[S. 176] niedergedrückt eine Seele ohne Denken, ohne Glauben, ohne Hoffen ist. Worte sind zu schwach, um die Oede jenes Kerkers oder die Freude der Seele, die aus ihrer Haft befreit ist, zu schildern. Wenn wir die Dürftigkeit und Hilflosigkeit der Blinden vor dem Beginn von Dr. Howes Tätigkeit mit ihrer gegenwärtigen Brauchbarkeit und Unabhängigkeit vergleichen, so sind wir uns bewußt, daß sich große Dinge in unserer Mitte vollzogen haben. Physische Bedingungen haben hohe Mauern um uns errichtet, aber dank unserem Freunde und Helfer liegt uns die Welt nach oben offen; die Länge, die Breite, die Höhe des Himmels gehören uns.
Es ist ein erhebender Gedanke, daß Dr. Howes edles Unternehmen den ihm gebührenden Tribut der Liebe und Dankbarkeit in der Stadt erhalten soll, die der Schauplatz seiner unendlichen Mühen und seiner glänzenden Siege zum Besten der Menschheit gewesen ist.
Mit den herzlichsten Grüßen, denen sich meine Lehrerin anschließt, bin ich
in treuer Liebe
Ihre Freundin
Helen Keller.
Von John Albert Macy
Nebst Briefen und Berichten
von
A. M. Sullivan.
Schwierigkeit der Prüfung des mit der Schreibmaschine hergestellten Manuskriptes. — Braillekopie. — Revision mit Hilfe Fräulein Sullivans.
Man muß gestehen, Fräulein Kellers »Geschichte meines Lebens« erscheint gerade jetzt zur rechten Zeit. Die Entwickelung der Verfasserin ist im wesentlichen abgeschlossen, und was sie auch in Zukunft noch erreichen mag, es wird immer nur ein verhältnismäßig geringfügiger Zuwachs zu den Erfolgen sein, die sie schon jetzt aufzuweisen hat. Diese Erfolge liegen klar zutage, denn ihre Leistungen im Radcliffe College während der letzten beiden Jahre haben bewiesen, daß sie ihre Ausbildung so weit fortsetzen kann, als ob sie unter normalen Bedingungen studierte. Alle Zweifel, die Fräulein Keller etwa selbst gehegt haben mag, sind nun verstummt.
Um den Leser in den Stand zu setzen, Fräulein Kellers Aufzeichnungen von dem richtigen Gesichtspunkte aus zu betrachten, sind einige Erläuterungen notwendig. In der Schilderung, die sie von ihren ersten Unterrichtsjahren entwirft, gibt sie keinen wissenschaftlich genauen Bericht über ihr Leben, nicht einmal über die wichtigsten Ereignisse darin. Sie kann im einzelnen nicht wissen, in welcher Weise sie unterrichtet wurde, und die Erinnerung an ihre Kindheit ist zum Teil eine idealisierte Erinnerung an das, was sie später von ihrer Lehrerin und anderen erfahren hat. Sie ist weniger imstande, sich auf Ereignisse zu entsinnen, die fünfzehn Jahre zurückliegen, als die meisten von uns sich ihre Kindheit ins Ge[S. 180]dächtnis zurückrufen können. Aus diesem Grund wird man stellenweise einen Unterschied zwischen den Aufzeichnungen Fräulein Kellers und den Berichten ihrer Lehrerin finden.
Die Art und Weise, in der Fräulein Keller ihre Biographie geschrieben hat, legt deutlicher als alles andere Zeugnis von den Schwierigkeiten ab, die sie zu überwinden hatte. Wenn wir schreiben, so können wir das Fertiggewordene überlesen, seitenlang zurückblättern, einfügen, die Anordnung ändern; wir können sehen, wie sich die Sätze im Konzepte ausnehmen, und so das ganze Werk offensichtlich vor unseren Augen aufbauen, wie ein Architekt seine Pläne entwirft. Wenn Fräulein Keller die Schreibmaschine benutzt, so kann sie das Niedergeschriebene nur prüfen, wenn es ihr jemand mittels des Fingeralphabets vorliest.
Diese Schwierigkeit wird zum Teil durch die Benutzung der Braillemaschine gehoben, die ein für sie lesbares Manuskript liefert; da ihre Arbeit doch aber zuletzt in Schreibmaschinenschrift übertragen werden muß, und eine Braillemaschine etwas unbequem zu handhaben ist, so hat sie sich daran gewöhnt, sofort mit der Schreibmaschine zu arbeiten. Sie ist so wenig von ihrem Braillemanuskript abhängig, daß, als sie vor länger als Jahresfrist ihre Biographie zu schreiben begann und etwa hundert Seiten des Entwurfes nebst einzelnen Bemerkungen hiezu fertiggestellt hatte, sie aus Unachtsamkeit diese Anmerkungen vernichtete, ehe sie ihr Manuskript beendet hatte. Daher schrieb sie einen großen Teil ihrer Biographie mittels der Schreibmaschine nieder und verließ sich behufs der Zusammenstellung der einzelnen Episoden, die ihr Fräulein Sullivan vorlas, bei der endgültigen Ausarbeitung ganz auf ihr Gedächtnis.
Als sie im vergangenen Juli unter großer Ueberbürdung mit Arbeit das Schlußkapitel beendet hatte, begann sie das[S. 181] ganze Buch mit der Schreibmaschine umzuschreiben. Ein guter Freund von ihr, Herr William Wade, hatte für sie eine vollständige Braillekopie nach den Niederschriften angefertigt. Nun hatte sie zum ersten Male ihr gesamtes Manuskript auf einmal unter den Fingern. Sie bemerkte Mängel in der Anordnung der Abschnitte und Wiederholungen einzelner Redewendungen; ferner erkannte sie, daß ihre Biographie von selbst in kurze Kapitel zerfiel, und teilte sie demgemäß von neuem ein.
Teils infolge ihres Temperaments, teils infolge der Bedingungen, unter denen ihr Buch entstanden war, hatte sie mehr eine Reihe glänzender Einzelschilderungen als eine einheitliche Erzählung gegeben; in der Tat sind verschiedene Abschnitte ihrer Biographie kurze Aufsätze, die sie in ihren englischen Unterrichtsstunden geschrieben hatte, und die lose Verbindung zeigt mitunter ihren ursprünglichen Umfang an.
Bei der Reinschrift brachte Fräulein Keller mit Hilfe ihrer Brailleschreibmaschine Korrekturen und Ergänzungen auf besonderen Blättern zu Papier. Längere Korrekturen schrieb sie mittels der Schreibmaschine nieder und bezeichnete die Stellen, an die sie gehörten, durch Stichworte. Dann las sie das ganze Buch von ihrer Braillekopie ab und brachte während des Lesens noch Korrekturen an, die auf das Manuskript niedergeschrieben wurden, das dann in die Druckerei kam. Während dieser Revision erörterte sie Fragen, die auf Inhalt und Form Bezug hatten. Sie saß da, ließ ihre Finger über das Braillemanuskript gleiten, hielt dann und wann inne, um die Blätter, auf die sie ihre Notizen in Brailleschrift aufgezeichnet hatte, zu vergleichen, und las die ganze Zeit über laut, um ihre Zuhörer in die Lage zu versetzen, das Manuskript zu kontrollieren.
Sie hörte auf die Kritik genau so wie jeder andere Schriftsteller auf das Urteil seiner Freunde oder seines Verlegers hört. Fräulein Sullivan, die eine ausgezeichnete Kritikerin ist, machte[S. 182] ihr sowohl bei der Ausarbeitung wie bei der Revision vielfach Verbesserungsvorschläge. Man hat behaupten wollen, Fräulein Keller sei durch übereifrige Freunde zur Abfassung ihres Buches sowie zur Einfügung gewisser Dinge gedrängt worden. In Wahrheit haben die Ratschläge, die sie erhalten und befolgt hat, mehr zu Streichungen als zu Zusätzen geführt. Das Buch ist Fräulein Kellers ausschließliches geistiges Eigentum und der entscheidende Beweis für ihre selbständige Begabung.
Körperliche Erscheinung. — Lebhafte Gestikulation. — Personengedächtnis. — Vorliebe für Humor. — Hartnäckigkeit im Verfolgen ihrer Ziele. — Keckheit. — Ungeeignet für psychologische Experimente. — Liebe zur Geselligkeit. — Verständnis für Musik. — Interesse für die Tagesereignisse. — Ueberraschend vollständige Weltkenntnis. — Gefühlssinn nicht besonders fein entwickelt. — Verständnis für Plastik. — Wenig Orientierungssinn. — Benutzung der Schreibmaschine. — Fingeralphabet. — Hochdruck und Braillesystem. — Geruchssinn. — »Sechster Sinn«. — Zeitsinn. — Eigenartige Uhren. — Gesunde Auffassung der Dinge. — Sittliche Reinheit. — Abneigung gegen Tragödien. — Warmes Empfinden und Aufrichtigkeit. — Mangel an Eitelkeit. — Beschäftigung mit Politik.
Mark Twain hat behauptet, die beiden interessantesten Charaktere des neunzehnten Jahrhunderts seien Napoleon und Helen Keller. Die Bewunderung, mit der die Welt auf die letztere geblickt hat, wird durch ihre Leistungen mehr als gerechtfertigt. Niemand vermag etwas Zutreffendes über sie auszusagen, was nicht bereits gedruckt ist, und alles, was ich tun kann, besteht darin, einiges Tatsächliche über Fräulein Kellers Entwickelungsgang mitzuteilen und die Angaben über ihre Persönlichkeit in einigen Punkten zu ergänzen.
Fräulein Keller ist groß und kräftig gebaut und hat sich stets einer guten Gesundheit erfreut. Sie scheint nervöser zu[S. 183] sein, als sie tatsächlich ist, weil sie mehr mit ihren Händen gestikuliert als die meisten Menschen englischer Zunge. Der eine Grund für diese Gewöhnung liegt bei ihr darin, daß sie sich ihrer Hände so lange Zeit als Verständigungsmittel bedient hat, daß sie von selbst die rasche Beweglichkeit des Auges angenommen haben und einen Teil von dem ausdrücken, was wir mit einem Blicke sagen. Alle tauben Menschen gestikulieren von Hause aus. In der Tat war man früher der Meinung, diese Unglücklichen könnten sich am leichtesten durch ein System von Gestikulationen, durch die von dem Abbé de l’Epée erfundene Zeichensprache verständlich machen.
Wenn Fräulein Keller spricht, so belebt sich ihr Antlitz und drückt alle Nuancen ihres Denkens aus, ihre Gesichtszüge werden sprechend und geben ihren Worten erst den rechten Nachdruck. Wenn sie jedoch mit einem näheren Bekannten spricht, so faßt sie mit der Hand rasch nach seinem Gesichte, um, wie sie sagt, „das Bewegungsspiel des Mundes zu sehen.“ Auf diese Weise ist sie imstande, den Sinn solcher halb ausgesprochenen Sätze zu verstehen, die wir unbewußt aus dem Tone der Stimme oder dem Ausdrucke des Auges ergänzen.
Ihr Personengedächtnis ist erstaunlich. Sie erinnert sich bei der Berührung von Fingern, die sie früher in der Hand gehalten hat, all der charakteristischen Muskelzusammenziehungen, die den Handschlag des einen Menschen von dem des anderen verschieden machen.
Vielleicht der kennzeichnendste Charakterzug Helen Kellers (und ebenso Fräulein Sullivans) ist der Humor. Schlagfertigkeit und die Neigung zu Wortspielen verleihen ihr eine Vorliebe für Bonmots und witzige Redewendungen. Doch ist ihr Humor von jener tieferen Art, die gleichbedeutend mit Mut ist.
Vor vierzehn Jahren setzte sie es sich in den Kopf, sprechen lernen zu wollen, und sie ließ ihrer Lehrerin nicht eher Ruhe,[S. 184] bis ihr diese die Erlaubnis gab, Unterricht darin nehmen zu dürfen, obgleich kluge, erfahrene Leute, sogar Fräulein Sullivan, die klügste von allen, dies als ein Experiment betrachteten, das unmöglich gelingen könne und nur danach angetan sei, sie unglücklich zu machen. Diese selbe Hartnäckigkeit war es, die sie bewog, die Universität zu besuchen. Nachdem sie ihre Examina bestanden und ihr Abiturientenzeugnis erhalten hatte, wurde ihr von dem Dekan des Radcliffe College und anderen das Universitätsstudium widerraten. Sie schob es daher ein volles Jahr auf. Sie fühlte sich aber nicht befriedigt, bis sie ihren Plan ausführte und die Universität bezog.
Ihr Leben ist eine Reihe von Anläufen gewesen, alles zu tun, was andere tun, und es ebensogut zu tun. Sie hat damit einen durchschlagenden Erfolg erzielt, denn bei dem Versuche, so zu sein wie andere, ist sie dahin gelangt, sich selbst völlig zu finden. Ihre Abneigung gegen Niederlagen hat ihren Mut entwickelt. Was ein anderer erreichen kann, das kann sie auch. Ihre Achtung für persönliche Tapferkeit gleicht der Verachtung des Knaben für den weinenden Spielgefährten, mit einem Anflug von jugendlichem Bramarbasieren. Sie unternimmt Fußwanderungen in die Wälder, kriecht durch das Unterholz, wobei sie zerkratzt und zerschunden wird; aber man kann sie nicht dahin bringen, zuzugeben, daß sie sich verletzt habe, und um keinen Preis bewegen, das nächstemal zu Hause zu bleiben.
Wenn man versucht, Experimente an ihr zu machen, zeigt sie eine zähe Willensbestimmtheit, jede Probe, der man sie zu unterziehen wünscht, zu bestehen, so widersinnig sie auch sein mag.
Wenn sie die Antwort auf eine Frage nicht weiß, so rät sie frisch darauf los. Fragt man sie nach der Farbe des Rockes, den man anhat (kein Blinder kann eine Farbe erkennen), so befühlt sie ihn und sagt: Schwarz. — Ist er zufällig blau und sagt man ihr dies triumphierend, so ist sie imstande zu antworten: Danke.[S. 185] Ich freue mich, daß Sie es wissen. Wozu haben Sie mich dann überhaupt gefragt? —
Ihre spöttische, mutwillige Art macht sie zu einem sehr ungeeigneten Objekt für psychologische Experimente. Außerdem sieht Fräulein Sullivan auch nicht ein, warum Helen Keller wissenschaftliche Untersuchungen über sich ergehen lassen soll, und hat selbst nur wenig Experimente angestellt. Als ein Psychologe sie fragte, ob Helen im Schlafe mit ihren Fingern buchstabiere, entgegnete ihm Fräulein Sullivan, sie halte es nicht für der Mühe wert, aufzubleiben und Nachtwache zu halten, da derlei Dinge von so geringer Bedeutung seien.
Fräulein Keller ist eine Freundin von Geselligkeit. Wenn jemand, den sie berührt, über einen Scherz lacht, lacht sie mit, gerade als ob sie ihn gehört hätte. Wenn andere von Musik hingerissen werden, so erscheint, durch Sympathie hervorgerufen, ebenfalls auf ihren Zügen ein strahlender Ausdruck. In der Tat besitzt sie ein so feines Gefühl für die Gemütsbewegungen Fräulein Sullivans, daß sie sich derselben sofort anpassen kann, und so scheint sie auch zu wissen, was in ihrer Umgebung geschieht, selbst wenn die Unterhaltung ihr nicht in die Hand buchstabiert wird. In derselben Weise beruht ihr Verständnis für Musik teilweise auf Sympathie, obgleich sie sich an ihr auch um ihrer selbst willen erfreut.
Die Musik kann für sie vermutlich wenig mehr bedeuten als eine rhythmische Bewegung. Sie kann nicht singen oder Klavier spielen, obgleich sie, wie frühere Experimente beweisen, es mechanisch erlernen konnte, eine Melodie auf den Tasten abzuspielen. Ihre Freude an der Musik ist nichtsdestoweniger völlig echt, denn die Töne werden ihr durch das Gefühl vermittelt, indem die Luftwellen sie berühren. Teilweise rührt ihr Verständnis für den Rhythmus der Musik ohne Zweifel von den Schwingungen fester Körper her, die sie berührt;[S. 186] des Fußbodens oder, was wahrscheinlicher ist, des Pianokastens, auf dem ihre Hand ruht. Doch scheint sie auch die Bewegung der Luft selbst zu empfinden. Als die Orgel in der Bartholomäuskirche für sie gespielt wurde, (vergl. S. 171) erbebte das ganze Gebäude bei den mächtigen Pedaltönen, aber dadurch wird nicht im geringsten erklärt, was Helen empfand und worüber sie sich freute. Die Vibration der Luft sowie die anschwellenden Orgeltöne versetzten sie ebenfalls in gleichartige Schwingungen. Mitunter legt sie ihre Hand an den Kehlkopf eines Sängers, um das Zittern und Zusammenziehen der Muskeln zu fühlen, und hat davon einen wahrhaften Genuß. Niemand weiß jedoch genau, welcher Art ihre Empfindungen dabei sind. Es ist belustigend, in einer Zeitschrift aus dem Jahre 1895 zu lesen, daß Fräulein Keller den verschiedenen Komponisten eine gerechte und verständnisvolle Würdigung entgegenzubringen vermöge, da sie deren Musik im buchstäblichen Sinne des Wortes fühle; Schumann sei ihr Lieblingskomponist. Wenn sie den Unterschied zwischen Schumann und Beethoven kennt, so rührt dies daher, daß sie darüber gelesen hat, sich an das Gelesene erinnert und mit jemand, der sie danach fragt, über dieses Thema sprechen kann.
Fräulein Kellers Streben, es anderen in Bezug auf Intelligenz gleichzutun, hält sie auch betreffs der Tagesereignisse auf dem laufenden. Als ihre Erziehung systematischer wurde und sie sich mit Büchern beschäftigte, würde es für Fräulein Sullivan ein leichtes gewesen sein, sie zur Einkehr in sich selbst anzuhalten, wenn sie dazu geneigt gewesen wäre. Aber jedermann, der mit ihr zusammenkam, hat ihr sein Bestes gegeben, und sie hat es angenommen. Wenn im Laufe einer Unterhaltung der ihr zunächst Sitzende auch nur einen Augenblick aufhört, in ihre Hand zu buchstabieren, so erfolgt unausbleiblich die Frage: Worüber sprechen Sie jetzt? Auf diese Weise speichert[S. 187] sie die Bruchstücke aus der täglichen Unterhaltung normal beanlagter Menschen in sich auf, und ihre Einzelkenntnisse sind daher äußerst umfassend und genau. Auch spricht sie gut über die kleinen täglichen Ereignisse des Lebens.
Einen großen Teil ihres Wissens erwirbt sie sich auf unmittelbarem Wege. Wenn sie ausgeht, bleibt sie oft plötzlich stehen, von dem Geruche eines Strauches angezogen. Sie streckt ihre Hand aus, befühlt die Blätter, und empfindet an der Pflanzenwelt denselben Genuß wie wir, wenn sie die Blätter zwischen ihren Fingern hält, den Duft der Blüten einsaugt und wenn sie sich später wieder daran erinnert.
Befindet sie sich an einer neuen Oertlichkeit, namentlich einer interessanten wie den Niagarafällen, so ist ihr Begleiter, — in der Regel ist es natürlich Fräulein Sullivan — bemüht, ihr eine Vorstellung von den sichtbaren Einzelheiten beizubringen. Fräulein Sullivan, die das Innere ihres Zöglings kennt, wählt aus der Landschaft die wesentlichen Züge aus, die imstande sind, Helens innerer Anschauung der Außenwelt, die unseren Augen eine verwirrende Fülle von Einzelheiten darbietet, eine gewisse Klarheit und Bestimmtheit zu verleihen. Wenn ihr Begleiter ihr nicht genug Einzelheiten mitteilt, so stellt Helen selbst Fragen, bis sie sich das Landschaftsbild zu ihrer Befriedigung ergänzt hat.
Sie sieht nicht mit ihren Augen, wohl aber mittels der inneren Fähigkeit, zu deren Unterstützung uns die Augen gegeben sind. Wenn sie von einem Spaziergang zurückkehrt und mit jemand über diesen spricht, so sind ihre Beschreibungen zutreffend und lebendig. Eine auf Vergleichung beruhende Erfahrung, die sie aus schriftlichen Schilderungen und aus den mündlichen ihrer Lehrerin schöpft, schützt sie vor Irrtümern im Gebrauche der Bezeichnungen für Gehörs- und Gesichtseindrücke. Ihre Anschauung vom Leben ist in der Tat höchst[S. 188] farbenreich, und die Welt, wie Helen sie erblickt, ist unzweifelhaft ein wenig besser als in Wirklichkeit. Doch ist Fräulein Kellers Kenntnis von ihr durchaus nicht so unvollständig, wie man annehmen könnte. Gelegentlich setzt sie ihre Umgebung durch ihre Unkenntnis einer Tatsache in Erstaunen, die ihr zufällig niemand mitgeteilt hat; so wußte sie zum Beispiel bis zu ihrem ersten Seebade nicht, daß das Meerwasser salzig ist. Viele der vereinzelten Ereignisse und Tatsachen unseres täglichen Lebens gehen an ihr unbemerkt vorüber, aber sie hat eine genügende Kenntnis von der Welt, um sich eine im wesentlichen lückenlose Anschauung von ihr bilden zu können.
Der größte Teil ihres unmittelbaren Wissens geht auf ihren Gefühlssinn zurück. Dieser Sinn ist jedoch nicht so fein ausgebildet wie bei anderen Blinden. Laura Bridgman konnte die winzigsten, fast verschwindenden Unterschiede in der Stärke von Fäden wahrnehmen und fertigte wundervolle Spitzen an. Fräulein Keller versteht zu stricken und zu häkeln, aber sie hat Besseres zu tun. Bei ihren mannigfaltigen Gaben und Anlagen hat sie sich des Gefühlssinns nicht genügend bedient, um ihn allzuhoch über die normale Schärfe hinaus zu entwickeln. Ein Bekannter stellte eines Tages bei Helen Versuche mit verschiedenen Münzen an. Das Wiedererkennen nach Maßgabe ihres Gewichts- und Größenverhältnisses ging langsamer von statten, als er erwartet hatte. Aber man muß dabei bedenken, daß sie fast nie Geld in die Hände bekommt und, nebenbei gesagt, so von einer der schmutzigen und kleinlichen Einzelheiten des Lebens verschont bleibt.
Sie erkennt den Vorwurf und die allgemeine Idee einer sechs Zoll hohen Statuette. Etwas, was flacher ist, als ein Basrelief von einem halben Zoll Höhe ist für sie ein leeres Blatt, insofern es sich dabei um die Empfindung des Schönen handelt. Große Statuen, bei denen sie den Schwung der Linien[S. 189] mit der ganzen Hand verfolgen kann, gewähren ihr einen höheren ästhetischen Genuß. Sie bemerkt selbst, daß sie sie besser zu würdigen imstande ist als wir, weil sie die wirklichen Dimensionen zu erfassen und die körperliche Natur eines plastischen Werkes unmittelbarer zu empfinden vermag. Als sie das Museum der schönen Künste in Boston besuchte, stand sie auf einer Stehleiter und ließ beide Hände über die Statuen gleiten. Als sie ein Basrelief mit der Darstellung tanzender Mädchen befühlte, fragte sie: Wo sind die Sängerinnen? — Nachdem sie diese gefunden hatte, sagte sie: Eine von ihnen schweigt. — Die Lippen der Sängerin waren geschlossen.
Am meisten bietet jedoch ihr tägliches Leben Gelegenheit, die Feinheit ihrer Sinne und ihrer Handfertigkeit zu beobachten. Sie scheint sehr wenig Orientierungssinn zu besitzen. Sie tastet ihren Weg mit ziemlicher Unsicherheit selbst in Zimmern entlang, mit denen sie ganz bekannt ist. Die meisten Blinden werden durch das Gehör unterstützt, sodaß man sie nicht mit diesen vergleichen kann, sondern billigerweise nur mit anderen taubstummen Blinden. Ihre Geschicklichkeit ist weder im Verhältnis zu normalen Personen, deren Bewegungen durch das Auge geleitet werden, noch, wie mir versichert wurde, zu anderen Blinden bemerkenswert. Sie hat keine einzige Fertigkeit ausgeübt, die den Gebrauch ihrer Hände erfordert haben würde. Als sie zwölf Jahre alt war, ließ ein Bekannter von ihr, der Künstler Albert H. Munsell, sie Versuche mit einer Wachstafel und einem Griffel anstellen. Er berichtet, sie habe sich ganz gut dabei angestellt und nach Modellen einige Umrißzeichnungen von Blättern und Rosetten angefertigt. Ihre einzige Beschäftigung, die Handfertigkeit erfordert, ist ihre Tätigkeit an der Schreibmaschine. Obgleich sie diese von ihrem zwölften Lebensjahre an benutzt hat, arbeitet sie an ihr eher sorgfältig als rasch. Sie schreibt mit angemessener Schnelligkeit und abso[S. 190]luter Sicherheit. Ihre Manuskripte enthalten selten Schreibfehler, wenn sie sie Fräulein Sullivan zum Durchlesen übergibt. Ihre Schreibmaschine weist keine besonderen Einrichtungen auf. Sie überzeugt sich von der Stellung der einzelnen Tasten zueinander durch eine gelegentliche Berührung des Außenrandes der Platte mit dem kleinen Finger.
Fräulein Kellers Verstehen des Fingeralphabets vermittelst des Gefühls scheint einigermaßen Verwunderung zu erregen. Selbst Leute, die Helen sehr gut kannten, haben in Zeitschriften von Fräulein Sullivans »geheimnisvoller telegraphischer Zwiesprache« mit ihrem Zögling gesprochen. Das Fingeralphabet ist das bei allen tauben Personen, die eine Erziehung genossen haben, übliche. Die meisten Wörterbücher enthalten eine bildliche Darstellung der Fingeralphabete. Der sehende Taube blickt auf die Finger seines Begleiters, aber es ist auch möglich, sie zu fühlen. Fräulein Keller legt ihre Finger leicht über die Hand dessen, der mit ihr spricht, und faßt die Worte so rasch auf, wie sie buchstabiert werden können. Wie sie erklärt, ist sie sich weder der einzelnen Buchstaben noch einzelner Wörter bewußt. Fräulein Sullivan und andere, die beständig mit Tauben zu tun haben, können sehr rasch buchstabieren — schnell genug, um die Geschwindigkeit einer langsamen Lektüre zu erreichen, jedoch nicht, um jedem Worte eines raschen Gespräches folgen zu können.
Jedermann kann das Fingeralphabet in wenigen Minuten erlernen, nach Verlauf eines Tages langsam anwenden und nach einer beständigen Uebung von dreißig Tagen sich durch dasselbe mit Helen Keller oder einer anderen tauben Person verständigen, ohne auf die Bewegung der Finger zu achten. Wäre das Fingeralphabet allgemeiner bekannt und erlernten die Bekannten und Angehörigen tauber Kinder es zugleich mit diesen, so würden die Tauben der ganzen Welt glücklicher und besser unterrichtet sein.
Helen Keller liest mit Hilfe von Hochdrucken und den verschiedenen Arten der Brailleschrift. Das gewöhnliche Buch in Hochdruck ist mit römischen Lettern, sowohl kleinen wie großen, hergestellt. Diese Lettern sind von einfacher, viereckiger, rechtwinkliger Gestalt. Die kleinen Buchstaben sind ungefähr 3/16 Zoll hoch und erheben sich über die Blattfläche ungefähr um die Dicke eines Daumennagels. Die Bücher haben ein großes Format, ungefähr Lexikonformat. Das französische Elementarbuch von Ploetz umfaßt zum Beispiel vier Bände. Die Bücher sind nicht schwer, weil die Blätter mit der erhöhten Schrift nicht dicht übereinander liegen. Am meisten fällt Helens Blindheit ihren Bekannten auf, wenn die plötzlich im Dunkeln zu ihr kommen und das Rascheln ihrer Finger über die Buchseite hören.
Der geeignetste Druck für die Blinden ist die Brailleschrift, die verschiedene Abarten aufweist, leider nur zu viele — die englische, die amerikanische, die New Yorker. Fräulein Keller liest sie alle. Die meisten Blinden mit Schulbildung verstehen verschiedene Systeme, aber es würde die Sache vereinfachen, wenn, wie Fräulein Keller vorschlägt, die englische Brailleschrift allgemein angenommen würde. Jedes Zeichen (entweder ein Buchstabe oder eine, der Brailleschrift eigentümliche Zusammenziehung mehrerer Buchstaben) besteht aus einer Anzahl von Punkten (zwischen 1 und 6 schwankend), die in verschiedenen Stellungen zueinander angeordnet sind. Fräulein Keller besitzt eine Brailleschreibmaschine, auf der sie ihre Notizen anfertigt und Briefe an ihre blinden Freunde schreibt. Diese Maschine hat sechs Tasten, und durch das Niederdrücken einer oder mehrerer von diesen zu gleicher Zeit (genau so wie man einen Akkord auf dem Klavier greift) bringt der Schreibende ein Zeichen in einem Bogen dicken Papiers hervor und kann halb so rasch schreiben wie auf einer gewöhnlichen Schreibmaschine.[S. 192] Die Brailleschrift eignet sich vorzugsweise zur Herstellung einzelner Abschriften von Büchern.
Bücher für Blinde gibt es verhältnismäßig wenige.[21] Ihre Herausgabe erfordert große Kosten, und sie haben einen zu kleinen Abnehmerkreis, als daß das Geschäft für den Verleger gewinnbringend sein könnte. Es gibt jedoch verschiedene Anstalten mit besonderen Fonds zur Herstellung von Büchern in Hochdruck. Fräulein Keller ist glücklicher daran als die meisten anderen Blinden, da ihre Freunde so aufmerksam waren, eigens für sie Bücher herzustellen und sich Herren, wie zum Beispiel Herr E. E. Allen vom Pennsylvania Institute for the Instruction of the Blind bereit fanden, Ausgaben von Büchern, deren sie gerade bedurfte, zu veranstalten.
Fräulein Keller liest in der Regel nicht allzu schnell, sondern eher bedächtig, nicht weil sie die Worte weniger geschwind fühlte, als wir sie sehen, sondern weil sie es sich zur Gewohn[S. 193]heit gemacht hat, alles gründlich und gut zu tun. Wenn sie sich für eine Stelle interessiert oder sich dieselbe zu künftiger Verwendung einprägen will, so buchstabiert sie sich diese mit den Fingern der rechten Hand vor. Mitunter geht dieses Fingerspiel ganz unbewußt von statten. Auch spricht Helen in Geistesabwesenheit oft zu sich selbst mittels des Fingeralphabets. Wenn sie in der Halle oder der Veranda auf- und abgeht, so bewegen sich ihre Hände mit der Geschwindigkeit von Vogelflügeln.
Es gibt, wie mir versichert wird, ebenso ein auf dem Gefühl beruhendes Gedächtnis, wie ein auf dem Gesicht und Gehör beruhendes. Fräulein Sullivan erklärt, daß sowohl sie wie Fräulein Keller sich »in ihren Fingern« daran erinnerten, was sie gesagt haben. Wenn Helen Keller einen Satz in der Fingersprache buchstabiert, so macht dies auf ihren Geist denselben Eindruck, wie wenn wir etwas, das wir oft gehört haben, dadurch unbewußt lernen, daß wir uns den Klang des Gehörten ins Gedächtnis zurückrufen können.
Gleich jedem Tauben oder Blinden besitzt Fräulein Keller einen außerordentlich feinen Geruch. Als sie ein kleines Mädchen war, roch sie alles und erkannte an den verschiedenen Gerüchen, wo sie war, an welchem Hause sie vorüberkam u. s. w. Als ihr Intellekt zunahm, wurde sie weniger abhängig von diesem Sinne. In welchem Umfange sie bis jetzt Dinge an ihrem Geruche wiedererkennt, läßt sich schwer feststellen. Der Geruchssinn ist in Mißkredit gekommen, und ein Tauber spricht nur ungern von ihm. In Fräulein Kellers feinem Geruchssinn mag jedoch zum Teil eine Erklärung für jenes Wiedererkennen von Personen und Dingen zu finden sein, das man sich gewöhnt hat, einem besonderen Sinne zuzuschreiben, oder einer außergewöhnlichen Entwickelung der Fähigkeit, die wir alle zu besitzen scheinen, nämlich der Fähigkeit, anzugeben, wenn sich jemand in unserer Nähe befindet.
Die Frage nach einem besonderen »sechsten Sinne«, wie man ihn Fräulein Keller beigelegt hat, ist eine sehr heikle. Soviel ist sicher, sie kann keinen Sinn haben, den andere nicht auch haben können, und das Vorhandensein eines besonderen Sinnes ist weder ihr selbst noch ihrer Umgebung bekannt. Fräulein Kellers Wesen gibt ganz bestimmt keine Stütze für Geheimlehren und mysteriöse Theorien ab, und jeder Versuch, ihre Eigenart auf diese Weise zu erklären, scheitert an ihrer Normalität. Ihre Natur ist nicht geheimnisvoller und verwickelter als die jedes anderen Menschen. Alles, was sie ist, alles, was sie geleistet hat, läßt sich auf natürliche Weise erklären, bis auf die Züge, die sich in jedem Menschen vorfinden, ohne daß sie jemals erklärt werden können. Sie liefert offenbar keinen Beweis für die Existenz eines Geistes ohne Materie, das Dasein angeborener Ideen oder die Unsterblichkeit oder für sonst etwas, wofür sich nicht in jedem anderen menschlichen Wesen ein Beweis finden ließe. Philosophen haben festzustellen gesucht, welcher Art ihr Begriff von abstrakten Vorstellungen war, ehe sie sprechen lernte. Hatte sie irgendwelchen Begriff von solchen, so läßt sich diese Frage nicht mehr beantworten, denn sie kann sich nicht darauf entsinnen, und natürlich liegen auch keine Aufzeichnungen aus jener Zeit vor. Sie hatte keinen Begriff von Gott, ehe sie das Wort »Gott« gehört hatte, wie ihre eigenen Aussagen deutlich bekunden.[22]
Ihr Zeitsinn ist vortrefflich ausgebildet; ob er sich aber zu einer besonderen Begabung entwickelt haben würde, läßt sich nicht feststellen, denn sie besitzt seit ihrem siebenten Jahre eine Uhr.
Fräulein Keller besitzt zwei Uhren, die ihr zum Geschenk gemacht worden sind. Sie sind, glaube ich, die einzigen ihrer[S. 195] Art in Amerika. Die Uhr hat auf der Rückseite einen flachen goldenen Zeiger, der soweit von links nach rechts gedreht werden kann, bis er, mittels eines Stiftes innen im Gehäuse, an den Stundenzeiger anstößt, und so eine diesem entsprechende Stellung erhält. Die Spitze dieses goldenen Zeigers ragt über den Rand des Gehäuses vor, auf welchem elf erhöhte Punkte angebracht sind, der Griff vertritt die Stelle des zwölften. Diese Uhr — eine gewöhnliche Uhr mit einem gewöhnlichen Ziffernblatt für den Sehenden, — wird durch die beschriebene Vorrichtung zur Blinden-Uhr, mit einem (einzigen) erhöhten Zeiger und erhöhten Stundenziffern. Obgleich der sechzig Minuten entsprechende Zwischenraum zwischen den einzelnen Punkten weniger als einen halben Zoll beträgt, so liest Fräulein Keller die Zeit doch ziemlich genau ab. Man muß übrigens sagen, daß auch eine Uhr mit doppeltem Gehäuse, aber ohne Glas, einem Blinden hinreichende Dienste leistet, wenn dessen Gefühl fein genug ist, um die Stellung der Zeiger zu erkennen, ohne sie zu beschädigen.
Die feineren Züge von Fräulein Kellers Charakter sind so allgemein bekannt, daß man nicht viel Worte über sie zu verlieren braucht. Gesunder Menschenverstand, guter Humor und Phantasie machen ihre Auffassung der Dinge zu einer gesunden und schönheitserfüllten. Niemals ist von ihrer Umgebung ein Versuch gemacht worden, sie vor Illusionen zu bewahren oder ihr diese zu rauben. Als sie noch ein kleines Mädchen war, wurde eine ganze Menge unverständiger und taktloser Dinge, die über sie gesprochen worden waren, dank der weisen Wachsamkeit Fräulein Sullivans vor ihr nicht wiederholt. Jetzt, wo sie erwachsen ist, denkt niemand daran, weniger offen mit ihr zu sprechen, als mit jeder anderen intelligenten jungen Dame.
Ich glaube, sie ist das reinste menschliche Wesen, das je existiert hat... Die Welt ist für sie das, was ihr eigenes[S. 196] Bewußtsein ist. Sie hat nicht einmal gelernt, »moralische Entrüstung« zu zeigen, worauf viele so stolz sind.
Als vor einiger Zeit ein Polizist ihren Hund totschoß, den sie zärtlich liebte und der ihr täglicher Begleiter war, fand sie in ihrem verzeihenden Herzen keine Verurteilung für diesen Mann; sie sagte nur: „Wenn er nur gewußt hätte, was für ein guter Hund es war, so würde er ihn gewiß nicht erschossen haben. — Vor langer Zeit wurde uns gesagt: ‚Vater vergib ihnen, denn die wissen nicht, was sie tun!‘“ —
Natürlich wird die Frage aufgeworfen werden, ob Helen Keller das sein würde, was sie heutzutage ist, wenn sie nicht vor jeder Berührung mit dem Schlechten behütet worden wäre. ... Ihre Seele ist weder durch verweichlichende und schmutzige Lektüre entnervt noch durch den leisesten Hauch von Gemeinheit befleckt worden. Infolgedessen ist ihr Geist nicht nur kräftig, sondern auch rein. Sie liebt edle Handlungen, edle Gedanken und den Charakter edler Männer und Frauen.
Sie zeigt noch jetzt eine kindliche Abneigung gegen Tragödien. Ihre Phantasie ist so rege, daß sie vollständig unter dem Einfluß einer Erzählung steht und in deren Welt lebt. Fräulein Sullivan schrieb 1891 in einem Briefe:
Gestern las ich ihr die Geschichte von Macbeth vor, wie sie von Charles und Mary Lamb erzählt wird. Sie geriet in heftige Erregung und sagte: Das ist ja schrecklich. Ich fürchte mich davor. — Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, fuhr sie fort: Ich glaube, Shakespeare hat dies deshalb so schrecklich dargestellt, damit man sehen soll, wie furchtbar es ist, unrecht zu tun. —
Von der realen Welt weiß sie mehr Gutes und weniger Schlechtes, als die meisten Menschen zu wissen glauben. Ihre Lehrerin behelligte sie nicht mit den kleinen Miseren des Lebens; aber von den bedeutenden Schwierigkeiten, die sich ihnen in[S. 197] den Weg stellten, wurde Fräulein Keller völlig in Kenntnis gesetzt, nahm teil an den Sorgen und dachte über die Lösung der Probleme nach. Sie ist logisch und duldsam, voller Vertrauen zu einer Welt, von der sie stets mit Güte behandelt worden ist.
Als sie einmal aufgefordert wurde, den Begriff »Liebe« zu definieren, antwortete sie: Mein Gott, das ist doch leicht; es ist das, was jeder gegen jeden anderen empfindet. —
Duldsamkeit, — sagte sie einmal, als sie ihre Freundin Frau Laurence Hutton besuchte, ist die größte Geistesgabe; sie erfordert dieselbe Anstrengung des Denkens, die in körperlicher Hinsicht nötig ist, wenn man sich auf einem Zweirade im Gleichgewicht erhalten will. —
Sie besitzt eine umfassende, hochherzige Sympathie für alles und ein durch und durch ehrliches Wesen. Insofern sie sich offenkundig von anderen unterscheidet, ist sie auch weniger durch das Herkommen gebunden. Sie hat den Mut ihrer kühnen Metaphern und läßt sich von diesen himmelwärts erheben, während wir armen selbstbewußten Menschen sie für zu hoch halten, als daß wir sie in unsrer täglichen Unterhaltung anwenden könnten. Sie sagt stets genau das, was sie denkt, ohne Furcht vor der nackten Wahrheit, und dabei ist niemand taktvoller und gewandter im Umschreiben einer unangenehmen Wahrheit, um die Gefühle anderer so wenig wie möglich zu verletzen. Aber all die Aufmerksamkeit, die ihr seit ihrer Kindheit zu teil geworden ist, hat nicht vermocht, sie eitel auf sich selbst zu machen. Bisweilen nimmt sie einen geradezu salbungsvollen Ton an. Dann nennt ihre Lehrerin sie ihre kleine, unverbesserliche Sonntagsnachmittagspredigerin, und sie lacht dann über sich selbst. Oft jedoch sind ihre nüchternen Gedanken durchaus nicht lächerlich, denn ihr ernster Eifer reißt alle Hörer mit sich fort. Niemals ist die leiseste Spur einer falschen Sentimentalität[S. 198] in ihren Worten zu entdecken. Sie ist von allem, was sie sagt, so durchdrungen, daß selbst ihre Citate, die Wiederholungen dessen, was sie gelesen hat, den Eindruck eigener selbständiger Gedanken hervorrufen.
Ihre Logik und ihr warmes Empfinden halten sich stets ausgezeichnet die Wage. Ihr Empfinden ist von rascher und hilfsbereiter Art, wie sie es glücklicherweise so oft bei anderen angetroffen hat. Aber ihre Sympathien gehen weiter und beeinflussen ihr Urteil über politische und nationale Bewegungen. Sie war eine begeisterte Burenfreundin und schrieb einen geharnischten Artikel zugunsten der Unabhängigkeit der Buren. Als ihr die Waffenstreckung des tapferen kleinen Volkes mitgeteilt wurde, umwölkte sich ihr Antlitz, und sie verstummte für einige Minuten. Dann stellte sie klare, eindringliche Fragen nach den Bedingungen der Kapitulation und begann die letzteren zu erörtern.
Sowohl Herr Gilman wie Herr Keith, ihre beiden Lehrer, die sie für die Universität vorbereiteten, waren erstaunt über die Stärke des konstruktiven Denkens, die sie bei ihr wahrnahmen; ihre Leistungen in der reinen Mathematik waren ganz vorzüglich, obgleich sie niemals eine besondere Vorliebe für diese Wissenschaft gehabt zu haben scheint. Zu dem besten, was sie geschrieben hat, gehören, abgesehen von ihren phantasievollen dichterischen Ergüssen, ihre Examensarbeiten und ihre Abhandlungen über technische Fragen sowie einige Briefe, die sie zur Aufklärung von Mißverständnissen schreiben zu müssen glaubte und die Muster folgerichtigen Denkens und bestrickender Beredsamkeit sind. Sie ist Optimistin und Idealistin.
Ich hoffe, heißt es in einem ihrer Briefe, daß L. nicht allzu praktisch ist, denn in diesem Falle würde sie, fürchte ich, auf einen großen Teil des Lebensgenusses verzichten müssen. —
In das Tagebuch, das sie während ihres Aufenthaltes in der Wright-Humason-Schule in New York führte, trug sie unter dem 18. Oktober 1894 ein: Ich finde, daß ich während meines Schullebens hier und überhaupt im Leben viererlei zu lernen habe: klar zu denken ohne Uebereilung und Verwirrung, jedermann aufrichtig zu lieben, in allem mich von den höchsten Motiven leiten zu lassen und unverrückt auf den lieben Gott zu bauen. —
[21] Die Blindenanstalt in Steglitz bei Berlin besitzt eine Bibliothek von gegen 6000 Bänden in Blindenschrift, (die Bibel allein umfaßt 71 Bände!) die in Dresden eine solche von über 3000 Bänden. Wie reichhaltig diese Literatur ist, möge ein Blick auf das nachfolgende Autorenverzeichnis lehren, das noch dazu nicht einmal vollständig ist: E. M. Arndt Auerbach, Bauernfeld, Baumbach, Beecher-Stowe, Brentano, W. Busch, Chamisso, Dahn, Ebers, Ebner-Eschenbach, Eckstein, Eichendorff, Eschstruth, Fouqué, Freytag, Frommel, Ganghofer, Geibel, Gerok, Goethe, Grillparzer, Grimm, Gutzkow, Hammer, Hauptmann, Hebel, Herder, Heyse, Hillern, Franz Hoffmann, Horn, Ibsen, Jensen, Immermann, G. Keller, Kinkel, Kleist, Kögel, Körner, Kügelgen, Lavater, Lessing, Loti, Ludwig, Luther, Masius, C. F. Meyer, Moltke, Nathusius, Nieritz, Polko, Putlitz, Reinick, Reuter, Riehl, Rogge, Roquette, Rosegger, Rückert, Scheffel, Schiller, Schmid, Seidel, Shakespeare, Sophokles, Spitta, Spyri, Stifter, Stinde, Storm, Sturm, Sudermann, Tegnér, Tolstoi, Uhland, Vollmar, Walter v. d. Vogelweide, A. Weber, Wildenbruch, Wildermuth, I. Wolf. Auch das Nibelungenlied ist vertreten; in größerer Auswahl sind Lehr- und Erbauungsbücher vorhanden.
Anm. d. Uebers.
[22] Vergl. S. 291 ff. und 295 ff.
Dr. Howe und Laura Bridgman. — Helen Keller kein Objekt für psychologische Beobachtungen. — Unwahre und übertriebene Berichte über ihre Fortschritte. — Fräulein Sullivans Persönlichkeit. — Helens Entwickelung nach Fräulein Sullivans Berichten. — Psychologische und pädagogische Betrachtungen über Fräulein Sullivans Methode.
Es sind jetzt fünfundsiebzig Jahre verflossen, seit Dr. Samuel Gridley Howe erkannte, daß es ihm gelungen sei, sich durch Laura Bridgmans Finger einen Zugang zu ihrem Geiste zu eröffnen. Die Namen Laura Bridgman und Helen Keller werden stets zusammen genannt werden, und man muß zuvörderst einen Einblick in das gewinnen, was Dr. Howe für seinen Zögling getan hat, ehe man an eine Darstellung von Fräulein Sullivans Tätigkeit gehen kann. Denn Dr. Howe ist der große Pionier, auf dessen Wirken die Leistungen Fräulein Sullivans und anderer Lehrer von blinden Taubstummen unmittelbar beruhen.
Dr. Samuel Gridley Howe war am 10. November 1801 in Boston geboren und starb ebendaselbst am 9. Januar 1876. Er war ein großer Philanthrop, der sich namentlich für die Erziehung aller mangelhaft Beanlagten, der Schwachsinnigen,[S. 200] der Blinden und der Taubstummen interessierte. Weit seiner Zeit voraus, befürwortete er mancherlei öffentliche Vorkehrungen zum Besten der Armen und Kranken, wegen deren er damals verlacht wurde, die aber seitdem praktisch durchgeführt sind. Als Leiter der Perkinsschen Blindenanstalt in Boston hörte er von Laura Bridgman und brachte sie am 4. Oktober 1837 nach der Anstalt.
Laura Bridgman war am 21. Dezember 1829 zu Hanover in New Hampshire geboren; sie war also beinahe acht Jahre alt, als Dr. Howe seine Versuche mit ihr begann. Im Alter von sechsundzwanzig Monaten hatte sie ein Scharlachfieber überstanden, durch diese Krankheit aber Gesicht und Gehör und außerdem den Geruch- und Geschmackssinn verloren. Dr. Howe war ein Experimentalforscher, erfüllt von dem Geiste des Transcendentalismus von Neuengland, dessen Hauptmerkmale starker Glaube und großartige Liebeswerke sind. Wissenschaft und Glaube im Verein veranlaßten ihn, zu versuchen, ob er sich nicht einen Weg in die Seele bahnen könnte, mit der seiner Auffassung nach Laura Bridgman ebenso geboren worden sei wie jedes andere menschliche Wesen. Sein Plan ging dahin, Laura mit Hilfe von erhaben geprägten Buchstaben zu unterrichten. Er klebte aus solchen Buchstaben bestehende Wörter an Gegenstände und ließ sie dieselben mit den Gegenständen und die Gegenstände mit den Wörtern vergleichen. Nachdem sie auf diese Weise gelernt hatte, erhaben geprägte Wörter mit Gegenständen zusammenzubringen, wie er sagt, fast in derselben Weise, wie ein Hund Kunststücke lernt, begann er die Wörter in ihre lautlichen Bestandteile aufzulösen und Laura zu lehren, k–e–y, c–a–p zusammenzusetzen. Sein Erfolg überzeugte ihn davon, daß sich die Sprache durch Vermittelung des Gefühles dem Geiste des blinden und taubstummen Kindes beibringen läßt, das sich vor dem Beginn des Unterrichts in der Lage des[S. 201] kleinen Kindes befindet, das noch nicht sprechen kann; ja, ersteres befindet sich sogar in einer viel ungünstigeren Lage, denn das Gehirn hat sich jahrelang ohne seine natürliche Nahrung entwickelt.
Nachdem Lauras Unterricht zwei Monate hindurch nur unter Benutzung erhaben geprägter Buchstaben fortgesetzt worden war, sandte Dr. Howe eine der Lehrerinnen der Anstalt fort, um von einem Taubstummen das Fingeralphabet zu erlernen. Nach ihrer Rückkehr unterrichtete sie Laura darin, und seit dieser Zeit wurde das Fingeralphabet als Verständigungsmittel im Verkehr mit ihr benutzt.
Nach ein bis zwei Jahren unterrichtete Dr. Howe Laura Bridgman nicht mehr selbst, sondern vertraute sie anderen Lehrern an, die sich unter seiner Leitung an die Aufgabe machten, ihr das Sprechen beizubringen.
Man kann gar nicht genug zum Lobe von Dr. Howes Unternehmen sagen. Als Forscher hatte er stets in erster Reihe wissenschaftliche Gesichtspunkte im Auge. Er vergaß niemals, seine Beobachtungen an Laura Bridgman in der Art jemandes niederzulegen, der in einem Laboratorium arbeitet. Die Folge davon ist, daß seine Berichte systematisch und sorgfältig abgefaßt sind.[23] Vom wissenschaftlichen Standpunkte aus ist es zu bedauern, daß es unmöglich war, eine so umfassende Darlegung von Helen Kellers Entwicklungsgang zu erhalten. Dieser Umstand an sich ist ein sprechender Beleg für den großen Unterschied zwischen Laura Bridgman und Helen Keller. Laura blieb stets ein Objekt für wissenschaftliche Forschung. Helen Keller machte so rasche Fortschritte, daß ihre Lehrerin Mühe hatte, den geistigen Bedürfnissen ihres Zöglings zu genügen,[S. 202] und weder Zeit noch Gelegenheit fand, wissenschaftliche Beobachtungen anzustellen.
Fräulein Sullivan erkannte gleich von Anfang an, daß der Unterricht Helen Kellers interessanter und von größerem Erfolg begleitet sein würde als der Laura Bridgmans, und erklärte in einem ihrer Briefe, es sei durchaus notwendig, Aufzeichnungen über den Entwickelungsgang ihrer Schülerin zu machen. Aber weder ihr Temperament noch ihre Vorbildung gestatteten ihr, ihren Zögling zum Gegenstand von Experimenten oder Beobachtungen zu machen, die für die Entwickelung des Kindes keinen praktischen Wert besaßen. Sobald etwas erledigt, ein bestimmtes Ziel erreicht war, blickte die Lehrerin nicht mehr zurück, um den Weg, den sie gegangen war, zu beschreiben. Die Erklärung der Tatsache war unwesentlich im Vergleich zu der Tatsache selbst und der Notwendigkeit, weiterzueilen. Es liegen auch noch zwei weitere Gründe für die Unvollständigkeit von Fräulein Sullivans Aufzeichnungen vor. Erstens war in ihren Augen das Schreiben stets eine schwere Aufgabe, und dann wurde sie auch schon bald durch die Willkür, mit der man ihre ersten Angaben benutzt hatte, von weiteren Veröffentlichungen abgeschreckt.
Als sie zum ersten Male aus Tuscumbia an Herrn Michael Anagnos, Dr. Howes Schwiegersohn und Nachfolger in der Leitung der Perkinsschen Anstalt, über ihre erzieherische Tätigkeit geschrieben hatte, begannen die Bostoner Zeitungen sofort, übertriebene Berichte über Helen Keller zu veröffentlichen. Fräulein Sullivan protestierte dagegen. In einem Briefe vom 10. April 1887, kaum fünf Wochen nach dem Beginn des Unterrichts, schrieb sie an eine Freundin:
... schickte mir eine Nummer des Boston Herald, die einen törichten Artikel über Helen enthält. Wie völlig albern ist es, zu sagen, daß Helen „schon fließend spricht“! Nun, ebensogut[S. 203] könnte jemand sagen, daß sich ein zweijähriges Kind fließend unterhält, wenn es sagt: Apple give oder Baby walk go. Ich glaube allerdings, daß wenn Sie ein Kreischen, Krähen, Wimmern, Lallen und Schreien nebst gelegentlichen Schluckanfällen mit zur Unterhaltung rechnen, die als fließend, ja sogar als beredt gelten könnte. Dann macht es mir auch Spaß, von den sorgfältigen Vorbereitungen zu lesen, denen ich mich unterzogen hätte, um mich für die große Aufgabe fähig zu machen, die meine Freunde mir anvertraut hätten. Ich bedaure nur, daß diese Vorbereitungen sich nicht auch auf den Gebrauch des Fingeralphabets erstreckten; ich würde mir dann eine Menge Mühe erspart haben. —
Am 4. März 1888 schreibt sie in einem Briefe:
Ich bin in der Tat herzlich froh, daß ich nicht alles kenne, was über Helen und mich selbst gesprochen und geschrieben wird. Ich versichere Sie, ich erfahre genug und übergenug. Fast jede Post bringt irgend eine alberne — geschriebene oder gedruckte — Auslassung. Die Wahrheit ist nicht sensationell genug, um die Zeitungen zufriedenzustellen; daher übertreiben sie und bringen lächerliche Ausschmückungen an. Eine Zeitung behauptet, Helen löse geometrische Aufgaben mit Hilfe ihres Baukastens. Ich erwarte, demnächst zu hören, daß sie eine Abhandlung über die Entstehung und die Zukunft der Planeten geschrieben hat! —
Im Dezember 1887 erschien der erste Bericht des Direktors des Perkinsschen Institutes, der sich mit Helen Keller beschäftigt. Für diesen Bericht verfaßte Fräulein Sullivan, einer Bitte Herrn Anagnos’ widerwillig nachgebend, eine Schilderung ihrer Tätigkeit. Diese ist neben den ebenfalls in dem Bericht veröffentlichten Auszügen aus ihren Briefen die erste zuverlässige Quelle über Helen Keller. Ueber diesen Bericht schrieb[S. 204] Fräulein Sullivan in einem Buche vom 30. Oktober 1887:
Haben Sie schon den Aufsatz gelesen, den ich für den »Bericht« geliefert habe? Herr Anagnos war ganz entzückt von ihm. Er meint, Helens Fortschritte seien „gleich von Anfang an ein Siegeszug“ gewesen und weiß über ihre Lehrerin viel Schmeichelhaftes zu sagen. Ich glaube, er neigt zu Uebertreibungen; jedenfalls ist seine Sprache zu begeistert, und ganz einfache Tatsachen werden in einer Weise vorgebracht, daß sie den Leser allerdings in Erstaunen setzen müssen. Ohne Zweifel erscheint ihm die Tätigkeit der letzten paar Monate im Lichte eines Siegeszuges, aber man beachtet dabei selten, wie langsam und mühevoll die Schritte sind, mittels deren man auch den unbedeutendsten Erfolg erreichen muß. —
Da Anagnos der Leiter des großen Instituts war, so hatten seine Aeußerungen mehr Gewicht als die von Fräulein Sullivan erwähnten Tatsachen, auf die sich seine Behauptungen stützten. Die Zeitungen wurden von Anagnos’ Ton angesteckt und übertrieben maßlos. Nach Ablauf des ersten Jahres ihrer Erziehungstätigkeit sah Fräulein Sullivan sich und ihre Schülerin als den Mittelpunkt einer erstaunlichen Legendenbildung. Die Erzieher der ganzen Welt wollten ihre Meinung sagen, trugen aber größtenteils nichts zur Klärung der Sachlage bei. Es erhoben sich eine Menge Streitfragen, die jetzt sehr belustigend zu betrachten sind. Taubstummenlehrer bewiesen a priori, daß das, was Fräulein Sullivan geleistet hatte, unmöglich sei, und ihren Angaben wurde mit Mißtrauen begegnet, weil sie von Anagnos’ phrasenhafter Beredsamkeit umkleidet waren. So hatte Helen Kellers Geschichte, die schon bei nüchternem Vortrage unglaublich war, das Mißgeschick, in übertriebenen Schilderungen in die Welt posaunt zu werden und begegnete natürlich entweder unverständiger Leichtgläubigkeit oder ungläubiger Feindseligkeit.
Im November 1888 erschien ein anderer Bericht des Per[S. 205]kinsschen Instituts mit einem zweiten Beitrage von Fräulein Sullivan, und dann wurde jahrelang nichts Offizielles mehr veröffentlicht, bis Anagnos im November 1891 seinen letzten Bericht erstattete, der Mitteilungen über Helen Keller enthielt. Für diesen Bericht verfaßte Fräulein Sullivan die ausführlichste und umfangreichste Abhandlung, die sie je geschrieben hat, und hier erschien auch der »Frostkönig«, von dem in einem späteren Kapitel ausführlich die Rede sein wird (s. S. 323 ff.[24]). Jetzt entbrannte der Kampf heftiger als je.
Da Fräulein Sullivan fand, daß andere Leute viel mehr von Helen Keller zu wissen schienen, als sie selbst, so schwieg sie und hat zehn Jahre lang geschwiegen, abgesehen von ihrem Beitrage für das erste »Volta Bureau Souvenir of Helen Keller« und die Abhandlung, die sie auf Wunsch Dr. Bells im Jahre 1894 für die in Chautauqua abgehaltene Versammlung der Amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Unterweisung der Taubstummen im Sprechen verfaßte. Als Dr. Bell und andere ihr erklärten, was von einem unpersönlichen Standpunkte aus unzweifelhaft richtig ist, daß sie es der Sache der Erziehung schuldig sei, niederzuschreiben, was sie wisse, antwortete sie sehr treffend, sie schulde ihre ganze Zeit und ihre ganze Kraft ihrem Zöglinge.
Obgleich Fräulein Sullivan sich mehr darüber amüsiert als ärgert, wenn jemand, und wäre es selbst einer ihrer näheren Bekannten, in einem Artikel Irrtümliches über sie und Fräulein Keller berichtet, so sieht sie doch ein, daß Helens Buch alle Auskünfte enthalten muß, die die Lehrerin zur Zeit erteilen kann, und erteilte daher ihre Zustimmung zur Veröffentlichung von Auszügen aus Briefen, die sie während des ersten Jahres ihrer Erziehungstätigkeit geschrieben hatte. Diese Briefe waren an Frau Sophia C. Hopkins gerichtet, die einzige Freundin,[S. 206] an die Fräulein Sullivan stets schrieb, wie es ihr ums Herz war. Frau Hopkins war zwanzig Jahre lang Pflegerin im Perkinsschen Institute gewesen und vertrat während der ganzen Zeit, in der Fräulein Sullivan Schülerin der Anstalt war, Mutterstelle an dem Mädchen. In diesen Briefen haben wir einen beinahe allwöchentlichen Bericht über Fräulein Sullivans Tätigkeit. Manche Einzelheiten hat sie übergangen, da sie sich immer mehr daran gewöhnte, hauptsächlich die allgemeinen Gesichtspunkte zu betonen. Viele sind der Ansicht gewesen, daß jeder Versuch, Prinzipien in ihrer Methode zu finden, weiter nichts sei als eine spätere Theorie, die man Fräulein Sullivans Tätigkeit unterschoben habe. Aber aus diesen Briefen geht hervor, daß sie sich über ihr Tun und Lassen klare Rechenschaft abgelegt hat. Sie war ihre eigene Kritikerin, und trotz ihrer späteren Erklärung, die sie in ihrer bescheidenen Zurückhaltung abgegeben hat, daß sie keine bestimmte Methode befolgt habe, erkannte sie doch im Verfolg ihrer Aufgabe mit der höchsten Klarheit gewisse Erziehungsprinzipien, die nicht allein für den Unterricht der taubstummen, sondern aller Kinder überhaupt von hervorragendem Werte waren. Die Auszüge aus ihren Briefen und Berichten bilden einen wichtigen Beitrag zur Pädagogik und rechtfertigen vollauf das Urteil Dr. Daniel C. Gilmans, der ihr 1893, als er Rektor der John Hopkins-Universität war, schrieb:
Ich habe soeben... Ihren höchst interessanten Bericht über die verschiedenen Wege gelesen, die Sie bei der Erziehung Ihrer wunderbaren Schülerin eingeschlagen haben, und ich hoffe, Sie werden mir gestatten, daß ich Ihnen meine Bewunderung für die Weisheit ausdrücke, die Ihre Schritte geleitet hat und ebenso für die Liebe, von der Ihr ganzes Wirken erfüllt ist.
Fräulein Anne Mansfield Sullivan war in Springfield in[S. 207] Massachusetts geboren. In früher Jugend erblindete sie fast gänzlich und wurde am 7. Oktober 1880 im Alter von vierzehn Jahren in das Perkinssche Institut aufgenommen. Später erhielt sie ihr Gesicht teilweise wieder.
Anagnos sagt in seinem Berichte vom Jahre 1887: Sie mußte auf der niedrigsten und elementarsten Stufe beginnen, zeigte aber sofort beim ersten Anlauf, daß sie die Kraft und Fähigkeit in sich hatte, die den Erfolg verbürgen... Sie hat schließlich das Ziel erreicht, nach dem sie so unermüdlich strebte. Die goldenen Worte, die Dr. Howe aussprach, und das Beispiel, das er gab, gingen ihr in Fleisch und Blut über und unterstützten sie auf ihrer segensvollen Laufbahn, und jetzt steht sie ihm als seine würdige Nachfolgerin in einer der geachtetsten Abteilungen seines Unternehmens zur Seite... Fräulein Sullivan besitzt die höchste Begabung.
Im Jahre 1886 legte sie ihr Lehrerinnenexamen am Perkinsschen Institut ab. Als sich Hauptmann Keller mit der Bitte um eine Lehrerin an den Direktor wandte, empfahl dieser Fräulein Sullivan. Die einzige Frist, die ihr zur Vorbereitung für ihre schwere Aufgabe blieb, dauerte vom August 1886, in dem Hauptmann Keller geschrieben hatte, bis zum Februar 1887. Während dieser Zeit las sie Dr. Howes Berichte. Ferner wurde sie durch den Umstand unterstützt, daß sie während der sechs Jahre ihres Schullebens mit Laura Bridgman in einem Hause gewohnt hatte. Erst durch Dr. Howes Wirken an Laura Bridgman wurden Fräulein Sullivans Erfolge möglich; aber sie war es, die die Mittel und Wege entdeckte, den blinden Taubstummen die Sprache beizubringen.
Man darf nicht vergessen, daß Fräulein Sullivan ihre Aufgabe zu lösen hatte ganz ohne vorausgegangene Erfahrung und ohne die Unterstützung eines anderen Lehrers. Während des ersten Jahres ihrer Tätigkeit, in der sie ihre Schülerin sprechen[S. 208] lehrte, blieben beide in Tuscumbia, und als sie nach dem Norden kamen und das Perkinssche Institut besuchten, wurde Helen Keller hier nicht regelrecht als Schülerin aufgenommen und unterstand auch nicht den Anstaltsgesetzen. Die Annahme, Fräulein Sullivan habe Helen Keller „unter der Leitung des Herrn Anagnos“ erzogen, ist falsch. In den drei Jahren, während deren Fräulein Keller und Fräulein Sullivan zu verschiedenenmalen Gäste des Perkinsschen Institutes waren, erhielt Fräulein Sullivan von den Lehrern der Anstalt keine Unterstützung, ja der Direktor Anagnos konnte sich nicht einmal des Fingeralphabets mit Geläufigkeit bedienen. Der letztere schrieb in dem Bericht des Perkinsschen Instituts vom 27. November 1888: Auf mein dringendes Ersuchen kam Helen in Begleitung ihrer Mutter und ihrer Lehrerin in der letzten Maiwoche nach dem Norden, und alle drei blieben mehrere Monate als unsere Gäste bei uns... Wir gestatteten Helen mit Freuden die Benutzung unserer Bibliothek von Hochdruckbüchern, unserer Sammlung von ausgestopften Tieren, Muscheln, Modellen von Blumen und Pflanzen und unserer sonstigen Apparate zur Unterweisung der Blinden durch den Gefühlssinn. Ich zweifle nicht, daß sie viel Vergnügen daran gefunden und großen Nutzen davon gehabt hat. Mag aber Helen zu Hause bleiben oder andere Teile des Landes besuchen, ihre Erziehung steht stets unter der unmittelbaren Leitung und der ausschließlichen Kontrolle ihrer Lehrerin. Niemand hat Einfluß auf Fräulein Sullivans Unterrichtsplan oder nimmt an ihrer Aufgabe teil. Sie genießt völlige Freiheit in der Wahl ihrer Mittel und Methoden zur Vollendung ihres großen Werkes, und soviel wir aus ihren Erfolgen entnehmen können, macht sie einen höchst umsichtigen und taktvollen Gebrauch von diesem Vorrechte. Was ihre kleine Schülerin auf diesem Wege geleistet hat, ist weithin bekannt, und ihre erstaunliche Begabung erregt allgemeine[S. 209] Bewunderung; aber nur diejenigen, die mit den Einzelheiten des großen Unternehmens vertraut sind, wissen, daß der Erfolg zum großen Teile der Intelligenz, der Klugheit, dem Scharfblicke, der unermüdlichen Ausdauer und dem unbeugsamen Willen ihrer Erzieherin zu verdanken ist, die das Kind aus der Tiefe der immerwährenden Nacht und des ewigen Schweigens gerettet hat und über den einzelnen Phasen seiner geistigen und sittlichen Entwickelung mit mütterlicher Sorgfalt und begeisterter Hingebung wacht.
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Im folgenden sollen nun Fräulein Sullivans Briefe und die wichtigsten Stellen aus ihren Berichten in chronologischer Reihenfolge wiedergegeben werden. Der erste Brief ist vom 6. März 1887 datiert, drei Tage nach ihrer Ankunft in Tuscumbia.
... Es war halb sieben Uhr, als ich in Tuscumbia ankam. Frau Keller und Herr James Keller warteten auf mich. Die Fahrt nach dem Landhause, das ungefähr eine Meile von der Station entfernt lag, war sehr angenehm. Ich war überrascht, in Frau Keller eine Frau von sehr jugendlichem Aussehen, nicht viel älter als ich selbst, möchte ich glauben, anzutreffen. Hauptmann Keller kam uns auf dem Hofe entgegen und bot mir ein fröhliches Willkommen und einen herzlichen Händedruck. Meine erste Frage war: „Wo ist Helen?“ Ich versuchte mit aller Kraft meine Aufregung zu unterdrücken, denn ich zitterte so stark, daß ich mich kaum auf den Füßen halten konnte. Als wir uns dem Hause näherten, sah ich ein Kind an der Tür stehen, und Hauptmann Keller sagte: „Dort ist sie. Sie hat den ganzen Tag gewußt, daß wir jemand erwarteten, und sie ist ganz ungebärdig geworden, seit ihre Mutter nach dem Bahnhof ging, um Sie abzuholen.“ — Kaum hatte ich meinen Fuß auf die Treppenstufen gesetzt, als sie mit solcher Gewalt auf mich zustürzte, daß ich zu Boden gestürzt wäre, hätte Hauptmann Keller[S. 210] nicht hinter mir gestanden. Sie befühlte mir Gesicht und Kleid, und ebenso meine Reisetasche, die sie mir aus der Hand nahm und zu öffnen versuchte. Sie ging nicht gleich auf, und Helen fühlte sorgfältig nach dem Schlüsselloch. Als sie es gefunden hatte, wandte sie sich zu mir und bewegte die Hand, als drehe sie einen Schlüssel herum, indem sie auf die Tasche deutete. In diesem Augenblick kam ihre Mutter herbei und machte Helen durch Zeichen klar, daß sie den Koffer nicht berühren dürfe. Sie wurde rot, und als ihre Mutter versuchte, ihr den Koffer aus der Hand zu nehmen, geriet sie in heftigen Zorn. Ich lenkte ihre Aufmerksamkeit ab, indem ich ihr meine Uhr zeigte und sie ihr in die Hand gab. Sofort legte sich der Sturm, und wir gingen zusammen die Treppe hinauf. Hier öffnete ich die Tasche und sie durchsuchte dieselbe sofort eifrig, wahrscheinlich in der Erwartung, etwas zum Essen zu finden. Bekannte hatten ihr vermutlich Zuckerwerk in ihren Koffern mitgebracht, und sie erwartete, solches auch in dem meinigen zu finden. Ich deutete auf eine Truhe, die im Hausflur stand, dann auf mich und nickte mit dem Kopfe, um ihr verständlich zu machen, daß ich eine Truhe hätte; dann machte ich das Zeichen, das sie für essen gebraucht hatte, und nickte wieder. Sie verstand mich sofort und rannte die Treppe hinunter zu ihrer Mutter, um ihr durch ausdrucksvolle Zeichen zu verstehen zu geben, daß sich Zuckerzeug für sie in einer Truhe befände. Sie kehrte nach wenigen Minuten zurück und half mir meine Sachen wegräumen. Es war zu komisch zu sehen, wie sie sich meinen Hut aufsetzte, ihren Kopf kokett erst nach der einen, dann nach der anderen Seite drehte und in den Spiegel blickte, genau als ob sie sehen könnte. Ich hatte einigermaßen erwartet, ein blasses, zartes Kind vor mir zu sehen — ich glaube, ich entnahm diese Vorstellung Dr. Howes Schilderung von Laura Bridgman bei ihrer Aufnahme in das Institut. Aber Helen zeigte keine[S. 211] Spur von Blässe oder Zartheit. Sie ist groß, stark, von blühender Gesichtsfarbe und in ihren Bewegungen so ungezügelt wie ein junges Füllen. Sie hat keine jener nervösen Gewohnheiten, die bei blinden Kindern so deutlich erkennbar sind und einen so traurigen Eindruck hinterlassen. Ihr Körper ist wohlgebildet und kräftig, und Frau Keller erzählt mir, sie sei seit ihrer Krankheit, die sie des Gesichts und Gehörs beraubt habe, auch nicht einen einzigen Tag unpäßlich gewesen. Sie hat einen schöngeformten Kopf, der ganz gerade auf ihren Schultern sitzt. Ihr Gesicht ist schwer zu beschreiben. Es ist intelligent, entbehrt aber der Beweglichkeit, der Seele, oder wie man sich sonst ausdrücken will. Ihr Mund ist groß und fein geschnitten. Man bemerkt auf den ersten Blick, daß sie blind ist. Ein Auge ist größer als das andere und steht auffallend vor. Sie lächelt selten; in der Tat habe ich sie seit meiner Ankunft erst ein- oder zweimal lächeln sehen. Sie zeigt kein anschmiegendes Wesen und sträubt sich sogar gegen Liebkosungen, ausgenommen ihrer Mutter gegenüber. Sie ist von sehr raschem Temperament und höchst eigenwillig, und niemand außer ihrem Bruder James hat den Versuch gemacht, sie zu zügeln. Die schwerste Aufgabe, die ich vor mir habe, besteht darin, sie zu zügeln und in Zucht zu halten, ohne ihren Geist zu brechen. Ich will zuerst langsam vorgehen, und ihre Liebe zu gewinnen suchen. Ich werde keinen Versuch machen, sie nur durch Kraft zu besiegen, aber gleich von Anfang an auf einem vernünftigen Gehorsam bestehen. Ein Umstand, der jedermann auffällt, ist Helens unermüdlicher Tätigkeitstrieb. Sie steht keinen Augenblick still. Sie ist bald hier, bald dort, kurz überall. Ihre Hände sind mit allem beschäftigt, aber nichts vermag ihre Aufmerksamkeit längere Zeit zu fesseln. Ein liebes Kind, dessen rastloser Geist im Dunkeln umhertappt. Ihre ungeschickten, unbefriedigten Hände zerstören alles, was sie berühren, weil sie[S. 212] nicht wissen, was sie sonst mit den Gegenständen anfangen sollen.
Sie half mir meine Truhe auspacken, als diese ankam, und war entzückt, als sie die Puppe fand, die die kleinen Mädchen ihr schickten. Ich hielt dies für eine gute Gelegenheit, sie das erste Wort zu lehren. Ich buchstabierte langsam d–o–l–l in ihre Hand, deutete auf die Puppe und nickte mit dem Kopfe, was ihr Zeichen dafür zu sein scheint, daß ihr etwas gehöre. Wenn jemand ihr etwas gibt, so deutet sie zuerst auf den Gegenstand, dann auf sich und nickt mit dem Kopfe. Sie machte ein ganz verwundertes Gesicht und befühlte meine Hand und ich wiederholte ihr nun die Buchstaben. Sie ahmte sie vortrefflich nach und deutete auf die Puppe. Dann nahm ich die Puppe, in der Absicht, sie ihr zurückzugeben, wenn sie die Buchstaben gemacht hätte; sie glaubte aber, ich wolle sie ihr wegnehmen, geriet augenblicklich in Aufregung und versuchte die Puppe an sich zu reißen. Ich schüttelte den Kopf und versuchte die Buchstaben mit Hilfe ihrer Finger zu bilden; aber sie wurde immer ungebärdiger. Ich zwang sie auf einen Stuhl und hielt sie dort fest, bis ich ganz erschöpft war. Dann fiel es mir ein, es sei nutzlos, den Kampf fortzusetzen — ich mußte etwas tun, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Ich ließ sie los, verweigerte ihr aber die Puppe. Ich ging die Treppe hinunter und holte einen Cake (sie ist eine große Freundin von Süßigkeiten). Ich zeigte ihn ihr und buchstabierte ihr c–a–k–e in die Hand, wobei ich ihr den Cake entgegenhielt. Natürlich bekam sie Lust auf ihn und wollte ihn an sich nehmen; ich buchstabierte jedoch das Wort zum zweiten Male und tätschelte ihr die Hand. Sie machte rasch die Buchstaben, und ich gab ihr den Kuchen, den sie eiligst aufaß, weil sie wohl glaubte, ich würde ihn ihr wieder wegnehmen. Dann zeigte ich ihr die Puppe und buchstabierte abermals das Wort, indem ich ihr die Puppe entgegenhielt wie vorhin den Kuchen. Sie machte die Buch[S. 213]staben d–o–l, ich fügte das noch fehlende l hinzu und gab ihr die Puppe. Sie rannte sofort mit ihr die Treppe hinunter und konnte den ganzen Tag nicht dahin gebracht werden, in mein Zimmer zurückzukehren.
Gestern gab ich ihr auf, an einer Nähkarte zu arbeiten. Ich machte die erste Reihe senkrechter Stiche, ließ Helen die Karte befühlen und darauf achten, daß auf ihr mehrere Reihen kleiner Löcher angebracht waren. Sie begann eifrig zu arbeiten, vollendete die Karte in wenigen Minuten und machte dies wirklich ganz sauber. Ich wollte nun versuchen, ihr ein anderes Wort beizubringen und buchstabierte ihr c–a–r–d in die Hand. Sie machte c–a nach, dann hielt sie nachdenklich inne, machte das Zeichen für essen, deutete nach unten und schob mich auf die Tür zu, womit sie meinte, ich solle nach unten gehen und ihr einen Cake holen. Sie sehen, die beiden Buchstaben c–a hatten ihr ihre »Lektion« vom Freitag in das Gedächtnis zurückgerufen — nicht daß sie irgend eine Ahnung davon hatte, daß cake die Bezeichnung für den betreffenden Gegenstand sei, sondern es war, wie ich glaube, eine einfache Ideenassociation. Ich beendete das Wort c–a–k–e und erfüllte Helens Wunsch, worüber sie sehr erfreut war. Dann buchstabierte ich d–o–l–l und begann nach der Puppe zu suchen. Sie verfolgt mit ihren Händen jede Bewegung, die man macht, und wußte sofort, daß ich mich nach der Puppe umsah. Sie wies nach unten, was bedeuten sollte, die Puppe befinde sich im Erdgeschoß. Ich machte das Zeichen, das sie gebraucht hatte, als sie wünschte, ich solle ihr den Cake holen, und drängte sie auf die Tür zu. Sie schritt vorwärts, dann zögerte sie einen Augenblick und kämpfte offenbar mit sich, ob sie gehen sollte oder nicht. Sie entschied sich dafür, mich hinunterzuschicken. Ich schüttelte den Kopf, buchstabierte ihr das Wort d–o–l–l mit größerem Nachdruck in die Hand und öffnete ihr die Tür; aber sie weigerte[S. 214] sich hartnäckig zu gehorchen. Sie hatte ihren Cake noch nicht aufgegessen, und ich nahm ihn ihr weg, indem ich ihr bedeutete, daß wenn sie mir die Puppe brächte, ich ihr den Cake zurückgeben würde. Sie stand längere Zeit ganz still, das Gesicht wie mit Blut übergossen, dann siegte ihr Verlangen nach dem Cake, sie lief die Treppe hinunter und brachte mir die Puppe; natürlich gab ich ihr den Cake, konnte sie aber nicht bewegen, wieder in mein Zimmer zu kommen.
Sie war sehr unruhig, als ich heut morgen zu schreiben begann. Sie stellte sich hinter mich, legte ihre Hand auf das Papier und steckte sie ins Tintenfaß. Diese Kleckse hier sind ihr Werk. Schließlich erinnerte ich mich an die Kindergartenperlen und wies Helen an, sie aufzureihen. Zuerst nahm ich zwei Holzperlen und eine Glasperle und ließ sie dann die Schnur und die beiden Oeffnungen der Perlen befühlen. Sie nickte und begann sofort die Schnur mit hölzernen Perlen zu beziehen. Ich schüttelte den Kopf, nahm sie alle ab und ließ sie die beiden Holzperlen und die eine Glasperle befühlen. Sie prüfte sie nachdenklich und begann von neuem. Diesmal reihte sie zuerst die Glasperlen und dann die beiden Holzperlen auf. Ich nahm sie wieder ab und zeigte ihr, daß zuerst die beiden Holzperlen kommen müßten und dann erst die Glasperle. Sie hatte keine weitere Mühe damit und reihte die Perlen rasch aneinander, leider nur allzu rasch. Als sie fertig war, knüpfte sie die beiden Enden der Schnur zusammen und legte sie um ihren Hals. In der nächsten Schnur hatte ich den Knoten nicht groß genug gemacht, und die Perlen fielen fast so rasch wieder herunter, wie Helen sie aufgereiht hatte; sie löste aber selbst die Schwierigkeit, indem sie die Schnur durch eine Perle zog und letztere festknüpfte. Ich fand dies sehr geschickt. Sie unterhielt sich mit den Perlen bis zum Mittagessen und legte mir ab und zu die Ketten zur Begutachtung vor.
Montag nachmittags.
Heute früh hatte ich einen heißen Kampf mit Helen zu bestehen. Obgleich ich mich mit aller Kraft dagegen sträubte, gewaltsame Mittel zur Anwendung zu bringen, so fürchte ich doch, dies wird sich auf die Dauer nicht umgehen lassen.
Helens Benehmen bei Tische ist entsetzlich. Sie greift mit ihren Händen auf unsere Teller und nimmt davon weg, und wenn die Schüsseln herumgegeben werden, so greift sie hinein und nimmt sich, was ihr beliebt. Heut früh wollte ich ihr nicht erlauben, mit der Hand auf meinen Teller zu fassen. Sie beharrte bei ihrem Vorsatz, und es folgte nun ein sehr heftiger Auftritt. Natürlich verließ die übrige Familie voller Verlegenheit das Zimmer. Ich verschloß die Türe zum Speisezimmer und setzte mich wieder zu meinem Frühstück hin, obgleich mich die Speisen beinahe anwiderten. Helen lag schreiend und mit Händen und Füßen um sich schlagend auf dem Fußboden und suchte meinen Stuhl unter mir fortzuziehen. So verging eine halbe Stunde; dann stand sie auf, um zu sehen, was ich tat. Ich zeigte ihr, daß ich aß, ließ sie aber nicht mit der Hand auf den Teller fassen. Sie kniff mich, und ich schlug ihr jedesmal, wenn sie dies tat, auf die Hand. Dann ging sie um den ganzen Tisch herum, um zu sehen, wer da sei, und war ganz erstaunt, als sie außer mir niemand fand. Nach ein paar Minuten kam sie zu ihrem Platze zurück und begann ihr Frühstück mit den Fingern zu verzehren. Ich gab ihr einen Löffel, den sie aber auf den Fußboden warf. Ich zerrte sie von ihrem Stuhle herunter und zwang sie, ihn aufzuheben. Endlich gelang es mir, sie auf ihren Stuhl zurückzubringen; ich drückte ihr den Löffel in die Hand und nötigte sie, damit zu essen. Nach einigen Minuten fügte sie sich und beendete ruhig ihr Frühstück. Darauf hatten wir einen anderen Zwist über das Zusammenfalten ihrer Serviette. Als sie mit ihrem Frühstück fertig war, warf sie das[S. 216] Tuch zur Erde und lief zur Tür. Als sie diese verschlossen fand, begann sie wieder mit den Füßen auszuschlagen und zu schreien. Es dauerte eine volle Stunde, ehe ich sie dazu bringen konnte, ihre Serviette zusammenzulegen. Dann ließ ich sie in den warmen Sonnenschein hinaus und begab mich nach meinem Zimmer, wo ich mich ganz erschöpft auf das Bett warf. Ich weinte mich ordentlich aus und fühlte mich darauf besser. Ich glaube, ich werde noch mehr solcher Kämpfe mit der jungen Dame zu bestehen haben, ehe sie die beiden wesentlichen Dinge lernt — die einzigen, die ich ihr beibringen kann — Gehorsam und Liebe.
Gott befohlen, meine Liebe! Aengstigen Sie sich nicht um mich. Ich will mein Bestes tun und das übrige der Macht anheimstellen, die das vollbringt, was uns zu leisten unmöglich ist. Frau Keller ist mir sehr sympathisch.
Tuscumbia, Alabama, 11. März 1887.
Seit ich das letztemal schrieb, sind wir, Helen und ich, nach einem kleinen Gartenhause, das nicht weit von Ivy Green, dem Familienhause, entfernt liegt, umgezogen und leben hier ganz für uns allein. Ich sah sehr bald ein, daß mit Helen im Schoße ihrer Familie, die ihr stets in allem den Willen gelassen hat, absolut nichts anzufangen sei. Sie hat jedermann tyrannisiert, ihre Mutter, ihren Vater, die Dienerschaft, die kleinen Negerkinder, die mit ihr spielten, und niemand ist ihr je bis zu meiner Ankunft ernstlich entgegengetreten, mit Ausnahme ihres Bruders James, der dies ab und zu getan hat, und wie alle Tyrannen hält sie an diesem ihrem angestammten Rechte von Gottes Gnaden, alles zu tun, was ihr beliebt, mit Zähigkeit fest. Als ich sie zu unterrichten begann, hatte ich mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie wollte um keines Haares Breite nachgeben, ohne es auf einen verzweifelten Kampf an[S. 217]kommen zu lassen. Im guten konnte ich gar nichts von ihr erreichen. Selbst zu den einfachsten Dingen wie zum Kämmen ihres Haares, zum Händewaschen, zum Zuknöpfen ihrer Schuhe mußte sie mit Gewalt angehalten werden, und natürlich war ein peinlicher Auftritt die Folge. Die Angehörigen fühlten natürlich Neigung, sich einzumischen, namentlich ihr Vater, der es nicht ertragen kann, sie weinen zu sehen. So waren sie alle gewillt, des lieben Friedens halber nachzugeben. Ich sah klar ein, daß jeder Versuch, sie im Gebrauch der Sprache oder in sonst etwas zu unterrichten, zwecklos sei, solange sie nicht gelernt habe, mir zu gehorchen. Ich habe viel darüber nachgedacht, und je reiflicher ich mir die Sache überlege, desto fester bin ich davon überzeugt, daß Gehorsam das Tor ist, durch welches das Wissen, ja sogar die Liebe ihren Einzug in die Seele eines Kindes halten. Wie ich Ihnen schon schrieb, glaubte ich anfangs nur Schritt für Schritt vorgehen zu dürfen. Ich hatte mir vorgenommen, mir die Liebe und das Vertrauen meines kleinen Zöglings durch dieselben Mittel zu gewinnen, die ich in Anwendung gebracht haben würde, wenn sie hätte sehen und hören können. Aber bald fand ich, daß mir kein Weg zu ihrem Herzen offen stand. Sie nahm alles, was ich für sie tat, als selbstverständlich hin, wehrte meine Liebkosungen ab, und es war mir schlechterdings unmöglich, mir ihre Zuneigung zu erwerben.
Ich hatte eine freie, offene Aussprache mit Frau Keller und setzte ihr auseinander, wie schwer es für mich unter den obwaltenden Umständen sei, etwas mit Helen zu beginnen. Ich erklärte ihr, daß meiner Meinung nach das Kind mindestens für einige Wochen von der Familie getrennt werden und daß Helen mir gehorchen lernen müsse, ehe ich irgend etwas anderes unternehmen könne. Nach einer langen Pause antwortete mir Frau Keller, sie wolle sich die Sache überlegen und hören, was[S. 218] ihr Gatte zu dem Plane meinte. Der Hauptmann Keller willigte gegen mein Erwarten sehr rasch ein, und ich beeilte mich, die Vorkehrungen zum Umzuge so bald wie möglich zu treffen.
In der neuen Wohnung zeigte sich Helen anfangs sehr ungebärdig und ließ sich am ersten Abend erst nach einem erbitterten zweistündigen Kampfe zu Bett bringen. Am nächsten Morgen war sie ruhiger, litt aber offenbar an Heimweh. Sie spielte mehr als sonst mit ihren Puppen und behandelte diese mit großer Zärtlichkeit, wollte aber nichts von mir wissen.
Helen kennt jetzt verschiedene Wörter, hat aber weder eine Ahnung von ihrem Gebrauche, noch weiß sie, daß jedes Ding einen Namen hat. Ich glaube jedoch, daß sie leicht und schnell lernen wird. Wie erwähnt, ist sie außerordentlich lebhaft und geschäftig und in ihren Bewegungen ebenso rasch wie unstet.
13. März 1887.
Sie werden sich freuen, zu hören, daß mein Experiment einen guten Ausgang nimmt. Weder gestern noch heut habe ich mit Helen die geringste Mühe gehabt. Sie hat drei neue Wörter gelernt, und wenn ich ihr die Gegenstände gebe, deren Bezeichnung sie gelernt hat, so buchstabiert sie diese unverzüglich; sie scheint aber froh zu sein, wenn der Unterricht vorüber ist.
Wir machten heut früh einen fröhlichen Spaziergang im Garten. Helen wußte augenscheinlich, wo sie war, sobald sie die Buchsbaumhecken berührte, und machte mehrere Zeichen, die ich nicht verstand. Ohne Zweifel waren es Bezeichnungen für die verschiedenen Mitglieder der Familie in Ivy Green.
20. März 1887.
Mein Herz jauchzt heute vor Freude. Ein Wunder hat sich ereignet. Das Licht des Verständnisses ist im Geiste meines[S. 219] kleinen Zöglings aufgegangen, und siehe da, alles hat ein verändertes Ansehen gewonnen.
Das kleine wilde Geschöpf von vor vierzehn Tagen hat sich in ein artiges Kind umgewandelt. Helen sitzt, während ich schreibe, mit heiterem und fröhlichem Gesichte neben mir und häkelt eine lange Spitze aus roter schottischer Wolle. Sie hat in vergangener Woche nähen gelernt und ist sehr stolz auf ihre Fertigkeit. Als sie die Spitze so lang gemacht hatte, daß sie über das Zimmer hinwegreichte, so klopfte sie sich selbst auf den Arm und legte das erste Werk ihrer Hände zärtlich an ihre Wange. Sie läßt sich jetzt von mir küssen und setzt sich, wenn sie besonders guter Laune ist, kurze Zeit auf meinen Schoß, erwidert aber meine Liebkosungen noch nicht. Der große Schritt, — der Schritt, auf den es ankommt — ist geschehen. Die kleine Wilde hat ihre erste Lektion gehorsam genommen und findet die Sache ganz ergötzlich. Es entsteht für mich jetzt die dankbare Aufgabe, die schöne Intelligenz, die sich in der Kindesseele zu regen beginnt, zu leiten und zu bilden.
Auch andere bemerken schon die Veränderung, die mit Helen vorgegangen ist. Ihr Vater besucht uns jeden Morgen und jeden Abend und ruft, wenn er sie ihre Perlen eifrig aneinanderreihen oder auf ihrer Nähkarte horizontale Stichreihen machen sieht, voller Verwunderung aus: Wie ruhig sie ist! Als ich kam, waren ihre Bewegungen so unstet, daß man stets fühlte, sie habe etwas Abnormes, ja beinahe Krankhaftes an sich. Auch habe ich bemerkt, daß sie viel weniger ißt, ein Umstand, der ihren Vater so sehr beunruhigt, daß er sie durchaus wieder nach Hause nehmen will. Er behauptet, sie leide an Heimweh. Ich bin damit nicht einverstanden, doch fürchte ich, wir werden unser kleines Bauer sehr bald verlassen müssen.
Gestern ließ ich während der Unterrichtsstunde einen kleinen Negerknaben hereinkommen, und zeigte auch ihm die Buch[S. 220]staben. Dies machte Helen großes Vergnügen und stachelte ihren Ehrgeiz an, sich vor Percy hervorzutun. Sie freute sich, wenn er einen Fehler machte, und ließ ihn den Buchstaben mehrere Male wiederholen. Wenn es ihm gelang, sie zufriedenzustellen, klopfte sie ihm so kräftig auf seinen wolligen Kopf, daß ich glaubte, er habe die Fehler absichtlich gemacht.
Hauptmann Keller brachte eines Tages »Belle« mit, einen Hühnerhund, auf den er sehr stolz ist. Er war begierig, ob Helen ihren alten Spielkameraden wiedererkennen würde. Helen badete Nancy gerade und bemerkte anfangs den Hund gar nicht. Für gewöhnlich fühlt sie den leisesten Schritt und streckt die Arme aus, um sich zu vergewissern, ob sich jemand in ihrer Nähe befindet. Belle schien es nicht sehr eilig zu haben, Helens Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich glaube, sie ist mitunter von ihrer kleinen Herrin recht rauh behandelt worden. Der Hund war aber kaum eine halbe Minute im Zimmer, als Helen herumzuschnobern begann, die Puppe in die Badewanne warf und im Zimmer umherfühlte. Sie stolperte über Belle, die am Fenster lag. Sie erkannte sofort den Hund, denn sie schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihn an sich. Dann setzte sich Helen neben das Tier und begann sich an seinen Pfoten zu schaffen zu machen. Wir konnten uns für den ersten Augenblick ihr Verhalten nicht erklären; als wir aber bemerkten, daß sie die Buchstaben d–o–l–l mit ihren Fingern bildete, wußten wir daß sie Belle das Buchstabieren beizubringen suchte.
28. März 1887.
Helen und ich sind gestern nach Hause gekommen. Ich bedauere, daß wir nicht noch eine Woche bleiben durften; aber ich glaube, ich habe die Gelegenheit, die mir in den letzten vierzehn Tagen geboten war, nach besten Kräften ausgenützt,[S. 221] und hoffe nicht, mit Helen in Zukunft noch ernstliche Mühe zu haben. Die größten Hindernisse, die sich einem Fortschreiten in den Weg stellten, sind gebrochen. Ich glaube, »nein« und »ja«, begleitet von einem Schütteln oder Nicken des Kopfes sind für Helen so greifbare Tatsachen geworden wie Wärme und Kälte oder der Unterschied zwischen Schmerz und Behagen. Und ich werde auch dafür sorgen, daß die Lektion, die sie unter soviel Kummer und Schmerz gelernt hat, nicht wieder vergessen wird. Ich werde mich zwischen meine Schülerin und die übergroße Nachsicht ihrer Eltern stellen. Ich habe Herrn und Frau Hauptmann Keller erklärt, sie dürften in keinerlei Weise meine Anordnungen durchkreuzen. Ich habe mein Bestes getan, um ihnen klarzumachen, wie furchtbar sie sich an Helen versündigten, wenn sie ihr in allen Dingen ihren Willen ließen, und habe darauf hingewiesen, daß die Versuche, dem Kinde beizubringen, es könne nicht alles nach seinem Willen gehen, notwendig für dieses selbst wie für seine Lehrerin von schmerzlichen Empfindungen begleitet seien. Sie versprachen, mir freie Hand zu lassen und mich nach Kräften zu unterstützen. Die unverkennbaren Fortschritte, die ihr Kind gemacht hat, haben ihnen größeres Vertrauen zu mir eingeflößt. Natürlich ist es hart für sie. Ich begreife, daß es ihnen wehtut, zu sehen, wie ihr unglückliches kleines Kind bestraft und gezwungen wird, gewisse Dinge gegen seinen Willen zu tun. Nur wenige Stunden nach meiner Unterredung mit Herrn und Frau Hauptmann Keller (und sie hatten mir in allem beigepflichtet) setzte sich Helen bei Tisch in den Kopf, die Serviette nicht zu benutzen. Offenbar wollte sie probieren, was nun geschehen würde. Ich versuchte mehrmals, ihr die Serviette um den Hals zu legen, jedesmal aber riß sie sich das Tuch ab, warf es zur Erde und begann endlich den Tisch mit den Füßen zu bearbeiten. Ich nahm ihr den Teller weg und stand auf, um sie aus dem Zimmer zu führen; da aber[S. 222] schlug sich der Hauptmann ins Mittel und erklärte, er werde es unter keinen Umständen zugeben, daß eins seiner Kinder nichts zu essen bekäme.
Nach dem Abendessen kam Helen nicht mehr in mein Zimmer, und ich sah sie vor dem Frühstück am nächsten Morgen nicht wieder. Sie saß auf ihrem Platze, als ich herunterkam. Sie hatte sich ihre Serviette unter das Kinn gesteckt, anstatt, wie es ihre Gewohnheit war, sich das Tuch auf dem Rücken festzustecken, und lenkte meine Aufmerksamkeit auf diese Neuerung; als ich keine Einsprache dagegen erhob, schien sie erfreut zu sein und streichelte sich selbst. Als sie das Eßzimmer verließ, ergriff sie meine Hand und streichelte sie ebenfalls. Ich war begierig, was sie zu tun beabsichtigte, und beschloß, der Gewöhnung an Zucht und Sitte etwas nachzuhelfen. Ich ging nach dem Eßzimmer zurück und holte mir eine Serviette. Als Helen zum Unterricht heraufkam, legte ich alle Gegenstände in gewohnter Weise auf den Tisch; nur der Kuchen fehlte, von dem ich ihr ein Stückchen zur Belohnung zu geben pflegte, wenn sie ein Wort recht rasch buchstabiert hatte. Helen bemerkte dies sofort und machte das entsprechende Zeichen für »Kuchen«. Ich zeigte ihr die Serviette, band sie ihr um den Hals, riß sie dann ab und warf sie zur Erde und schüttelte dabei den Kopf. Dies tat ich mehrmals hintereinander. Helen verstand mich vortrefflich, denn sie schlug sich ein paarmal derb auf die Hand und schüttelte gleichfalls mit dem Kopfe. Inzwischen begann der Unterricht. Ich gab ihr einen Gegenstand in die Hand, und Helen buchstabierte das betreffende Wort. Mit einem Male hielt sie inne, als ob ihr ein Gedanke durch den Kopf schösse, und griff nach der Serviette, die sie sich rasch um den Hals knüpfte, wobei sie ihr Zeichen für »Kuchen« machte. Ich nahm dies für ein Versprechen, daß, wenn ich ihr etwas Kuchen gebe, sie ein artiges Kind sein wolle, und gab ihr ein[S. 223] größeres Stück als gewöhnlich; Helen war darüber sehr erfreut und klopfte und streichelte sich selbst voller Befriedigung.
3. April 1887.
Wir bringen fast unsere ganze Zeit im Garten zu, wo alles sproßt und blüht und grünt. Nach dem Frühstück gehen wir hinaus und sehen den Leuten bei ihrer Arbeit zu. Helen liebt es, zu graben und im Schmutze herumzuspielen wie jedes andere Kind. Heut früh pflanzte sie ihre Puppe in die Erde und deutete mir an, sie erwarte, die Puppe werde so groß werden wie ich.
Um zehn Uhr gehen wir hinein und reihen einige Minuten lang Perlen auf. Helen kann sie schon in sehr verschiedener Weise zusammenstellen und denkt sich öfters selbst neue Arten aus. Dann überlasse ich es ihrer Wahl, ob sie nähen, stricken oder häkeln will. Stricken lernte sie sehr schnell und fertigt jetzt einen Waschlappen für ihre Mutter an. In der vergangenen Woche machte sie ihrer Puppe eine Schürze und kam damit so gut zustande wie jedes andere Kind ihres Alters. Um elf Uhr haben wir Turnen. Sie kennt alle Freiübungen mit und ohne Hanteln. Die Stunde von zwölf bis eins wird zur Erlernung neuer Wörter benutzt. Sie dürfen aber nicht glauben, daß dies die einzige Zeit ist, in der ich mit Helen buchstabiere; ich buchstabiere ihr im Gegenteil alles, was wir den ganzen Tag über tun, in die Hand, obgleich sie bis jetzt noch keine Ahnung hat, was das Buchstabieren eigentlich bedeutet. Nach dem Mittagessen ruhe ich eine Stunde, und Helen spielt mit ihrer Puppe oder tummelt sich im Hofe mit den kleinen Negern umher, die vor meiner Ankunft ihre beständigen Spielgefährten waren. Später geselle ich mich zu ihnen, und wir machen dann die Runde durch die Wirtschaftsgebäude. Wir besuchen die Pferde und Maultiere in ihren Ställen, suchen[S. 224] nach Eiern und füttern die Truthühner. Oft gehen wir, wenn das Wetter schön ist, von vier bis sechs Uhr spazieren oder besuchen Helens Tante in Ivy Green oder ihre Verwandten in der Stadt. Helen hat einen stark entwickelten Geselligkeitstrieb; sie liebt es, Menschen um sich zu haben und ihre Bekannten zu besuchen, zum Teil allerdings, wie ich glaube, weil diese stets einige Leckerbissen für sie übrig haben. Nach dem Abendessen gehen wir in mein Zimmer und vertreiben uns die Zeit mit allerlei Beschäftigungen bis um acht, dann ziehe ich das kleine Fräulein aus und bringe es zu Bett. Helen schläft jetzt bei mir. Frau Keller wollte mir eine Wärterin für sie geben; ich glaube aber, es ist besser, ich bin ihre Wärterin, als daß ich eine dumme, faule Negerin zu beaufsichtigen habe. Außerdem ziehe ich es vor, daß Helen ganz allein auf mich angewiesen ist, und ich finde es viel leichter, sie bei allen sich bietenden Gelegenheiten zu unterrichten als zu festgesetzten Stunden.
Am 31. März fand ich, daß Helen achtzehn Substantiva und drei Verba kannte. Hier eine Liste dieser Wörter. Die mit einem Kreuz bezeichneten sind Wörter, nach denen sie selbst fragte: doll, mug, pin, key, dog, hat, cup, box, water, milk, candy, eye (×), finger (×), toe (×), head (×), cake, baby, mother, sit, stand, walk. Am 1. April lernte sie die Substantiva knife, fork, spoon, saucer, tea, papa, bed und das Verbum run.
5. April 1887.
Ich muß Ihnen heut morgen eine Zeile schreiben, denn es hat sich etwas sehr Wichtiges zugetragen. Helen hat den zweiten großen Schritt in ihrer Erziehung getan. Sie hat gelernt, daß jedes Ding einen Namen hat und daß das Fingeralphabet der Schlüssel zu allem ist, was sie zu wissen verlangt.
Die Wörter mug und milk machten Helen mehr Mühe als alle übrigen. Sie verwechselte die Substantiva mit dem Verbum[S. 225] drink. Sie kannte das Wort für trinken nicht, sondern half sich damit, daß sie die Pantomime des Trinkens machte, so oft sie mug oder milk buchstabierte. Als sie sich heute früh wusch, wünschte sie die Bezeichnung für Wasser zu erfahren. Wenn sie die Bezeichnung für etwas zu wissen wünscht, so deutet sie darauf und streichelt mir die Hand. Ich buchstabierte ihr w–a–t–e–r in die Hand und dachte bis nach Beendigung des Frühstücks nicht mehr daran. Dann fiel es mir ein, daß ich ihr vielleicht mit Hilfe dieses neuen Wortes den Unterschied zwischen mug und milk ein- für allemal klarmachen könnte. Wir gingen zu der Pumpe, wo ich Helen ihren Becher unter die Oeffnung halten ließ, während ich pumpte. Als das kalte Wasser hervorschoß und den Becher füllte, buchstabierte ich ihr w–a–t–e–r in die freie Hand. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt da. Ein ganz neuer Lichtschein verklärte ihre Züge. Sie buchstabierte das Wort water zu verschiedenenmalen. Dann kauerte sie nieder, berührte die Erde und fragte nach deren Namen, ebenso deutete sie auf die Pumpe und das Gitter. Dann wandte sie sich plötzlich um und fragte nach meinem Namen. Ich buchstabierte ihr »teacher« in die Hand. In diesem Augenblick brachte die Amme Helens kleine Schwester an die Pumpe; Helen buchstabierte »baby« und deutete auf die Amme. Auf dem ganzen Rückwege war sie im höchsten Grade aufgeregt und erkundigte sich nach dem Namen jedes Gegenstandes, den sie berührte, sodaß sie im Laufe weniger Stunden dreißig neue Wörter ihrem Wortschatz einverleibt hatte.
P. S. Ich konnte meinen Brief gestern abend nicht mehr zur Post geben und will daher noch eine Zeile hinzufügen. Helen stand heute früh wie eine strahlende Fee auf. Sie flog von[S. 226] einem Gegenstande zum anderen, fragte nach der Bezeichnung jedes Dinges und küßte mich vor lauter Freude. Als ich gestern abend zu Bett ging, warf sich Helen aus eigenem Antrieb in meine Arme und küßte mich zum ersten Male, und ich glaubte, mein Herz müsse springen, so voll war es vor Freude.
10. April 1887.
Helen macht von Tag zu Tag, ja beinahe von Stunde zu Stunde Fortschritte. Alles muß jetzt einen Namen haben. Bei allen unseren Ausgängen fragt sie voller Eifer nach den Bezeichnungen für die Dinge, die sie nicht zu Hause gelernt hat. Sie wird nicht müde mit Buchstabieren und will jeden, dem sie begegnet, das Alphabet lehren. Sobald sie das betreffende Wort kennt, wendet sie ihre früheren Zeichen und Pantomimen nicht mehr an, und das Erlernen eines neuen Wortes bereitet ihr das lebhafteste Vergnügen. Auch bemerken wir, daß ihre Züge von Tag zu Tag ausdrucksvoller werden. — Ich habe mich dazu entschlossen, Helen augenblicklich noch nicht regelmäßigen Unterricht zu erteilen. Ich behandle sie genau wie ein Kind von zwei Jahren. Es kommt mir widersinnig vor, zu verlangen, daß ein Kind zu einer bestimmten Zeit in ein bestimmtes Zimmer geht und bestimmte Lektionen hersagt, wenn es noch nicht über einen genügenden Wortschatz verfügt. Ich fragte mich: Wie lernt ein normales Kind sprechen? Die Antwort lautete einfach: Durch Nachahmung. Das Kind kommt mit der Fähigkeit, zu lernen, auf die Welt und lernt von selbst, vorausgesetzt, daß es ihm an dem erforderlichen äußeren Anreize nicht fehlt. Es sieht, wie andere bestimmte Dinge tun, und versucht, sie ebenfalls zu tun. Es hört andere sprechen und versucht selbst zu sprechen. Lange bevor es sein erstes Wort spricht, versteht es, was man zu ihm sagt... Diese Erwägungen weisen mir den richtigen Weg, Helen das Sprechen[S. 227] beizubringen. Ich muß ihr in die Hand sprechen, wie wir dem kleinen Kinde in das Ohr sprechen. Ich nehme an, daß sie dieselbe Assimilations- und Nachahmungsgabe besitzt wie ein normales Kind. Ich werde in vollständigen Sätzen zu ihr sprechen und ihr, wenn nötig, die Bedeutung durch Gesten und ihre beschreibenden Zeichen klarmachen, aber nicht versuchen, ihre Aufmerksamkeit auf nur einen einzigen Gegenstand zu lenken. Ich will alles tun, was in meinen Kräften steht, um Helen anzuregen und anzuspornen, und geduldig das Ergebnis abwarten.
24. April 1887.
Die neue Methode bewährt sich vorzüglich; Helen kennt jetzt die Bedeutung von mehr als hundert Wörtern und lernt täglich neue hinzu, ohne im geringsten auf die Vermutung zu kommen, sie verrichte eine besondere Heldentat. Sie lernt, weil sie nicht anders kann, genau wie der Vogel fliegen lernt. Doch dürfen Sie nicht glauben, daß sie »fließend spricht«. Wie ihre kleine Cousine drückt sie ganze Sätze durch einzelne Worte aus. „Milch“, mit einer Handbewegung bedeutet: „Gib mir mehr Milch“; „Mutter“, begleitet von einem fragenden Blick, bedeutet: „Wo ist Mutter?“ „Gehen“ bedeutet: „Ich möchte ausgehen.“ Buchstabiere ich ihr aber in die Hand: „Gib mir etwas Brot,“ so reicht sie mir das Brot, und wenn ich ihr sage: „Hole deinen Hut, wir wollen spazieren gehen,“ so gehorcht sie augenblicklich. Die beiden Worte: „Hut“ und „spazieren gehen“ würden dieselbe Wirkung ausüben; wird aber der ganze Satz mehrmals am Tage wiederholt, so muß er sich mit der Zeit dem Gehirne einprägen, und Helen wird ihn allmählich selbst anwenden.
Wir beschäftigen uns mit einem kleinen Spiele, das nach meiner Meinung für die Entwickelung des Intellekts höchst nützlich ist und zugleich den Zweck einer Sprachlektion erfüllt.[S. 228] Es ist eine Art Versteckspiel. Ich verstecke irgend etwas, einen Ball, eine Spule oder dergleichen, und wir suchen danach. Als wir vor zwei bis drei Tagen mit dem Spiele begannen, benahm sich Helen ziemlich ungeschickt. Sie suchte an Stellen nach, wo es unmöglich gewesen wäre, den Ball oder die Spule zu verstecken. Wenn ich z. B. den Ball versteckte, so suchte sie unter ihrer Schreibtafel. Versteckte ich die Spule, so suchte sie in einer Schachtel, die nicht länger als einen Zoll war. Sie gab auch bald das Spiel auf. Jetzt kann ich ihr Interesse daran eine Stunde und länger rege erhalten, und sie zeigt mehr Intelligenz und oft große Geschicklichkeit beim Finden der Gegenstände. Heute früh versteckte ich einen Zwieback. Helen suchte überall, ohne ihn finden zu können. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, sie lief auf mich zu und öffnete meinen Mund, um ihn gründlich zu untersuchen. Als sie hier nichts fand, deutete sie auf meinen Magen und fragte: Eat?, was bedeuten sollte: Haben Sie ihn vielleicht gegessen?
Freitag begegnete uns ein Herr auf der Straße, der Helen einige Bonbons gab, die sie aufaß bis auf ein kleines Stückchen, das sie in ihr Schürzentäschchen steckte. Nach Hause gekommen, traf sie ihre Mutter und sagte aus eigenem Antriebe: Give baby candy. Frau Keller buchstabierte ihr in die Hand: No—baby eat—no. Helen näherte sich der Wiege, faßte Mildred in den Mund und deutete auf ihre eigenen Zähne. Frau Keller buchstabierte: Teeth. Helen schüttelte den Kopf und buchstabierte: Baby teeth—no, baby eat—no, womit sie natürlich sagen wollte: Schwesterchen kann nicht essen, weil es keine Zähne hat.
8. Mai 1887.
Nein, ich brauche kein Kindergartenmaterial mehr. Ich habe anfangs meinen kleinen Vorrat von Perlen, Karten und Strohhalmen benutzt, weil ich nicht wußte, was ich sonst tun[S. 229] sollte; aber die Zeit für sie ist jetzt auf alle Fälle vorüber.
Ich beginne allen ausgeklügelten pädagogischen Systemen zu mißtrauen. Sie scheinen mir auf der Voraussetzung aufgebaut zu sein, daß jedes Kind eine Art Idiot ist und im Denken unterwiesen werden muß, während es, wenn es sich selbst überlassen bleibt, mehr und besser denken wird, wenn es auch nicht so in die Augen fällt. Laßt es nach seinem Belieben gehen und kommen, laßt es reale Gegenstände berühren und seine Eindrücke selbständig ordnen, anstatt daß es im Zimmer an einem kleinen runden Tische sitzt, während eine Lehrerin mit sanfter Stimme ihm sagt, es möge eine steinerne Mauer aus seinen Holzklötzchen bauen, einen Regenbogen aus farbigen Papierstreifen herstellen oder Bäume aus Strohhalmen in Blumentöpfe aus Perlen pflanzen. Solcherlei Unterricht füllt den Geist mit künstlichen Assoziationen an, die erst ausgerottet werden müssen, ehe das Kind seine Gedanken aus eigener Anschauung entwickeln kann.
Helen lernt Adjektiva und Adverbien so leicht wie sie Substantiva gelernt hat. Die Vorstellung geht stets dem Worte voran. Sie hatte Zeichen für »klein« und »groß« lange, bevor ich zu ihr kam. Wollte sie einen kleinen Gegenstand haben und wurde ihr ein großer gegeben, so schüttelte sie den Kopf und hob ein Stückchen von der Haut ihrer einen Hand zwischen Daumen und Zeigefinger der anderen hoch. Wollte sie etwas Großes bezeichnen, so spreizte sie die Finger beider Hände so weit wie möglich und näherte die Hände einander, als wolle sie einen großen Ball auffangen. Eines Tages ersetzte ich diese Zeichen durch die Wörter small und large; sofort wendete sie die Wörter an und verschmähte von nun ab die Zeichen. Ich kann ihr jetzt sagen: Bringe mir ein großes Buch, einen kleinen Teller, gehe langsam die Treppe hinauf, laufe rasch und gehe langsam. Heute morgen gebrauchte sie die Konjunktion and[S. 230] zum ersten Male. Ich befahl ihr, die Tür zuzumachen, und sie fügte hinzu: and lock.
Vor ein paar Minuten kam sie in großer Aufregung die Treppe heraufgestürmt. Ich konnte mir zuerst gar nicht erklären, was geschehen war. Sie buchstabierte immerwährend dog—baby, indem sie dabei der Reihe nach auf ihre fünf Finger deutete und an ihnen saugte. Mein erster Gedanke war, einer von den Hunden habe Mildred verletzt, aber Helens strahlendes Gesicht beschwichtigte meine Furcht. Es half nichts, ich mußte mit ihr hinunter. Sie führte mich in einen Schuppen, und hier in der Ecke lag einer von den Hühnerhunden mit fünf kleinen niedlichen Jungen! Ich lehrte Helen das Wort puppy, ließ sie die Hündchen alle befühlen, während sie saugten, und buchstabierte puppies. Sie interessierte sich sehr für das Nährgeschäft und buchstabierte mehrmals die Wörter mother-dog und baby. Helen bemerkte, daß die Augen der Hündchen geschlossen waren, und sagte Eyes—shut. Sleep—no, womit sie sagen wollte: Die Augen sind zwar geschlossen, aber die Hündchen schlafen nicht. Sie deutete der Reihe nach auf jedes Hündchen und dann auf ihre fünf Finger, und ich lehrte sie das Wort five. Dann hielt sie einen Finger in die Höhe und sagte: Baby. Ich begriff, daß sie von Mildred sprach, und buchstabierte: One baby and five puppies. Dann bemerkte sie, daß eins von den Hündchen kleiner war als die anderen, und buchstabierte small, indem sie zu gleicher Zeit das entsprechende Zeichen machte; ich buchstabierte very small. Sie verstand augenscheinlich, daß very die Bezeichnung für den neuen Begriff sei, der in ihren Kopf gelangt war, denn auf dem ganzen Rückwege nach Hause gebrauchte sie das Wort ganz richtig. Ein Stein war »small«, ein anderer »very small«. Als sie ihre kleine Schwester anfaßte, sagte sie: Baby—small. Puppy—very small.
Seit ich Helen keinen regelmäßigen Unterricht mehr erteile, finde ich, daß sie viel rascher lernt. Ich bin überzeugt, daß die Zeit, die ein Lehrer darauf verwendet, sich zu vergewissern, ob das Kind seine Lektion auch behalten habe, so gut wie weggeworfen ist. Meines Erachtens ist es viel richtiger, anzunehmen, daß das Kind tue, was in seinen Kräften steht, und daß die ausgestreute Saat zur rechten Zeit schon Frucht tragen wird.
16. Mai 1887.
Wir unternehmen jetzt jeden Morgen unmittelbar nach dem Frühstück weite Spaziergänge. Auf dem ganzen Wege stellt Helen unaufhörlich Fragen an mich. Wir machen auf Schmetterlinge Jagd und fangen ab und zu einen. Dann setzen wir uns unter einen Baum und sprechen über ihn. Später lassen wir ihn frei, falls er die Lektion überlebt hat; aber in der Regel werden sein Leben und seine Schönheit auf dem Altar der Lernbegierde geopfert, obgleich er in einem anderen Sinne für immer fortlebt; denn hat er sich nicht in lebendige Gedanken verwandelt? Es ist wunderbar, wie Wörter Gedanken erzeugen! Jedes neue Wort, das Helen lernt, scheint das Bedürfnis nach weiteren zu erwecken. Ihr Geist wächst infolge seiner rastlosen Tätigkeit. Gewöhnlich gehen wir um die Zeit des Mittagessens nach Hause, und Helen erzählt ihrer Mutter voller Eifer alles, was sie gelernt hat.
Dieser Wunsch, zu wiederholen, was ihr gesagt worden ist, deutet auf einen unverkennbaren Fortschritt in der Entwickelung ihres Intellektes hin und ist ein unschätzbarer Ansporn zur Aneignung der Sprache. Ich bitte alle ihre Bekannten, sie zu Mitteilungen über ihr Tun und Treiben zu ermuntern und soviel Teilnahme und Vergnügen wie nur möglich an ihren kleinen Erlebnissen zu zeigen. Dies befriedigt ihr kindliches Bedürfnis nach Anerkennung und hält ihr Interesse an den[S. 232] Dingen aufrecht. Ebenso bildet es die Grundlage der wirklichen Unterhaltung. Helen macht zwar noch manche Fehler und verwechselt Wörter und Redensarten miteinander; aber dies tut auch ein hörendes Kind. Ich bin sicher, diese Schwierigkeiten werden sich von selbst geben. Der Antrieb zum Sprechen ist das wichtigste. Ich füge hier und da ein Wort, manchmal einen Satz ein und erinnere sie an das, was sie ausgelassen oder vergessen hat. So nimmt ihr Wortschatz rasch zu, und die neuen Wörter bringen neue Vorstellungen hervor, und diese sind der Stoff, aus dem Himmel und Erde geschaffen sind.
Meine Aufgabe nimmt alle meine Kräfte und mein Interesse von Tag zu Tag ausschließlicher in Anspruch, schreibt Fräulein Sullivan am 22. Mai 1887. Helen ist ein wunderbares Kind, so voller Lernbegierde und Lerneifer. Sie kennt jetzt gegen dreihundert Wörter und eine große Menge alltäglicher Redensarten, und es sind noch nicht drei Monate her, seit sie ihr erstes Wort lernte. Es ist ein seltenes Glück, das Entstehen, das Wachsen und die ersten schwachen Betätigungen eines lebenden Geistes zu beobachten; ich genieße dieses Glück, und noch mehr, es ist mir vergönnt, diesen herrlichen Intellekt zu wecken und zu leiten.
Wenn ich mich für diese große Aufgabe nur besser eignete! Ich fühle mich ihr täglich weniger gewachsen. Mein Geist steckt voller Pläne; nur kann ich sie leider nicht in die Tat umsetzen. Sie sehen, mein Geist ist undiszipliniert, ich irre plan- und ziellos umher. O wenn ich nur jemand hätte, der mir helfen könnte! Ich brauche einen Lehrer genau so gut wie Helen. Ich weiß, daß die Erziehung dieses Kindes das Hauptereignis meines Lebens sein wird, wenn ich nur die Kraft und Ausdauer habe, sie zu vollenden. Eins ist mir klar geworden: Helen muß Bücher benutzen lernen, wir müssen sie beide be[S. 233]nutzen lernen, und dabei fällt mir ein — wollen Sie die Freundlichkeit haben, Herrn Anagnos zu bitten, mir die Psychologien von Perez und Sully zu besorgen? Ich glaube, sie werden mir nützlich sein können.
Wir halten jetzt jeden Tag Leseübungen ab. In der Regel nehmen wir eins der kleinen Lesebücher mit auf einen hohen Baum, der in der Nähe des Hauses steht, und verwenden eine bis zwei Stunden auf das Aufsuchen von Wörtern, die Helen schon kennt. Wir betreiben es als eine Art Spiel und sehen zu, wer die Wörter rascher finden kann, Helen mit ihren Fingern oder ich mit meinen Augen, und sie lernt soviel neue Wörter, wie ich ihr mit Hilfe der ihr bereits bekannten erklären kann. Gleiten ihre Finger über Wörter, die sie kennt, so schreit sie vor Vergnügen auf und herzt und küßt mich voller Freuden, namentlich wenn sie glaubt, sie sei die Siegerin. Später setze ich die neuen Wörter im Rahmen zu kleinen Sätzen zusammen, und manchmal ist es möglich, sie zu einer kleinen Geschichte von einer Biene, einer Katze oder einem kleinen Knaben zu gestalten. Ich kann sie jetzt heißen die Treppe herauf- oder hinuntergehen, Gegenstände wegtragen oder bringen, sitzen, stehen, gehen, laufen, liegen, kriechen, sich herumwälzen oder klettern; sie ist über Tätigkeitswörter entzückt; daher macht es überhaupt keine Mühe, ihr die Verben beizubringen. Sie ist auf die Aneignung eines Satzes so stolz wie ein Feldherr, der die Streitkraft des Feindes gefangen genommen hat.
Eine von Helens alten Gewohnheiten, die am festesten gewurzelt und am schwersten zu bekämpfen ist, ist ihre Sucht, Gegenstände zu zertrümmern. Wenn sie irgend etwas auf ihrem Wege findet, so schleudert sie es zur Erde, gleichviel, was es ist: ein Glas, ein Krug oder gar eine Lampe. Sie besitzt eine große Menge Puppen, und jede von ihnen ist in einem[S. 234] Anfall von Wut oder Langeweile zerbrochen worden. Eines Tages hatte ihr ein bekannter Herr eine neue Puppe aus Memphis mitgebracht, und ich wollte versuchen, ob ich es nicht Helen begreiflich machen könnte, daß sie sie nicht zerbrechen dürfe. Ich ließ sie die Bewegung machen, als schlüge sie den Kopf der Puppe auf den Tisch auf, und buchstabierte ihr in die Hand: No, no, Helen is naughty. Teacher is sad — und ließ sie den bekümmerten Ausdruck meines Gesichtes fühlen. Dann ließ ich sie die Puppe liebkosen, auf die getroffene Stelle küssen und zärtlich in ihren Armen wiegen, buchstabierte ihr dabei in die Hand: Good Helen, teacher is happy — und ließ sie das Lächeln auf meinem Gesichte fühlen. Sie machte diese Bewegungen mehrmals und gab dabei auf jede Kleinigkeit acht; dann stand sie einen Augenblick ganz still mit bekümmertem Gesichtsausdruck, der sich aber plötzlich aufhellte, buchstabierte. Good Helen — und verzog ihr Gesicht zu einem breiten, künstlichen Lächeln. Dann trug sie die Puppe die Treppe hinauf, legte die in das oberste Fach des Kleiderschrankes und hat sie seitdem nie wieder berührt.
2. Juni 1887.
Das Wetter ist drückend heiß. Wir schmachten förmlich nach Regen. Wir sind alle in großer Sorge um Helen. Sie ist sehr nervös und aufgeregt. Sie kann des Nachts nicht schlafen und leidet an Appetitlosigkeit. Es ist schwer zu raten. Der Arzt sagt, ihr Geist sei zu rege; wie sollen wir sie aber vom Denken abhalten? Sie beginnt zu buchstabieren, sobald sie aufwacht, und fährt damit den ganzen Tag lang fort. Wenn ich nicht mit ihr sprechen will, so buchstabiert sie in ihre eigene Hand und unterhält sich augenscheinlich auf das lebhafteste mit sich selbst.
Ich gab ihr meinen Braillestift in der Meinung, das mechanische Einstechen von Löchern in das Papier würde sie[S. 235] zerstreuen und ihren Geist beruhigen. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich fand, daß die kleine Hexe Briefe schrieb! Ich hatte keine Ahnung davon, daß sie wußte, was überhaupt ein Brief sei. Sie ist öfters mit mir nach der Post gegangen, wenn ich Briefe besorgte, und ich glaube, ich habe ihr manches aus dem Inhalt meiner Briefe an Sie mitgeteilt. Auch wußte sie, daß ich ab und zu »Briefe an blinde Mädchen« mit dem Braillestift schrieb, aber ich glaubte nicht, daß sie irgend eine klare Vorstellung davon habe, was ein Brief sei. Eines Tages brachte sie mir einen Bogen, den sie über und über mit Löchern bedeckt hatte, wollte ihn in einen Umschlag stecken und nach der Post tragen. Sie sagte: Frank—letter. Ich fragte sie, was sie denn an Frank geschrieben habe. Sie entgegnete: Much words. Puppy motherdog—five. Baby—cry. Hot. Helen walk—no. Sunfire—bad. Frank—come. Helen—kiss Frank. Strawberries—very good. —
Helen liest fast ebenso eifrig, wie sie spricht. Ich finde, sie versteht den Inhalt ganzer Sätze, indem sie die Bedeutung der ihr unbekannten Wörter aus dem Zusammenhang errät.
Als ich eines Abends zu Bette ging, fand ich Helen fest eingeschlafen, während sie ein großes Buch fest in ihren Armen hielt. Sie hatte offenbar gelesen und war dabei eingeschlafen. Als ich sie am nächsten Morgen danach fragte, antwortete sie: Book—cry und ergänzte dies durch Zittern und andere Zeichen von Furcht. Ich lehrte sie das Wort afraid, und sie sagte: Helen is not afraid. Book is afraid. Book will sleep with girl. Ich erklärte ihr, daß sich das Buch nicht fürchte und in seinem Schranke schlafen müsse und daß »girl« nicht im Bett lesen dürfe. Sie sah mich ganz verschmitzt an und begriff offenbar, daß ich ihre List durchschaut hatte.
Und nun zum Schluß noch eins, das nur für Ihre Ohren bestimmt ist. Eine innere Stimme sagt mir, daß mein Unter[S. 236]nehmen über alles Wünschen und Träumen hinaus von Erfolg gekrönt sein wird. Wären nicht einige Umstände dabei, die einen solchen Gedanken im höchsten Grade unwahrscheinlich, ja widersinnig machen, so möchte ich glauben, Helens Erziehung werde an Interesse und Wunderbarkeit Dr. Howes Leistung übertreffen. Ich weiß, meine Schülerin besitzt bedeutende Anlagen, und ich glaube, daß ich imstande bin, sie zu entwickeln und auszubilden. Ich kann Ihnen nicht angeben, auf welche Weise ich zu dieser Ueberzeugung gelangt bin. Ich hatte kurz zuvor noch keine Ahnung, wie ich zu Werke gehen sollte; ich tappte vollständig im Dunkeln umher; aber nunmehr weiß ich es, und ich weiß, daß ich es weiß. Ich kann mir keine klare Rechenschaft darüber ablegen; wenn sich aber Schwierigkeiten erheben, so bin ich weder ratlos noch im Zweifel. Ich weiß, wie ich ihnen entgegenzutreten habe; ich scheine Helens individuelle Bedürfnisse zu ahnen. Es ist wunderbar.
Schon erregt Helen die allgemeine Aufmerksamkeit. Niemand kann sie sehen, ohne einen tiefen Eindruck von ihr zu erhalten. Sie ist ein außergewöhnliches Kind, und das Interesse der Oeffentlichkeit an ihrer Erziehung wird ebenfalls ein außergewöhnliches sein. Daher wollen wir recht vorsichtig in Bezug auf alles sein, was wir über sie sagen oder schreiben. Ich will Ihnen ohne jeden Rückhalt schreiben und Ihnen alles berichten, aber nur unter einer Bedingung, nämlich der, daß Sie mir versprechen, meine Briefe niemand zu zeigen. Meine herrliche Helen soll nicht zu einem Wunderkinde gemacht werden, sofern ich es verhüten kann.
5. Juni 1887.
Helen interessiert sich sehr für einige kleine Hühnchen, die sich heut morgen ihren Weg in die Welt pickten. Ich gab ihr ein Ei in die Hand und ließ sie fühlen, wie die Hühnchen[S. 237] tschip-tschip riefen. Ihr Erstaunen, als sie das zarte Geschöpf im Innern des Eies fühlte, läßt sich nicht in Worte fassen. Die Henne war sehr nett und erhob keinen Einspruch gegen unsere Untersuchungen. Außer den Hühnchen haben wir noch verschiedenen anderen Familienzuwachs erhalten — zwei Kälber, ein Füllen und eine Anzahl komischer kleiner Schweine. Sie würden lachen müssen, wenn Sie mich sähen, wie ich ein quiekendes Ferkel in meinen Armen halte, während Helen es am ganzen Leibe betastet und zahllose Fragen stellt — Fragen, die keineswegs leicht zu beantworten sind. Nachdem sie beobachtet hatte, wie die Hühnchen aus dem Ei kommen, fragte sie: Did baby pig grow in egg? Where are many shells? Helens Kopfumfang beträgt 21½ Zoll, der meinige 22½; Sie sehen, ich bin ihr nur um einen Zoll voraus!
12. Juni 1887.
Das Wetter ist nach wie vor heiß. Helen ist ungefähr dieselbe geblieben — bleich und hager. Doch dürfen Sie nicht glauben, daß sie wirklich krank ist. Ich bin überzeugt, die Hitze und nicht die natürliche, vielversprechende Regsamkeit ihres Geistes ist schuld an ihrem Zustande. Selbstverständlich werde ich ihr Gehirn nicht überbürden. Wir werden tagtäglich von Leuten überlaufen, die bereit sind, die Verantwortlichkeit für die Welt zu übernehmen, wenn sich der liebe Gott eine Versäumnis zuschulden kommen läßt. Sie erklären uns, Helen »strenge sich zu sehr an«, ihr Geist sei zu lebhaft (genau dieselben Leute glaubten noch vor ein paar Monaten, sie besäße überhaupt keinen), und erteilen uns allerhand unmögliche und widersinnige Ratschläge.
Augenblicklich unterweise ich Helen in der Quadratschrift. Die Beschäftigung lenkt sie etwas ab und nötigt sie zum Stillsitzen, was bei dieser erschlaffenden Hitze sehr wünschenswert[S. 238] ist. Sie hat eine völlige Manie für das Zählen. Sie hat alles im Hause gezählt und ist jetzt dabei, die Wörter in ihrer Fibel zu zählen. Hoffentlich wird es ihr nicht in den Sinn kommen, die Haare ihres Hauptes zählen zu wollen. Könnte sie sehen und hören, so würde sich ihre überschüssige Energie in einer Weise entladen, die vielleicht ihr Gehirn nicht so übermäßig belasten würde, obgleich ich andererseits glaube, daß auch das normale Kind sein Spiel ziemlich ernst nimmt.
15. Juni 1887.
In der vergangenen Nacht hatten wir ein prächtiges Gewitter, und es ist heut viel kühler. Wir fühlen uns alle erfrischt, als hätten wir eine Dusche genommen. Helen läuft herum wie ein Wiesel. Sie wollte wissen, ob im Himmel geschossen würde, wenn sie den Donner fühlte, und ob die Bäume und Blumen allen Regen auftränken.
Sie kennt jetzt vierhundert Wörter, abgesehen von zahlreichen Eigennamen. Sie kann rasch bis dreißig zählen, und sieben von den Buchstaben der Quadratschrift sowie die Wörter, die sie aus ihnen bilden kann, schreiben... Sie erkennt sofort jeden wieder, mit dem sie einmal zusammengetroffen ist. Im Gegensatze zu Laura Bridgman liebt sie Herrengesellschaft, und wir bemerken, daß sie sich leichter mit Herren befreundet als mit Damen.
Sie ist stets bereit, alles, was sie hat, mit ihrer Umgebung zu teilen, wobei oft nur sehr wenig für sie selbst übrig bleibt. Sie hält sehr auf ihre Kleidung, liebt sich zu putzen und ist ganz untröstlich, wenn sie ein Loch in einem Kleidungsstück entdeckt. Abends will sie durchaus ihre Haare zu Locken gedreht haben, selbst wenn sie so müde ist, daß sie kaum stehen kann.
3. Juli 1887.
Heute früh entstand ein großer Lärm unten im Erdgeschoß. Ich hörte Helen schreien und eilte hinunter, um zu sehen, was der Grund davon war. Ich fand sie in fürchterlicher Aufregung. Ich hatte gehofft, ein solcher Auftritt würde sich nie wieder ereignen. Sie war die letzten zwei Monate so artig und folgsam gewesen, daß ich glaubte, ich hätte den Leuen gebändigt, aber er schien nur geschlummert zu haben. Jedenfalls zauste, kratzte und biß sie jetzt Viney wie eine wilde Katze. Es scheint, als habe die Dienerin den Versuch gemacht, Helen ein Glas, das diese mit Steinen füllte, wegzunehmen, aus Furcht, sie könne es zerbrechen. Helen widersetzte sich; Viney versuchte, es ihr mit Gewalt aus der Hand zu reißen, und ich fürchte, sie hat das Kind geschlagen oder sonst etwas getan, was diesen außergewöhnlichen Wutausbruch veranlaßte. Als ich Helen bei der Hand nahm, begann sie zu weinen. Ich fragte sie, was geschehen sei, und sie buchstabierte: Viney—bad und begann sie mit erneuter Heftigkeit zu schlagen und mit den Füßen zu stoßen. Ich hielt ihr die Hände fest, bis sie sich beruhigt hatte.
Später kam Helen zu mir ins Zimmer; sie sah sehr traurig aus und wollte mich küssen. Ich antwortete: „I cannot kiss naughty girl,“ worauf sie buchstabierte: „Helen is good, Viney is bad.“ — Ich erwiderte: „Du hast Viney gestoßen und getreten und ihr weh getan. Du bist sehr unartig gewesen und ich kann unartiges Mädchen nicht küssen.“ — Sie stand einen Augenblick ganz still, und man sah es, daß in ihrem Innern ein Kampf vor sich ging. Dann versetzte sie: Helen did (does) not love teacher. Helen do love mother. Mother will whip Viney.“ Ich sagte ihr, sie täte besser, nicht mehr über den Vorfall zu sprechen oder an ihn zu denken. Sie erkannte, daß ich sehr betrübt war, und wollte sich an mich anschmiegen;[S. 240] ich hielt es aber für das beste, ihr einen besonderen Platz anzuweisen. Bei Tisch war sie sehr bekümmert, daß ich nicht aß, und machte den Vorschlag, die Köchin solle Tee für mich bereiten. Aber ich sagte ihr, mein Herz sei traurig, und ich hätte keine Lust zu essen. Sie begann zu weinen und zu schluchzen und klammerte sich an mich an.
Sie war sehr aufgeregt, als wir nach oben gingen, und ich versuchte daher, ihre Aufmerksamkeit auf ein sonderbares Tier, ein Gespensterkrebschen (stick-bug), zu lenken. Es ist dies das sonderbarste Geschöpf, das ich je gesehen habe — ein kleines Reisigbündel, das in der Mitte zusammengeschnürt ist. Ich wollte nicht glauben, daß es lebendig wäre, bis ich es sich bewegen sah. Und selbst dann glich es eher einem mechanischen Spielzeug als einem lebenden Wesen. Aber Helen, das arme, kleine Ding, konnte ihre Aufmerksamkeit nicht konzentrieren. Ihr Herzchen war voller Betrübnis und sie wollte darüber sprechen. Sie fragte: „Can bug know about naughty girl? Is bug verv happy?“ Dann schlang sie ihre Arme um meinen Hals und sagte: „I am good to-morrow. Helen is good all days.“ — „Willst du Viney sagen, daß es dir leid tut, daß du sie gekratzt und mit den Füßen gestoßen hast?“ — Sie lächelte und antwortete: „Viney not spell words.“ — „Ich will Viney sagen, daß es dir sehr leid tut. Willst du mit mir gehen und Viney suchen?“ — Sie war dazu bereit und ließ sich von Viney küssen, obgleich sie ihre Liebkosungen nicht erwiderte. Seitdem ist sie außergewöhnlich sanft, und über ihre Züge ist eine Lieblichkeit — eine Seelenschönheit ausgegossen, die ich bisher an ihr nicht wahrgenommen habe.
31. Juli 1887.
Helen schreibt mit Bleistift schon ganz vorzüglich. Ich lehre sie das Braille-Alphabet, und sie ist ganz entzückt darüber,[S. 241] daß sie imstande ist, Wörter herzustellen, die sie selbst fühlen kann.
Ihre Entwickelung ist jetzt soweit vorgeschritten, daß sie nach allem fragt. Was? warum? wann?, namentlich warum? — so geht es den ganzen Tag über, und je mehr ihre Intelligenz wächst, desto dringender werden ihre Fragen. Ich entsinne mich, wie lästig ich immer das ewige Fragen der Kinder meiner Bekannten fand, aber jetzt weiß ich, daß diese Fragen von dem zunehmenden Interesse des Kindes an den Ursachen der Dinge herrühren. Das »Warum« ist das Tor, durch das es die Welt des Denkens und der Ueberlegung betritt. How does carpenter know to build house? Who put chickens in eggs? Why is Viney black? Flies bite — why? Can flies know not to bite? Why did father kill sheep? Natürlich stellt sie viele Fragen, die nicht so verständig sind wie diese. Ihr Denken geht nicht logischer vor sich als das von Durchschnittskindern. Im ganzen gleichen ihre Fragen denen, die ein aufgewecktes Kind von drei Jahren stellt; aber ihre Wißbegierde ist äußerst groß, — ihre Fragen fallen nie lästig, obgleich sie mein geringes Maß von Kenntnissen und meinen Scharfsinn auf eine harte Probe stellen.
Vorigen Sonntag bekam ich einen Brief von Laura [Bridgman]. Sagen Sie ihr, bitte, meinen herzlichsten Dank dafür, und teilen Sie ihr mit, daß Helen ihr einen Kuß schickt. Ich las den Brief beim Abendessen, und Frau Keller rief aus: Sie sehen, Fräulein Annie, Helen schreibt schon jetzt beinahe ebensogut! — Es ist wahr.
21. August 1887.
Wir haben eine herrliche Zeit in Huntsville verlebt. Jedermann war über Helen entzückt und überschüttete sie mit Geschenken und Küssen. Am ersten Abend lernte sie die Namen aller Leute im Hotel, gegen zwanzig, glaube ich. Am nächsten Morgen waren wir erstaunt, zu finden, daß sie sich ihrer aller[S. 242] erinnerte und jeden einzelnen, mit dem sie am Abend zuvor zusammengetroffen war, wiedererkannte. Sie lehrte die Kinder das Alphabet, und mehrere von ihnen lernten mit ihr sprechen. Eines der Mädchen lehrte sie Polka tanzen, und ein kleiner Knabe zeigte ihr seine Kaninchen und buchstabierte ihr deren Namen in die Hand. Sie war ganz entzückt darüber und gab ihrer Freude dadurch Ausdruck, daß sie den kleinen Burschen herzte und küßte, was ihn in große Verlegenheit setzte.
Seit ihrer Rückkehr spricht sie unaufhörlich von ihren Erlebnissen in Huntsville, und wir bemerken einen ganz entschiedenen Fortschritt in der Geläufigkeit, mit der sie spricht. Seltsamerweise scheint ein Ausflug auf den Gipfel des Monte Sano, eines schönen Berges nicht weit von Huntsville, auf sie einen tieferen Eindruck gemacht zu haben als alles übrige. Sie erinnert sich an alles, was ich ihr darüber mitgeteilt habe, und wiederholte, als sie ihrer Mutter davon erzählte, genau die Worte und Redewendungen, die ich in meiner Beschreibung gebraucht hatte. Zum Schluß fragte sie ihre Mutter, ob sie auch gern very high mountain and beautiful cloud-caps sehen wolle. Ich hatte diesen letzteren Ausdruck (»Wolkenmützen«) nicht gebraucht, und sagte ihr nun: Die Wolken berühren die Berge sanft wie schöne Blumen. — Sie sehen, ich mußte Worte und Bilder gebrauchen, mit denen sie durch den Gefühlssinn vertraut war. Aber es erscheint kaum möglich, daß bloße Worte jemand, der nie einen Berg gesehen hat, auch nur den leisesten Begriff von dessen Höhe verschaffen können, und ich kann nicht absehen, wie jemand imstande sein sollte, zu wissen, welcher Art der Eindruck war, den sie erhalten hatte, oder worauf das Vergnügen beruhte, das sie empfand, als ihr davon erzählt wurde. Alles, was wir wissen, ist nur, daß sie ein gutes Gedächtnis, eine lebhafte Phantasie und Assoziationsvermögen besitzt.
28. August 1887.
Ich wünschte, es würde nichts Neues mehr geboren. Kleine Hunde, kleine Kälber und kleine Kinder erhalten Helens Interesse an dem »Warum« und »Wozu« der Dinge auf dem Siedepunkte. Die eines Tages erfolgte Ankunft eines neugeborenen Kindes in Ivy Green bot Gelegenheit zu einer Unmenge von Fragen über die Herkunft der Kinder und der lebenden Wesen im allgemeinen. Where did Leila get new baby? How did doctor know where to find baby? Did Leila tell doctor to get very small new baby? Where did doctor find Guy and Prince (Hündchen)? Why is Elizabeth Evelyn’s sister? u. s. w., u. s. w. Diese Fragen wurden zuweilen peinlich, und es war mir klar, daß irgend etwas geschehen müsse. War es für Helen natürlich, solche Fragen zu stellen, so war es meine Pflicht, sie zu beantworten. Es ist meines Erachtens ein großer Fehler, Kinder mit falschen Angaben und Unsinn abzuspeisen, wenn ihr zunehmendes Beobachtungs- und Unterscheidungsvermögen in ihnen den Wunsch rege macht, Auskunft über gewisse Dinge zu erhalten. Von Anfang an hatte ich es mir zum Prinzip gemacht, alle Fragen Helens nach meinem besten Wissen in einer ihr verständlichen Weise und dabei wahrheitsgemäß zu beantworten. Warum sollte ich diese Fragen abweichend behandeln? fragte ich mich. Ich konnte, abgesehen von meiner kläglichen Unwissenheit in betreff der großen Tatsachen, auf welchen unsere physische Existenz beruht, keinen Grund dafür erblicken. Es gibt in dieser weltabgeschiedenen Gegend keine lebende Seele, die ich hierbei oder bei einer anderen pädagogischen Schwierigkeit um Rat fragen könnte. Das einzige, was ich in solchen Fällen tun kann, ist frisch darauf loszugehen und aus meinen Mißgriffen zu lernen. Aber hier glaube ich keinen Mißgriff begangen zu haben. Ich nahm Helen und mein botanisches Lehrbuch mit auf den Baum[S. 244] hinauf, auf dem wir oft lesen und studieren, und erzählte ihr in einfachen Worten die Geschichte des Pflanzenlebens. Ich erinnerte sie an das Getreide, die Bohnen, die Wassermelonenkerne, die sie im Frühjahr eingepflanzt hatte, und sagte ihr, daß das hohe Korn im Garten, die Bohnen und die Wassermelonenranken aus diesen Samenkörnern entstanden seien. Ich erklärte ihr, wie die Erde die Samenkörner warm und feucht erhält, bis die kleinen Blättchen stark genug sind, um sich an das Licht und an die Luft zu drängen, wo sie atmen und wachsen und blühen und weitere Samenkörner hervorbringen, aus denen wiederum andere Pflanzen, ihre Kinder, emporwachsen. Ich zog einen Vergleich zwischen dem Pflanzen- und dem Tierleben und sagte ihr, die Samenkörner seien genau solche Eier wie die Hühnereier und Vogeleier, die die Mutterhenne warm und trocken erhält, bis die kleinen Hühnchen ausschlüpfen. Ich machte ihr verständlich, daß alles Leben aus einem Ei komme. Die Vogelmutter legt ihre Eier in ein Nest und hält sie warm, bis die kleinen Vögelchen auskriechen. Die Fischmutter legt ihre Eier dorthin, wo sie feucht und sicher sind, bis die kleinen Fische ausschlüpfen. Ich erklärte ihr, sie könne das Ei als die Wiege des Lebens bezeichnen. Dann erzählte ich ihr, daß andere lebende Wesen wie der Hund und die Kuh und auch die Menschen ihre Eier nicht legten, sondern ihre Kinder in ihrem eigenen Leibe ernährten. Ich hatte keine Schwierigkeit, ihr klarzumachen, daß, wenn Pflanzen und Tiere nicht Nachkommen derselben Art hervorbrächten, sie bald aufhören würden zu existieren und daß dann bald alles in der Welt aussterben würde. Ueber die geschlechtlichen Funktionen ging ich so leicht wie möglich hinweg. Ich suchte ihr jedoch einen Begriff davon zu geben, daß die Liebe die große Fortpflanzerin des Lebens sei. Das Thema war schwierig und mein Wissen unzulänglich; aber ich freue mich, vor meiner Verantwortung[S. 245] nicht zurückgeschreckt zu sein, denn so stockend und unzureichend meine Erklärung auch gewesen sein mag, sie berührte verwandte Saiten in der Seele meines kleinen Zöglings, und die Leichtigkeit, mit der Helen die großen Tatsachen des physischen Lebens begriff, bestärkte mich in der Meinung, daß im Kinde bei seiner Geburt die gesamten Erfahrungen des Menschengeschlechts schlummernd vorhanden sind. Diese Erfahrungen sind wie photographische Negativs, bis die Sprache sie entwickelt und die Erinnerungsbilder hervorbringt.
4. September 1887.
Helen bekam heute morgen einen Brief von ihrem Onkel, dem Dr. Keller. Er lud sie ein, ihn einmal in Hot Springs zu besuchen. Der Name Hot Springs interessierte sie, und sie stellte mehrere Fragen, die darauf Bezug hatten. Sie kannte kalte Quellen, deren es mehrere in der Nähe von Tuscumbia gibt; unter ihnen befindet sich eine sehr starke, von der die Stadt ihren Namen hat. Tuscumbia bedeutet in der Sprache der Indianer »Starker Quell«. Aber sie war darüber erstaunt, daß heißes Wasser aus der Erde kommen sollte. Sie wünschte zu wissen, wer unter der Erde Feuer angemacht habe, ob es wie das Feuer in den Oefen sei und ob es die Wurzeln der Pflanzen und Bäume verbrenne.
Sie war über den Brief sehr erfreut, und nachdem sie alle erdenklichen Fragen an mich gerichtet hatte, nahm sie ihn mit zu ihrer Mutter, die nähend in der Vorhalle des Hauses saß, und las ihn ihr vor. Es war spaßhaft, sie zu sehen, wie sie den Brief vor ihre Augen hielt und die Sätze mit ihren Fingern herbuchstabierte, genau wie ich es getan hatte. Später versuchte sie ihn Belle (dem Hunde) und Mildred vorzulesen. Frau Keller und ich beobachteten diese Bemutterungskomödie von der Tür aus. Belle war schläfrig und Mildred unaufmerksam. Helen[S. 246] sah sehr ernst aus und zog ein paarmal, wenn Mildred versuchte, ihr den Brief wegzunehmen, die Hand ungeduldig zurück. Endlich stand Belle auf, schüttelte sich und wollte fortgehen, aber Helen packte sie am Nacken und nötigte sie, sich wieder hinzulegen. Inzwischen hatte Mildred den Brief ergriffen und kroch mit ihm davon. Helen fühlte auf dem Fußboden nach ihm; als sie ihn aber nicht fand, hatte sie augenscheinlich Mildred im Verdacht; denn sie stieß den leisen Ton aus, mit dem sie ihr Schwesterchen zu rufen pflegt. Dann erhob sie sich und stand eine Weile ganz still, als lausche sie mit ihren Füßen auf Mildreds »tapp, tapp«. Als sie erkannt hatte, aus welcher Richtung das Geräusch kam, eilte sie rasch auf die kleine Uebeltäterin zu und fand sie, wie sie an dem kostbaren Briefe herumkaute! Das war zuviel für Helen. Sie riß ihr den Brief weg und schlug ihr auf die Händchen, daß es nur so klatschte. Frau Keller nahm das Kind auf den Arm, und als es ihr gelungen war, es zu beruhigen, fragte ich Helen: Was hast du Baby getan? Sie sah ganz verlegen aus und zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Dann sagte sie: Wrong girl did eat letter. Helen did slap very wrong girl. Ich erwiderte ihr, Mildred sei noch sehr klein und wisse nicht, daß es unrecht sei, den Brief in den Mund zu stecken.
I did tell baby, no, no, much times, lautete Helens Antwort.
Ich entgegnete: Mildred versteht deine Finger nicht, und wir müssen sehr liebevoll mit ihr sein.
Sie schüttelte den Kopf. Baby — not think. Helen will give baby pretty letter, und damit lief sie die Treppe hinauf und brachte einen sauber zusammengefalteten Braillebogen mit, auf den sie einige Worte geschrieben hatte, und gab ihn Mildred mit den Worten: Baby can eat all words.
18. September 1887
Helen ist ein wunderbares Kind. Ich habe mir alles aufgezeichnet, was sie in der vergangenen Woche gesagt hat, und dabei gefunden, daß sie über sechshundert Wörter kennt. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß sie sie stets richtig gebraucht. Mitunter zeigt sich in ihren Sätzen ein vollständiger Wirrwarr, aber dieser findet sich bei allen Kindern, wenn sie den Versuch machen, ihre halbfertigen Vorstellungen mit Hilfe willkürlicher Sprachformen auszudrücken. Sie besitzt den richtigen Sprachtrieb und zeigt große Gewandtheit bei dem Anpassen des Ausdrucks an ihre Gedanken.
In der letzten Zeit hat sie großes Interesse an Farben bewiesen. Sie fand in ihrem Lesebuche das Wort »brown« und wollte seine Bedeutung wissen. Ich sagte ihr, ihr Haar sei braun, worauf sie fragte: Is brown verv pretty? Nachdem wir im ganzen Hause umhergegangen waren und ich ihr die Farbe jedes Gegenstandes, den sie berührte, angegeben hatte, schlug sie vor, nach den Hühnerställen und den Scheunen zu gehen; ich sagte ihr jedoch, sie müsse bis morgen warten, ich sei sehr müde. Wir saßen in der Hängematte; aber für die Ermüdete war hier an kein Ausruhen zu denken. Helen wollte durchaus »more colour« kennen lernen. Ich möchte gern wissen, ob sie eine unbestimmte Vorstellung von Farben — einen Erinnerungseindruck von Licht und Ton besitzt. Es scheint, als müsse ein Kind, das bis zu seinem neunzehnten Monat sehen und hören konnte, etwas von seinen ersten Eindrücken zurückbehalten haben, und sei dies auf noch so undeutliche Weise. Helen spricht viel von Dingen, die sie durch das Gefühl nicht hat wahrnehmen können. Sie stellt viele Fragen über den Himmel, Tag und Nacht, das Meer und die Berge. Sie hat es gern, wenn ich ihr mitteile, was ich auf Bildern sehe.
Aber ich scheine den Faden meiner Erzählung verloren zu haben. What colour is think? lautete eine der rastlosen Fragen, die sie an mich richtete, während wir uns in der Hängematte hin- und herschaukelten. Ich sagte ihr: Wenn wir froh sind, so sind unsere Gedanken heiter; sind wir aber unartig, so sind sie traurig. Rasch wie der Blitz antwortete sie: My think is white, Viney’s think is black. Sie sehen, sie glaubte, die Farbe unserer Gedanken entspräche unserer Hautfarbe.
3. Oktober 1887.
Ich hoffe, die kleinen Mädchen werden sich über Helens Brief[25] freuen. Sie hat ihn ganz allein geschrieben.
Sie spricht viel über das, was wir tun werden, wenn sie nach Boston geht. Eines Tages fragte sie: Who made all things and Boston? Sie sagt, Mildred würde nicht mitgehen, weil baby does cry all days.
25. Oktober 1887.
Helen hat gestern einen zweiten Brief an die kleinen Mädchen geschrieben,[26] und ihr Vater hat ihn an Herrn Anagnos geschickt. Sie hat jetzt begonnen, die Pronomina aus eigenem Antriebe anzuwenden. Heute früh sagte ich zu ihr: Helen will go upstairs. Sie lachte und antwortete: Teacher is wrong. You will go upstairs. Dies ist ein weiterer großer Fortschritt. So ist es stets. Was ihr gestern Mühe machte, fällt ihr heut äußerst leicht, und die Schwierigkeiten von heut sind morgen ein überwundener Standpunkt.
Es ist ein Genuß, die rasche Entwickelung von Helens Geist zu beobachten. Ich zweifle daran, ob irgend ein Lehrer jemals eine Aufgabe vor sich hatte, die sein Interesse so aus[S. 249]schließlich in Anspruch nahm. Es muß mir bei meiner Geburt ein glücklicher Stern geleuchtet haben, und ich beginne jetzt seinen wohltätigen Einfluß zu empfinden.
Oktober 1887.
Bevor dieser Brief in Ihre Hände gelangt, haben Sie wahrscheinlich schon Helens zweiten Brief an die kleinen Mädchen gelesen. Ich weiß es, der Fortschritt, den sie in der zwischen den beiden Briefen liegenden Zeit gemacht hat, muß unglaublich erscheinen. Nur wer täglich mit ihr verkehrt, kann sich eine Vorstellung von den raschen Fortschritten bilden, die sie in der Beherrschung der Sprache macht. Sie werden aus ihrem Briefe entnehmen, daß sie viele Pronomina ganz richtig gebraucht. In der Unterhaltung gebraucht sie selten eins falsch oder läßt es aus. Ihre Leidenschaft, Briefe zu schreiben und ihre Gedanken auf das Papier zu werfen, wird von Tag zu Tage stärker. Sie erzählt jetzt Geschichten, in denen die Phantasie eine bedeutende Rolle spielt. Ebenso beginnt sie jetzt einzusehen, daß sie nicht wie andere Kinder ist. Eines Tages fragte sie: What do my eyes do? Ich sagte ihr, ich könne die Gegenstände mit meinen Augen sehen und sie mit ihren Fingern.
Nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte, entgegnete sie: My eyes are bad! dann verbesserte sie dies in my eyes are sick.
Einige interessante Ergänzungen zu den Briefen finden sich in dem von Fräulein Sullivan für den offiziellen Jahresbericht des Perkinsschen Instituts für 1887 verfaßten zusammenhängenden Ueberblick über Helens bisherige Entwickelung. Nach Erwähnung der Szene am Brunnen (s. oben S. 225) heißt es weiter:
Demnächst kamen die örtlichen Präpositionen an die Reihe. Helens Kleid wurde in eine Truhe gelegt und dann auf diese,[S. 250] und ich buchstabierte ihr dann diese Präpositionen in die Hand. Den Unterschied zwischen in und on lernte sie sehr bald, obgleich es einige Zeit dauerte, ehe sie diese Wörter in selbständig gebildeten Sätzen gebrauchen konnte. Wenn es irgend möglich war, führte sie die Lektion mimisch durch; und es machte ihr großes Vergnügen, auf dem Stuhle zu stehen oder in den Kleiderschrank gestellt zu werden. In Verbindung mit dieser Lektion lernte sie die Namen der Familienmitglieder und das Wort is. Helen is in wardrobe, Mildred is in crib, Box is on table, Papa is on bed sind Beispiele von Sätzen, die von ihr Ende April gebildet wurden.
Nunmehr folgte eine Lektion über Adjectiva. Ich nahm einen großen, weichen Ball aus Wolle und eine Bleikugel. Helen begriff den Größenunterschied sofort. Als sie die Kugel in die Hand nahm, machte sie ihr gewöhnliches Zeichen für klein (s. S. 229); dann nahm sie einen wollenen Ball und machte das Zeichen für groß. Ich setzte die Adjectiva large und small an die Stelle dieser Zeichen. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Härte der Kugel und die Weichheit des Balles gelenkt, und sie lernte die Adjectiva soft und hard. Ein paar Minuten später befühlte sie den Kopf ihrer kleinen Schwester und sagte zu ihrer Mutter: Mildred’s head is small and hard. Demnächst suchte ich ihr den Unterschied zwischen »schnell« und »langsam« klarzumachen. Sie half mir eines Tages Wolle wickeln, zuerst rasch und dann langsam. Dann sagte ich zu ihr mittels des Fingeralphabets: Wind fast oder wind slow, indem ich ihr dabei die Hände hielt und zeigte, wie sie es machen sollte. Am nächsten Tage buchstabierte sie mir während der Turnübungen in die Hand: Helen wind fast und begann rasch zu gehen. Dann sagte sie: Helen wind slow und paßte ihre Bewegungen wiederum den Worten an.
Ich hielt nun die Zeit für gekommen, sie gedruckte Wörter lesen zu lehren. Ein Pappstreifen, auf dem in erhöhten Buchstaben das Wort box gedruckt war, wurde auf den betreffenden Gegenstand gelegt und derselbe Versuch bei einer großen Menge anderer Dinge wiederholt; aber Helen begriff nicht sofort, daß das auf den Gegenstand gelegte Wort diesen selbst bezeichne. Dann nahm ich einen Bogen mit dem Alphabet und legte ihren Finger auf den Buchstaben A, indem ich zugleich mit meinen Fingern ihr A in die Hand buchstabierte. Sie bewegte ihren Finger von einem gedruckten Buchstaben zum anderen, sowie ich ihr den einzelnen Buchstaben in die Hand buchstabierte. Sie lernte alle Buchstaben, große und kleine, an einem Tage. Dann nahm ich die erste Seite der Fibel vor und ließ sie das Wort cat befühlen, indem ich es ihr zu gleicher Zeit mit meinen Fingern zubuchstabierte. Sie verstand mich sofort und bat mich dog und viele andere Wörter aufzusuchen. Auch war sie sehr enttäuscht, weil ich ihren Namen in dem Buche nicht finden konnte. Damals hatte ich noch keine Sätze in Hochdruck, die sie hätte verstehen können; aber sie konnte stundenlang dasitzen und jedes Wort in ihrem Buche befühlen. Stieß sie auf eines, das ihr bekannt war, so nahm ihr Gesicht einen wahrhaft strahlenden Ausdruck an, und ihre Züge wurden von Tag zu Tag sanfter und ernster. Um diese Zeit sandte ich ein Verzeichnis der ihr bekannten Wörter an Herrn Anagnos, und er hatte die große Güte, sie für Helen in Hochdruck herzustellen. Frau Keller und ich schnitten mehrere Bogen mit gedruckten Wörtern auseinander, sodaß Helen die Wörter zu Sätzen aneinanderreihen konnte. Dies machte ihr mehr Vergnügen als alles, was sie bisher getan hatte, und die so gewonnene Uebung erleichterte ihr das Erlernen des Schreibens. Es hielt nicht schwer, ihr klarzumachen, daß sie dieselben Sätze, die sie jeden Tag mit Hilfe der Pappstreifen bildete, auch mit Bleistift auf[S. 252] Papier schreiben könne, und sie begriff sehr bald, daß sie sich nicht auf die schon erlernten Redewendungen zu beschränken brauche, sondern jeden Gedanken, der ihr durch den Kopf ging, damit ausdrücken könne. Ich legte ihr eine von den Schreibtafeln, wie sie von den Blinden benutzt werden, zwischen die Bogen Papier auf dem Tische und ließ sie ein Alphabet der quadratischen Buchstaben, wie sie sie schreiben konnte, befühlen. Dann führte ich ihr die Hand und half ihr den Satz bilden: Cat does drink milk. Als die damit fertig war, war sie überglücklich und brachte ihn freudestrahlend ihrer Mutter, die ihn ihr in die Hand buchstabierte.
Tag für Tag bewegte sie nun ihren Bleistift in denselben vorgezeichneten Linien auf dem Papier entlang, ohne auch nur einen Augenblick die geringste Ungeduld oder Ermüdung zu verraten.
Da sie nunmehr gelernt hatte, ihre Gedanken schriftlich auszudrücken, unterrichtete ich sie in der Brailleschrift. Das Erlernen des Systems machte ihr Freude, da sie bald entdeckte, sie könne jetzt selbst lesen, was sie geschrieben habe. Ganze Abende kann sie still am Tische sitzen und niederschreiben, was ihr in das lebhaft arbeitende Gehirn kommt, und es fällt mir selten schwer, zu lesen, was sie geschrieben hat.
Ihre Fortschritte im Rechnen sind gleichfalls bedeutend. Sie kann mit großer Schnelligkeit bis zur Summe von hundert addieren und subtrahieren, und in der Multiplikation kennt sie das Einmaleins bis zur Fünferreihe. Kürzlich beschäftigte sie sich mit der Zahl vierzig; als ich zu ihr sagte: Dividiere sie durch zwei, antwortete sie unverzüglich: zwanzigmal zwei ist vierzig. Später sagte ich: Nimm drei fünfzehnmal und zähle, was herauskommt. Ich wünschte, sie sollte Gruppen von je drei Steinen bilden und glaubte, sie würde sie dann zählen müssen, um herauszubekommen, wieviel fünfzehnmal drei ist.[S. 253] Aber sie buchstabierte mir sofort die Antwort zu: Fünfzehnmal drei ist fünfundvierzig.
Als ihr einmal gesagt wurde, sie sei weiß und eine der Dienerinnen schwarz, folgerte sie, daß alle, die eine ähnliche Lebensstellung innehätten, von derselben Farbe seien, und wenn sie nach der Farbe eines Dienstboten gefragt wurde, antwortete sie stets: schwarz. Als die einmal nach der Farbe jemandes gefragt wurde, dessen Stand ihr unbekannt war, schien sie nicht recht zu wissen, was sie sagen sollte, und entgegnete endlich: blau.
Obgleich ihr niemals etwas vom Tode oder vom Begräbnis gesagt worden war, so legte sie doch, als sie zum erstenmal in ihrem Leben mit ihrer Mutter und mir einen Kirchhof betrat, auf dem wir uns die Blumen ansehen wollten, ihre Hand auf unsere Augen und buchstabierte wiederholt: Cry—cry. Ihre Augen füllten sich in der Tat mit Tränen. Die Blumen schienen ihr keine Freude zu machen, und sie war ganz still, während wir dort blieben.
Als sie bei einer anderen Gelegenheit mit mir spazieren ging, schien sie sich der Anwesenheit ihres Bruders bewußt zu sein, obgleich wir noch weit von ihm entfernt waren. Sie buchstabierte mir wiederholt seinen Namen in die Hand und lief nach der Richtung, aus der er kam.
Beim Spazierengehen oder Reiten gibt sie oft die Namen der Personen, denen wir begegnen, sofort an, sobald wir sie bemerken.
13. November 1887.
Wir nahmen Helen mit in den Zirkus und verlebten ein paar köstliche Stunden! Das Zirkuspersonal interessierte sich sehr für Helen und tat alles, was in seinen Kräften stand, um ihr ihren ersten Zirkusbesuch zu einem denkwürdigen Ereignis[S. 254] zu machten. Sie durfte die Tiere berühren, wenn dies ohne Gefahr geschehen konnte. Sie fütterte die Elefanten, kletterte auf den Rücken des größten von ihnen und setzte sich auf den Schoß der »orientalischen Prinzessin«, während der Elefant majestätisch im Kreise herumschritt. Sie betastete einige junge Löwen. Sie waren so niedlich wie Kätzchen, aber ich sagte ihr, sie würden wild und grimmig, wenn sie älter würden. Sie sagte zu dem Wärter: I will take the baby lions home and teach them to be mild. Der Bärenwärter ließ einen seiner riesigen schwarzen Pflegebefohlenen sich auf die Hinterfüße aufrichten und uns seine mächtige Tatze entgegenstrecken, die Helen höflich schüttelte. An den Affen hatte sie ihre helle Freude, sie legte ihre Hand auf den Hauptdarsteller, während er seine Kunststücke machte, und lachte herzlich, als er seinen Hut vor dem Publikum abnahm. Ein kleiner schlauer Bursche stahl ihr das Haarband, und ein andrer suchte ihr die Blumen vom Hute zu reißen. Ich weiß nicht, wer sich köstlicher amüsierte, die Affen, Helen oder die Zuschauer. Einer der Leoparden leckte ihr die Hände, und der Giraffenwärter hob sie in seinen Armen so hoch empor, daß sie die Ohren der Tiere anfassen und sehen konnte, wie groß die Giraffen selbst waren. Sie betastete auch einen griechischen Streitwagen, und der Lenker würde sie gern in der Arena herumgefahren haben, aber sie fürchtete sich vor den vielen schnellen Pferden. Die Kunstreiter, Clowns und Seiltänzer freuten sich alle, wenn das kleine blinde Mädchen ihre Kostüme befühlte und ihren Bewegungen mit den Händen folgte, sofern dies möglich war, und sie küßte sie alle, um ihnen ihre Dankbarkeit zu zeigen. Einige von ihnen weinten, und sogar der Menschenfresser aus Borneo war gerührt von ihrem lieblichen Gesichtchen. Seitdem hat sie von nichts anderem gesprochen als vom Zirkus. Um ihre Fragen zu beantworten, war ich genötigt, viel über Tiere zu lesen.
12. Dezember 1887.
Ich kann mir kaum vorstellen, daß Weihnachten vor der Türe steht, trotzdem Helen von nichts anderem spricht. Wissen Sie noch, wie glücklich wir das Fest voriges Jahr verlebten?
Helen kennt jetzt die Zeiteinteilung, und ihr Vater will ihr eine Uhr zu Weihnachten schenken.
Wie jedes hörende Kind, das ich kenne, wünscht auch Helen fortwährend, daß man ihr Geschichten erzähle. Ich habe ihr die Geschichte von dem kleinen Rotkäppchen so oft erzählen müssen, daß ich fast glaube, ich könnte sie von rückwärts her aufsagen. Sie liebt Geschichten, über die sie weinen muß — ich glaube, es geht uns allen so — es ist so angenehm, sich traurig zu fühlen, wenn man keinen besonderen Grund hat, traurig zu sein. Ebenso lehre ich Helen kleine Gedichte und Verschen. Sie prägen ihrem Gedächtnis Gedanken in schöner Form ein. Auch glaube ich, daß sie die Entwickelung aller Anlagen des Kindes fördern, weil sie die Phantasie anregen. Natürlich lasse ich mich nicht darauf ein, alles zu erklären. Wenn ich es täte, würde kein Raum für das freie Spiel der Phantasie bleiben. Zuweit gehende Erläuterungen lenken die Aufmerksamkeit des Kindes auf Wörter und Sätze, sodaß es ihm unmöglich wird, den Gedankengang im ganzen aufzufassen.
1. Januar 1888.
Es ist etwas Großes, das Bewußtsein zu haben, daß man einigen Nutzen auf der Welt stiftet, daß man jemand notwendig ist. Der Umstand, daß die Sorge für Helen fast in jeder Hinsicht auf mir allein ruht, macht mich stark und glücklich.
Die Weihnachtswoche war auch hier eine sehr geschäftige. Helen ist zu allen Kindergesellschaften eingeladen, und ich begleite sie zu so vielen, wie ich irgend kann. Ich wünsche, daß sie Kinder kennen lernt und möglichst viel mit ihnen verkehrt. Ver[S. 256]schiedene kleine Mädchen haben das Buchstabieren mit den Fingern erlernt und sind sehr stolz auf ihre Leistung.
Sonnabend begann es nach dem Mittagessen zu schneien; wir machten einen fröhlichen Spaziergang durch den Garten und sprachen viel über den Schnee. Sonntag morgen war die ganze Gegend verschneit, und Helen, die Kinder der Köchin und ich warfen uns mit Schneebällen. Nachmittags war alles geschmolzen. Es war der erste Schnee, den ich hier gesehen habe, und er erregte mir etwas Heimweh. Die Weihnachtszeit hat Stoff zu vielen Lektionen geliefert und Helens Wortschatz um eine große Menge neuer Ausdrücke bereichert.
Wochenlang taten wir nichts, als daß wir über Weihnachten sprachen, lasen und Geschichten erzählten. Natürlich mache ich keinen Versuch, sämtliche neuen Wörter zu erklären; auch versteht Helen die kleinen Geschichten, die ich ihr erzähle, nicht ganz; aber die beständige Wiederholung prägt die Wörter und Sätze dem Gedächtnis ein, und nach und nach wird ihr der Sinn schon klar werden. Meines Erachtens ist es widersinnig, zum Zwecke des Erlernens der Sprache »Konversation« zu treiben. Dies wirkt auf Schüler und Lehrer gleich verdummend und geisttötend. Das Sprechen soll natürlich vor sich gehen und dem Gedankenaustausch dienen. Hat das Kind aus sich selbst nichts mitzuteilen, so erscheint es nicht der Mühe wert, von ihm zu verlangen, es solle abgerissene trockene Sätze über »die Katze«, »den Vogel«, »einen Hund« an die Wandtafel schreiben oder mit seinen Fingern abbuchstabieren. Es ist von Anfang an mein Bestreben gewesen, mit Helen persönlich zu sprechen und sie anzuhalten, mir nur das zu erzählen, was sie wirklich interessiert, und Fragen nur zu dem Zwecke zu stellen, um zu erfahren, was sie wirklich zu wissen wünscht. Wenn ich bemerke, daß sie mir gern etwas erzählen möchte, daß ihr aber die nötigen Worte dazu fehlen, so ergänze ich[S. 257] das Nötige, und so gelangen wir vollständig zu unserem Ziele. Helens Eifer und Interesse helfen ihr über viele Hindernisse hinweg, die unübersteiglich sein würden, wenn wir uns damit aufhielten, alles zu erklären und zu definieren.
Es war rührend, zu sehen, wie sich Helen über ihr erstes Weihnachtsfest freute. Selbstverständlich hängte sie ihren Strumpf auf — sogar zwei, denn einen hätte Santa Claus übersehen können — und lag lange Zeit wach, stand auch mehrere Male auf, um zu sehen, ob sich nichts ereignet habe. Als ich ihr erklärte, Santa Claus käme nicht eher, als bis sie eingeschlafen sei, schloß sie ihre Augen und erwiderte: He will think, girl is asleep. Am Morgen wachte sie von der ganzen Familie zuerst auf und lief zum Kamine, um nach ihren Strümpfen zu sehen, und als sie fand, daß Santa Claus beide Strümpfe gefüllt habe, tanzte sie ein Weilchen vor Freude herum; dann aber wurde sie ganz still und kam zu mir, um mich zu fragen, ob Santa Claus sich auch nicht geirrt und geglaubt habe, es seien zwei kleine Mädchen da, und ob er wiederkommen und die Geschenke wieder abholen würde, wenn er seinen Irrtum erkannt hätte. Der Ring, den Sie ihr geschickt haben, steckte in der Spitze des Strumpfes, und als ich ihr erzählte, Sie hätten ihn Santa Claus für sie gegeben, erwiderte sie: I do love Mrs. Hopkins. Sie hatte eine Truhe und Kleider für Nancy bekommen und erklärte sofort: Now Nancy will go to party. Als sie den Braillegriffel und das Papier entdeckte, sagte sie: I will write many letters, and I will thank Santa Claus very much. Offenbar war jedermann, namentlich Herr und Frau Hauptmann Keller, tief bewegt bei dem Gedanken an den Unterschied zwischen dieser glücklichen Weihnachtsfeier und der im vorigen Jahre, da ihr kleines Mädchen noch keinen bewußten Anteil an dem Feste genommen hatte. Als wir die Treppe herunterkamen, sagte Frau Keller[S. 258] zu mir mit Tränen in den Augen: Fräulein Annie, ich danke Gott jeden Tag meines Lebens dafür, daß er Sie uns gesandt hat; aber erst heute früh habe ich so recht erkannt, was für ein Segen Sie für uns geworden sind. Hauptmann Keller ergriff meine Hand, vermochte aber nicht zu sprechen. Aber sein Schweigen war beredter als Worte. Auch mein Herz war voller Dankbarkeit und heiliger Freude.
Eines Tages stieß Helen auf das Wort grandfather in einer kleinen Geschichte, und sie fragte ihre Mutter: Where is grandfather? womit sie ihren Großvater meinte. Frau Keller antwortete: He is dead. Helen fragte: Did father shoot him? und fügte hinzu: I will eat grandfather for dinner. Bis jetzt steht ihre einzige Kenntnis vom Tode in Verbindung mit eßbaren Dingen. Sie weiß, daß ihr Vater Rebhühner, Hirsche und anderes Wildbret schießt.
Heute morgen fragte sie mich nach der Bedeutung von carpenter, und diese Frage lieferte uns den Stoff für unsere Unterrichtsstunde. Nachdem wir über die verschiedenen Gegenstände, die die Zimmerleute anfertigen, gesprochen hatten, fragte sie mich: Did carpenter make me? und buchstabierte rasch, ehe ich antworten konnte: No, no, photographer made me in Sheffield.
In Sheffield war einer der großen Hochöfen angeblasen worden, und wir fuhren eines Abends hinüber, um uns einen Guß anzusehen. Helen fühlte die Hitze und fragte: Did the sun fall?
26. Januar 1888.
Hoffentlich haben Sie Helens Brief erhalten. Denken Sie sich, die kleine Spitzbübin hat es sich in den Kopf gesetzt, nicht mehr mit Bleistift schreiben zu wollen. Sie sollte heut morgen an Onkel Frank schreiben, hatte aber keine Lust dazu und sagte: Pencil is very tired in head. I will write Uncle[S. 259] Frank braille letter. Auf meinen Einwand, Onkel Frank könne doch die Brailleschrift nicht lesen, erwiderte sie: I will teach him. Ich setzte ihr auseinander, Onkel Frank sei alt und könne die Brailleschrift nicht so leicht erlernen. Sofort antwortete sie jedoch: I think Uncle Frank is much old to read very small letters. Endlich brachte ich sie dazu, einige Zeilen zu schreiben, aber sie brach die Bleistiftspitze sechsmal ab, ehe sie fertig wurde. Ich sagte zu ihr: Du bist ein unartiges Mädchen, aber sie entgegnete: No, pencil is very weak. Ich glaube, ihr Widerwille gegen das Schreiben mit Bleistift läßt sich leicht daraus erklären, daß sie soviel zur Probe für Bekannte und Fremde hat schreiben müssen. Sie wissen, wie widerwärtig dies den Kindern im Institut ist. Es ist mühsam, weil es so langsam von statten geht und sie nicht lesen können, was sie geschrieben haben, um die Fehler zu verbessern.
Helen interessiert sich immer mehr für Farben. Als ich ihr sagte, Mildreds Augen seien blau, fragte sie: Are they like wee skies? Bald nachdem ich ihr gesagt hatte, eine Nelke, die ihr geschenkt worden war, sei rot, warf sie ihre Lippen auf und sagte: lips are like one pink. Ich kann mir nicht denken, daß die Eindrücke von Farben, die sie während der ersten achtzehn Monate ihres Lebens, in denen sie sehen und hören konnte, erhalten hat, gänzlich verschwunden sein sollen. Alles, was wir gesehen und gehört haben, bleibt an irgend einer Stelle des Gedächtnisses haften. Es mag zu unbestimmt und verworren sein, um deutlich wiedererkannt zu werden, aber es ist nichtsdestoweniger vorhanden wie die Landschaft, die wir bei hereinbrechender Dämmerung aus dem Gesicht verlieren.
10. Februar 1888.
Gestern abend kamen wir nach Hause. Wir haben eine köstliche Zeit in Memphis verlebt, aber ich kam wenig zur Ruhe.[S. 260] Nichts als Aufregung vom frühen Morgen bis zum späten Abend — Ausflüge, Einladungen zu Tisch, Besuche und alles, was drum und dran hängt, wenn man ein lebhaftes, unermüdliches Kind wie Helen stets um sich hat. Sie sprach unaufhörlich. Ich weiß nicht, was ich hätte tun sollen, wenn nicht einige junge Leute gelernt hätten, sich mit Helen zu unterhalten. Sie erleichterten mir meine Aufgabe soviel wie möglich. Aber selbst so habe ich niemals eine ruhige halbe Stunde für mich gehabt. Immer hieß es: Ach, Fräulein Sullivan, kommen Sie doch, bitte, her und sagen Sie uns, was Helen meint — oder: Fräulein Sullivan, wollen Sie nicht die Güte haben, dies Helen auseinanderzusetzen. Wir können es ihr nicht verständlich machen. — Ich glaube, die halbe weiße Bevölkerung von Memphis sprach bei uns vor. Helen wurde gehätschelt und geliebkost, daß ein Engel dadurch hätte verwöhnt werden können; aber ich glaube nicht, daß es möglich ist, sie zu verwöhnen; sie hat dafür ein viel zu naives Empfinden.
Es gibt viele gute Geschäfte in Memphis, und ich habe alles Geld ausgegeben, das ich bei mir hatte. Eines Tages sagte Helen: I must buy Nancy a very pretty hat. Sie besaß einen Silberdollar und ein Zehncentstück. Als wir in dem Laden waren, fragte ich sie, wieviel sie für Nancys Hut ausgeben wolle. Sie antwortete rasch: I will pay ten cents. Auf meine Frage, was sie mit dem Dollar machen wolle, erwiderte sie: I will buy some good candy to take to Tuscumbia.
Wir besuchten die Börse und ein Dampfboot. Für dieses letztere interessierte sich Helen ungemein und ließ sich alles zeigen von der Maschine an bis zur Flagge auf dem Top.
Dr. Bell schreibt in einem Briefe an Hauptmann Keller, daß Helens Fortschritte in der Geschichte der Taubstummenerziehung ganz beispiellos seien, und sagt viel Artiges über ihre Lehrerin. Dr. Edward Everett Hale beruft sich auf seine[S. 261] Verwandtschaft mit Helen und scheint auf seine kleine Nichte sehr stolz zu sein.
5. März 1888.
Ich konnte meinen Brief gestern nicht beenden. Fräulein Eva half mir bei der Anfertigung eines Verzeichnisses der Wörter, die Helen gelernt hat. Wir bekamen eine Zahl von 900 heraus. Ich hatte Helen am 1. März ein Tagebuch eingerichtet. Ich weiß nicht, wie lange sie es fortführen wird. Meines Erachtens ist es ein ziemlich törichtes Unternehmen. Augenblicklich macht es ihr aber großen Spaß. Sie scheint es zu lieben, alles niederzuschreiben, was sie weiß. Am Sonntag trug sie folgendes ein:
Ich stand auf, wusch mir Gesicht und Hände, kämmte mein Haar und pflückte drei Veilchen für Lehrerin und aß mein Frühstück. Nach dem Frühstück spielte ich kurze Zeit mit Puppen. Nancy war ungezogen. Ungezogen ist schreien und mit den Füßen stoßen (Cross is cry and kick). Ich las in meinem Buch von großen, wilden Tieren. Wild ist sehr ungezogen und stark und sehr hungrig (Fierce is much cross and strong and very hungry). Ich liebe wilde Tiere nicht. Ich schrieb Brief an Onkel James. Er wohnt in Hotsprings. Er ist Doktor. Doktor macht krankes Mädchen gesund. Ich bin nicht gern krank (I do not like sick). Dann aß ich mein Mittagbrot. Ich esse sehr gern viel Eiskreme (I like much icecream very much). Nach dem Mittagessen fuhr Vater auf Zug nach Birmingham. Ich hatte Brief von Robert. Er liebt mich. Er sagt: Liebe Helen, Robert freute sich, einen Brief von lieber, süßer, kleiner Helen zu bekommen. Ich werde kommen und dich besuchen, wenn die Sonne scheint. Frau Newsum ist Roberts Frau. Robert ist ihr Mann. Robert und ich werden laufen und springen und hüpfen und tanzen und schaukeln und von Vögeln und Blumen und Bäumen sprechen, und Jumbo und Pearl werden mit uns[S. 262] gehen. Lehrerin wird sagen: Wir sind dumm. Sie ist spaßhaft. Spaßhaft macht uns lachen (Funny makes us laugh). Natalie ist gutes Mädchen und schreit nicht. Mildred schreit. Sie wird in vielen Tagen ein hübsches Mädchen sein und mit mir laufen und spielen. Frau Graves macht kurze Kleider für Natalie. Herr Mayo ging nach Duckhill und brachte viele hübsche Blumen nach Hause. Herr Mayo und Herr Farris und Herr Graves lieben mich und Lehrerin. Ich gehe bald nach Memphis, um sie zu besuchen, und sie werden mich herzen und küssen. Thornton geht zur Schule und macht sein Gesicht schmutzig. Knabe muß sehr sorgsam sein. Nach dem Abendessen spielte ich Balgen mit Lehrerin im Bett. Sie begrub mich unter den Kissen, und dann wuchs ich sehr langsam wie ein Baum aus der Erde empor. Nun will ich zu Bett gehen.
Helen Keller.
16. April 1888.
Soeben kommen wir aus der Kirche zurück. Hauptmann Keller sagte mir heut beim Frühstück, ich möchte doch heut Helen mit zur Kirche nehmen. Das gesamte Presbyterium würde heut versammelt sein, und er wünsche, daß die Geistlichen Helen kennen lernten. Die Sonntagsschule war im vollen Gange, als wir ankamen, und ich wünschte, Sie hätten das Aufsehen bemerken können, das Helens Eintritt erregte. Die Kinder freuten sich so, sie in der Sonntagsschule zu erblicken, daß sie ihren Lehrern keine Aufmerksamkeit mehr schenkten, sondern ihre Plätze verließen und uns umringten. Helen küßte sie alle, Knaben und Mädchen, mochten sie wollen oder nicht. Anfangs schien sie zu glauben, daß die Kinder sämtlich den fremden Geistlichen gehörten; aber bald erkannte sie unter ihnen einige kleine Freunde, und ich erzählte ihr, daß die Geistlichen ihre Kinder nicht mitgebracht hätten. Sie sah ent[S. 263]täuscht aus und sagte dann: I’ll send them many kisses. Einer der Geistlichen bat mich, Helen zu fragen, was nach ihrer Meinung die Geistlichen täten. Sie erwiderte: They read and talk loud for people to be good. Er schrieb sich diese ihre Antwort in sein Notizbuch. Als der Gottesdienst begann, geriet Helen in eine solche Aufregung, daß ich es für das beste hielt, sie aus der Kirche hinauszuführen, aber Hauptmann Keller sagte: Lassen Sie nur; es wird schon gehen. So blieb mir nichts übrig, als auszuharren. Es war unmöglich, Helen zu bewegen, sich ruhig zu verhalten. Sie herzte und küßte mich und den ernst blickenden Geistlichen, der auf der anderen Seite neben ihr saß. Er gab ihr seine Uhr zum Spielen, aber dies brachte sie nicht zur Ruhe; sie wollte sie durchaus dem kleinen Knaben zeigen, der hinter uns saß. Als die Abendmahlsfeier begann, roch sie den Wein und schnüffelte so laut, daß jedermann in der Kirche es hören konnte. Als der Wein unserem Nachbar gereicht wurde, mußte er aufstehen, um zu verhüten, daß sie ihm den Kelch wegnahm. Ich saß wie auf Nadeln und war froh, als wir die Kirche verlassen konnten. Ich suchte Helen rasch hinauszudrängen, aber sie hielt ihren Arm ausgestreckt, und jeder Geistliche, den sie berührte, mußte sich umdrehen und die Anzahl der Kinder angeben, die er zu Hause gelassen hatte, und die entsprechende Menge Küsse in Empfang nehmen. Jedermann lachte über ihre Possen, und man hätte eher glauben können, in einem Vergnügungslokale zu sein als in einer Kirche. Hauptmann Keller lud einige der Geistlichen zu Tisch ein. Helen war ganz außer Rand und Band. Sie beschrieb in den lebhaftesten Pantomimen, die sie durch Buchstabieren zu ergänzen suchte, was sie in Brewster tun wolle. Endlich stand sie vom Tisch auf und tat so, als sammle sie Seetang und Muscheln auf und wate im Wasser umher, wobei sie ihre Röcke höher aufhob, als es unter den gegenwärtigen Umständen[S. 264] schicklich war. Dann warf sie sich zu Boden und begann so energische Schwimmbewegungen zu machen, daß ein Teil der Gäste fürchtete, von den Stühlen gestoßen zu werden. Ihre Bewegungen sind oft ausdrucksvoller als alle Worte, und sie ist so anmutig wie eine Nymphe.
Ich möchte gern wissen, ob Ihnen auch die Zeit so unendlich lang wird wie mir. Wir sprechen und planen und träumen von nichts als von Boston, Boston, Boston. Ich glaube, Frau Keller hat sich jetzt endgültig entschlossen, uns zu begleiten, aber sie will nicht den ganzen Sommer über bleiben.
15. Mai 1888.
Wissen Sie, daß dies der letzte Brief ist, den ich Ihnen auf lange, lange Zeit hinaus schreibe? Das nächste Wort, das Sie von mir erhalten, wird ein Telegramm sein, das Ihnen meldet, wann wir in Boston eintreffen. Ich bin zu glücklich, um Briefe zu schreiben; aber ich muß Ihnen von unserem Besuche in Cincinnati erzählen.
Wir haben eine genußreiche Woche bei den »Doktoren« verlebt. Dr. Keller war uns bis Memphis entgegengefahren. Fast jedermann im Zuge war ein Arzt, und Dr. Keller schien sie alle zu kennen. Als wir in Cincinnati anlangten, fanden wir die Stadt mit Doktoren angefüllt. Es befanden dich mehrere hervorragende Aerzte aus Boston unter ihnen. Wir stiegen in Burnet House ab. Jedermann war von Helen entzückt. All die gelehrten Herren bewunderten ihre Intelligenz und Heiterkeit. Sie hat etwas an sich, was die Leute fesselt. Ich glaube, es ist ihr freudiges Interesse, das sie an allem und an jedermann nimmt.
Wo wir auch waren, stets bildete sie den Mittelpunkt der Gesellschaft. Sie war von dem Orchester im Hotel entzückt, und als das Konzert begann, tanzte sie im ganzen Saale[S. 265] herum und herzte und küßte jeden, der ihr in den Wurf kam. Ihre Fröhlichkeit steckte alle an; keinem erschien sie bemitleidenswert. Ein Herr sagte zu Dr. Keller: Ich habe lange gelebt und viele glückliche Gesichter gesehen, aber noch nie ein so strahlendes wie das dieses Kindes. Ein anderer sagte: Weiß Gott, ich würde alles, was ich auf der Welt besitze, darum geben, wenn ich dieses kleine Mädchen beständig um mich haben könnte. Dr. Garcelon holte uns eines Nachmittags zu einem Ausfluge ab und wollte Helen eine Puppe kaufen; aber sie sagte: I do not like too many children. Nancy is sick, and Adline is cross, and Ida is very bad. Wir lachten, daß uns die Tränen in die Augen traten, so ernst sah sie dabei aus. Was möchtest du denn sonst haben? fragte der Doktor. Some beautiful gloves to talk with, antwortete sie. Der Doktor war ganz erstaunt, da er noch nie etwas von »sprechenden Handschuhen« gehört hatte; ich erklärte ihm aber, Helen habe Handschuhe mit darauf gedrucktem Alphabet gesehen und glaube offenbar, sie könnten gekauft werden. Ich sagte ihm, er könne ein Paar Handschuhe kaufen, wenn er wolle, und ich würde dann das Alphabet darauf pressen lassen.
Wir frühstückten mit Herrn Thayer (Ihrem früheren Seelsorger) und seiner Gattin. Er fragte mich, in welcher Weise ich Helen die Adjektiva und die Bezeichnungen für abstrakte Begriffe, wie Güte und Glück, beigebracht hätte. Diese selben Fragen sind mir wohl hundertmal von den gelehrten Doktoren vorgelegt worden. Es kommt mir sonderbar vor, daß man sich über etwas wundert, was doch in der Tat so einfach ist. Gewiß ist es ebenso leicht, dem Kinde die Bezeichnung für einen Begriff beizubringen, der ihm klar vor der Seele steht, wie die Bezeichnung für einen Gegenstand. Allerdings würde es eine Herkulesarbeit sein, Wörter zu lehren, wenn die betreffenden Vorstellungen nicht schon in der Seele des Kindes vorhanden[S. 266] wären. Wenn seine Erfahrungen und Beobachtungen ihm nicht zu den Begriffen »groß«, »klein«, »gut«, »schlecht«, »süß«, »sauer«, verholfen hätten, so würde es nichts mit diesen Wortgebilden verbinden können.
Ich dummes Ding fand mich in die Lage versetzt, den aus Ost und West versammelten Weisen so einfache Dinge wie die folgenden klarmachen zu müssen: Wenn Sie einem Kinde etwas Süßes geben, und es seine Zunge bewegt, sich die Lippen leckt und ein vergnügtes Gesicht macht, so hat es eine ganz bestimmte Empfindung, und wenn es jedesmal, so oft es diese Empfindung hat, das Wort »süß« hört oder in die Hand buchstabiert bekommt, so wird es rasch diese willkürliche Bezeichnung für diese Empfindung annehmen. Legen Sie ihm dagegen ein Stück Citrone auf die Zunge, so wirft es die Lippen auf und versucht es auszuspucken, und wenn es diese Erfahrung ein paarmal gemacht hat, so schließt es seinen Mund und verzieht sein Gesicht, wenn man ihm eine Citrone zeigt, und gibt dadurch deutlich zu verstehen, daß es sich der unangenehmen Empfindung erinnert. Sie nennen diese »sauer«, und das Kind nimmt diese Bezeichnung an. Hätten Sie diese Empfindungen »schwarz« und »weiß« genannt, so würde das Kind diese Bezeichnungen ebensoleicht akzeptiert haben; aber es würde unter »schwarz« und »weiß« genau dasselbe verstehen, was es jetzt unter »süß« und »sauer« versteht. Auf diese Weise lernt das Kind aus einer Reihe von Erfahrungen den Unterschied seiner Empfindungen kennen, und wir benennen sie »gut«, »schlecht«, »freundlich«, »rauh«, »froh«, »traurig«. Nicht das Wort, sondern das Vermögen, sich der Empfindung bewußt zu werden, ist es, worauf es bei der Erziehung ankommt.
Folgender Auszug aus einem von Fräulein Sullivans Briefen enthält interessante pädagogische Betrachtungen:
Wir besuchten eine kleine Taubstummenschule. Wir wurden sehr freundlich aufgenommen, und Helen freute sich, mit Kindern zusammenzusein.
Zwei von den Lehrern kannten das Fingeralphabet und sprachen ohne Dolmetscher mit ihr. Sie waren erstaunt, in welchem Grade sie die Sprache beherrschte. Kein einziges Kind in der Schule, versicherten sie, besäße eine ähnliche Gewandtheit des Ausdrucks, und einige von ihnen würden schon zwei bis drei Jahre unterrichtet. Ich wollte dies zuerst nicht glauben; nachdem ich aber die Kinder ein paar Stunden bei ihren Arbeiten beobachtet hatte, erkannte ich, daß man mir die Wahrheit gesagt hatte, und ich wunderte mich nicht mehr darüber. In einem Zimmer standen einige kleine Knirpse und bildeten im Schweiße ihres Angesichts »einfache Sätze«. Ein kleines Mädchen hatte geschrieben: Ich habe ein neues Kleid. Es ist ein hübsches Kleid. Meine Mama hat mein hübsches, neues Kleid gemacht. Ich liebe Mama. — Ein kleiner Knabe mit einem Lockenkopf schrieb soeben: Ich habe einen großen Ball. Ich liebe es, meinen großen Ball mit dem Fuße zu stoßen. — Als wir in das Zimmer traten, richtete sich die Aufmerksamkeit der Kinder auf Helen. Eins von ihnen faßte mich am Aermel und sagte: Mädchen ist blind. Die Lehrerin schrieb an die Wandtafel: Der Name des Mädchens ist Helen. Sie ist taubstumm. Sie kann nicht sehen. Wir bedauern sie sehr. Ich fragte: Warum schreiben Sie diese Sätze an die Tafel? Würden die Kinder es nicht verstehen, wenn Sie zu ihnen über Helen sprächen? Die Lehrerin sagte etwas über die Erlernung der richtigen Satzkonstruktion und fuhr in ihrer schriftlichen Stilübung über Helen fort. Ich fragte sie, ob das kleine Mädchen, das über das neue Kleid geschrieben hatte, sich wirklich so besonders über ihr Kleid gefreut habe. — Nein, antwortete sie, ich glaube nicht, aber Kinder lernen besser,[S. 268] wenn sie über etwas schreiben, was sie persönlich berührt. — Es erschien mir alles so mechanisch und schwer, das Herz tat mir beim Anblick dieser armen Kinder weh. Niemand denkt daran, gleich zu Anfang ein hörendes Kind sagen zu lassen: Ich habe ein hübsches neues Kleid. Diese Kinder waren zwar älter an Jahren, als das Baby, das da lallt: Papa küß Baby — hübsch — und den Sinn seiner Rede ergänzt, indem es auf sein neues Kleid deutet; aber ihre Gewandtheit im Verstehen und im Gebrauch der Sprache war nicht größer.
Diesen selben Uebelstand bemerkte ich in dem ganzen Betriebe der Schule. In jedem Klassenzimmer sah ich Sätze an der Wandtafel, die augenscheinlich zur Erläuterung einer grammatischen Regel oder zum Zwecke der Einübung von Wörtern hingeschrieben worden waren, die vorher in derselben oder in einer anderen Verbindung vorgekommen waren. Derlei mag für bestimmte Unterrichtsstufen angebracht sein; aber es ist nicht der richtige Weg zur Erlernung der Sprache. Nichts, glaube ich, unterdrückt den Trieb des Kindes, natürlich zu sprechen, mehr als diese Uebungen an der Wandtafel. Das Schulzimmer ist nicht der geeignete Raum, einem Kinde das Sprechen beizubringen, am allerwenigsten aber einem taubstummen Kinde. Dieses darf sich ebensowenig wie ein hörendes Kind der Tatsache bewußt werden, daß es Wörter lernt, und es sollte ihm gestattet sein, sich mit Hilfe seiner Finger oder des Bleistiftes verständlich zu machen, meinetwegen in einzelnen Silben, bis die Zeit kommt, in der seine wachsende Intelligenz nach dem Satze verlangt. Der Gedanke an die Sprache sollte in dem Geiste des Kindes nicht mit der Erinnerung an endlose Schulstunden, an schwierig zu beantwortende grammatische Fragen, oder an irgend etwas verknüpft sein, was der Lebensfreude feindlich in den Weg tritt.
Fräulein Sullivans zweiter Beitrag für den Jahresbericht des Perkinsschen Instituts reicht bis zum 1. Oktober 1888.
In dem vergangenen Jahre hat sich Helen einer ausgezeichneten Gesundheit erfreut. Ihre Augen und Ohren sind von Spezialisten untersucht worden, und diese sind der Meinung, daß sie nicht die geringste Licht- oder Schallempfindung haben kann.
Es läßt sich unmöglich genau angeben, in welchem Umfange ihr der Geruchs- und der Geschmackssinn beim Erkennen der natürlichen Eigenschaften der Dinge behilflich sind; aber nach einer hervorragenden Autorität üben diese Sinne einen großen Einfluß auf die geistige und sittliche Entwicklung des Menschen aus. Helen schöpft aus diesen Sinnestätigkeiten zweifellos einen hohen Genuß. Beim Eintritt in ein Gewächshaus nimmt ihr Gesicht einen strahlenden Ausdruck an, und sie benennt die Blumen, die ihr bekannt sind, nur nach dem Geruche. Ihre Erinnerungen an Geruchsempfindungen sind sehr lebhaft. Sie freut sich schon im voraus auf den Duft einer Rose oder eines Veilchens, und wenn ihr ein Strauß dieser Blumen versprochen wird, so überfliegt ein besonders glücklicher Ausdruck ihre Züge und beweist, daß sie in der Phantasie deren Geruch empfindet und daß er ihr angenehm ist. Es kommt häufig vor, daß der Duft einer Blume oder der Geruch einer Frucht ihr irgend ein frohes Ereignis aus dem Familienleben oder ein heiteres Geburtstagsfest vergegenwärtigt.
Ihr Gefühlssinn hat in diesem Jahre an Schärfe und Feinheit merklich zugenommen. In der Tat ist ihr ganzer Körper so fein organisiert, daß er ihr als Mittel zu dienen scheint, sich mit ihren Mitmenschen in nähere Beziehungen zu setzen. Sie ist nicht nur imstande, die von den verschiedenen Tönen und Bewegungen hervorgebrachten Schwingungen der Luft und[S. 270] Erschütterungen des Bodens zu unterscheiden und ihre Freunde und Bekannten sofort zu erkennen, wenn sie deren Hände oder Kleider berührt, sondern sie erkennt auch die Gemütsstimmung der Personen ihrer Umgebung. Es ist unmöglich für jemand, mit dem sich Helen unterhält, besonders heiter oder traurig zu sein und ihr diesen Umstand verhehlen zu wollen.
Sie bemerkt den leichtesten Nachdruck, der in der Unterhaltung auf ein Wort gelegt wird und weiß jede Veränderung sowie das wechselvolle Spiel der Handmuskeln zu deuten. Sie beantwortet rasch den leisen Druck der Zuneigung, den kräftigen der Zustimmung, das Zucken der Ungeduld, die feste Bewegung beim Befehl und die vielen anderen Verschiedenheiten der fast unendlich reichen Sprache der Gefühle, — und sie hat sich eine solche Uebung in dem Verständnis dieser unbewußten Sprache der Gemütserregungen erworben, daß sie oft imstande ist, unsere innersten Gedanken zu erraten.
Als sie eines Tages mit ihrer Mutter und Herrn Anagnos spazieren ging, warf ein Knabe eine Knallerbse vor ihnen auf den Boden, worüber Frau Keller erschrak. Helen bemerkte sofort die Veränderung in den Bewegungen ihrer Mutter und fragte: What are we afraid of? Als ich einst mit ihr im Parke spazieren ging, sah ich, wie ein Polizeibeamter einen Mann zur Wache brachte. Die Erregung, die ich empfand, brachte eine deutlich bemerkbare körperliche Veränderung bei mir hervor; denn Helen fragte aufgeregt: What do you see?
Einen schlagenden Beweis für das Vorhandensein dieses auffallenden Vermögens lieferte eine ärztliche Untersuchung von Helens Ohren in Cincinnati: Es wurden verschiedene Versuche gemacht, um positiv festzustellen, ob sie eine Schallempfindung habe oder nicht. Alle Anwesenden waren erstaunt,[S. 271] als sie nicht allein einen Pfiff, sondern auch den gewöhnlichen Klang der menschlichen Stimme zu vernehmen schien. Sie wandte den Kopf um, lächelte und verhielt sich so, als ob sie gehört hätte, was gesprochen worden war. Ich stand neben ihr und hielt ihre Hand in der meinigen. Da ich glaubte, sie habe Eindrücke durch mich erhalten, legte ich ihre Hände auf den Tisch und zog mich nach der entgegengesetzten Seite des Zimmers zurück. Die Ohrenärzte nahmen nun ihre Versuche von neuem auf, aber mit ganz abweichenden Ergebnissen. Helen blieb während der ganzen Dauer der Experimente völlig teilnahmlos und verriet nicht im mindesten, daß sie etwas von dem Gesprochenen verstand. Auf meinen Vorschlag faßte einer der Herren sie bei der Hand, und die Anzeichen des Verständnisses wiederholten sich. Diesmal veränderten sich ihre Züge, so oft sie angeredet wurde, aber es trat kein so entschiedenes Aufleuchten ihres Antlitzes ein wie vorher, als ich ihre Hände festhielt.
Einige Zeit nach dem obenerwähnten Besuch auf dem Kirchhofe (s. S. 253) interessierte sich Helen für ein Pferd, das sich infolge eines Unfalls ein Bein schwer verletzt hatte, und ging täglich mit mir hin, um es zu besuchen. Das verwundete Bein wurde bald so schlimm, daß das Pferd an einem Balken aufgehängt werden mußte. Das Tier stöhnte vor Schmerz, und Helen, die sein Stöhnen vernahm, wurde von Mitleid erfüllt. Zuletzt wurde es nötig, das Pferd zu töten, und als sie es das nächstemal besuchen wollte, sagte ich ihr, es sei tot. Dies war das erstemal, daß sie das Wort hörte. Ich setzte ihr dann auseinander, daß es erschossen worden sei, um von seinen Schmerzen erlöst zu werden, und daß man es begraben — in die Erde gelegt habe. Ich bin geneigt, zu glauben, daß die Vorstellung, es sei absichtlich erschossen worden, keinen tiefen Eindruck auf sie machte; aber ich glaube,[S. 272] sie begriff die Tatsache, daß das Leben in dem Pferde erstorben war, wie bei den toten Vögeln oder anderen kleinen Tieren, von denen sie schon vor meiner Ankunft in Tuscumbia eines oder das andere in der Hand gehabt hatte, und ebenso daß das Pferd begraben worden war. Seit diesem Vorfall habe ich das Wort tot stets gebraucht, wann sich die Gelegenheit dazu bot, ohne mich aber auf weitere Erläuterungen einzulassen.
Während wir nun in Brewster in Massachusetts einen Besuch machten, begleitete Helen eines Tages meine Freundin und mich auf den Kirchhof. Sie untersuchte einen Stein nach dem anderen und schien sich zu freuen, wenn sie einen Namen entziffern konnte. Sie roch an den Blumen, zeigte aber kein Verlangen, sie zu pflücken, und als ich ihr einige pflückte, wollte sie sich dieselben nicht anstecken lassen. Als ihre Aufmerksamkeit von einer Marmorplatte, auf der der Name Florence in erhabenen Buchstaben ausgemeißelt war, gefesselt wurde, kauerte sie sich auf den Boden nieder, als suche sie etwas, wandte sich dann mit ganz verstörtem Gesicht zu mir und fragte: Where is poor little Florence? Dann setzte sie hinzu: I think she is very dead. Who put her in big hole? Als sie mit diesen traurig stimmenden Fragen fortfuhr, verließen wir den Kirchhof. Florence war die Tochter meiner Freundin, die als erwachsenes junges Mädchen gestorben war; ich hatte aber Helen nichts von ihr erzählt; ja, sie wußte nicht einmal, daß meine Freundin eine Tochter gehabt hatte. Helen hatte ein Bett und einen Wagen für ihre Puppen geschenkt bekommen, die sie benutzte wie alle anderen Geschenke. Als wir vom Kirchhofe nach Hause kamen, lief sie in das Zimmer, wo diese aufbewahrt wurden, und brachte sie meiner Freundin mit den Worten: They are poor little Florence’s. Dies traf zu, obgleich wir es nicht begriffen, wie sie dies hatte erraten können. Ein Brief, den sie im Laufe[S. 273] der nächsten Woche an ihre Mutter schrieb, schildert ihre Eindrücke mit ihren eigenen Worten:
Ich lege meine kleinen Kinder in Florences kleines Bett, und fahre sie in ihrem Wagen umher. Die arme kleine Florence ist tot. Sie war sehr krank und starb. Frau H. weinte laut um ihr liebes kleines Kind. Sie ging in die Erde, und sie ist schmutzig, und sie friert (She got in the ground and she is very dirty, and she is cold). Florence war sehr hübsch wie Sadie, und Frau H. küßte und herzte sie oft. Florence ist sehr traurig in dem großen Loche (Florence is very sad in big hole). Doktor gab ihr Medizin, um sie gesund zu machen, aber die arme Florence wurde nicht gesund. Als sie sehr krank war, hustete und stöhnte sie im Bett. Frau H. will sie bald besuchen.
Trotz der großen Regsamkeit ihres Geistes ist Helen ein ganz natürliches Kind. Sie liebt Scherz und Spiel und überhäuft andere Kinder mit Zärtlichkeiten. Sie ist niemals heftig oder reizbar, und ich habe sie nie ungeduldig gesehen, wenn ihre Spielgefährten sie nicht verstanden. Sie kann stundenlang mit Kindern spielen, die nicht ein einziges Wort von dem verstehen, was sie ihnen in die Hand buchstabiert, und es ist rührend, ihre lebhaften Bewegungen und ihre leidenschaftlichen Gesten zu beobachten, mittels deren sie ihre Gedanken und Empfindungen auszudrücken sucht. Gelegentlich versucht ein kleiner Knabe oder ein kleines Mädchen das Fingeralphabet zu erlernen. Dann gewährt es einen hübschen Anblick, zu sehen, mit welcher Geduld, Sanftmut und Ausdauer Helen sich bemüht, die ungelenken Finger ihrer kleinen Freunde in die richtige Lage zu bringen.
Eines Tages, als Helen ein kleines Jackett trug, auf das sie sehr stolz war, sagte ihre Mutter zu ihr: Es ist hier ein armes kleines Mädchen, das keinen Mantel hat, um sich zu wärmen.[S. 274] Willst du ihr nicht den deinen geben? Helen begann sofort ihr Jackett auszuziehen und sagte: Ich muß es einem armen kleinen fremden Mädchen geben.
Für Kinder, die jünger sind als sie selbst, hegt sie eine große Zuneigung, und ein Wiegenkind ruft stets alle mütterlichen Instinkte ihrer Natur wach. Sie behandelt ein solches Kind so zärtlich, wie es die sorgsamste Wärterin nicht besser tun könnte, und gibt allen seinen Launen nach.
Obgleich sie im allgemeinen sehr geselligen Charakters ist, kann sie sich doch, wenn sie allein ist, stundenlang mit Stricken oder Nähen die Zeit vertreiben.
Sie liest viel. Sie beugt sich mit gespanntem Blick über ihr Buch, und während der Zeigefinger ihrer linken Hand über die Zeilen hingleitet, buchstabiert sie die Wörter mit der anderen Hand; oft sind aber ihre Bewegungen so rasch, daß sie selbst für diejenigen unverständlich sind, die daran gewöhnt sind, den schnellen Bewegungen ihrer Finger zu folgen.
Jede auch noch so leise Gefühlsregung findet in ihrem lebhaften Mienenspiel ihren Ausdruck. Ihr Verhalten ist natürlich und ungezwungen, und wegen ihrer Offenheit und augenscheinlichen Aufrichtigkeit bezaubernd. Ihr Gemüt ist zu selbstlos und liebevoll, als daß sie sich etwas von Unfreundlichkeit träumen ließe. Sie kann sich nicht vorstellen, daß jemand anders als liebreich und gut sein könnte. Sie ist sich keines Grundes bewußt, weswegen sie sich vor irgend etwas fürchten sollte; infolgedessen sind ihre Bewegungen frei und anmutig.
Zu allen lebenden Wesen im Hause hegt sie eine große Zuneigung und will nicht, daß sie unfreundlich behandelt werden. Wenn sie im Wagen ausfährt, so will sie dem Kutscher nicht erlauben, die Peitsche zu gebrauchen, denn, sagt sie, „poor horses will cry“. Eines Morgens war sie sehr betrübt, als sie fand, daß einem der Hunde ein großes Stück Holz am Hals[S. 275]bande angebunden war. Wir erklärten ihr, dies sei geschehen, damit Pearl nicht fortlaufe. Helen drückte tiefes Mitgefühl dabei aus und suchte im Laufe des Tages bei jeder Gelegenheit Pearl auf, um ihm die Last tragen zu helfen.
Ihr Vater schrieb ihr im vergangenen Sommer, daß die Vögel und Bienen ihm alle seine Weintrauben auffräßen. Zuerst war sie ganz empört darüber und meinte, die kleinen Tiere seien „very wrong“; sie schien sich aber zu beruhigen, als ich ihr erklärte, die Vögel und Bienen seien hungrig und wüßten nicht, daß es egoistisch sei, alle Früchte aufzuzehren. In einem kurze Zeit darauf geschriebenen Briefe wiederholte sie das von mir Gesagte fast wörtlich.
Sie macht immer größere Fortschritte in der Aneignung der Sprache, je umfassender ihre Kenntnisse werden. Als diese noch gering waren, blieb ihr Wortschatz naturgemäß beschränkt; je mehr sie aber von der sie umgebenden Welt kennen lernt, desto zutreffender wird ihr Urteil, desto eindringender, lebhafter und schärfer ihr Verstand und desto fließender und logischer die Sprache, in der sie ihre regen Gedanken ausdrückt.
Wenn wir reisen, so sitze ich neben ihr im Wagen und beschreibe ihr, was ich vom Fenster aus sehe — Hügel, Täler und Flüsse, Baumwollplantagen und Gärten, in denen Erdbeeren, Pfirsiche, Birnen, Melonen und Gemüse wachsen, Herden von Kühen und Pferden, die auf den weiten Wiesen weiden, Schafe an den Berglehnen, die Städte mit ihren Kirchen und Schulen, ihren Gasthöfen und Läden und die Beschäftigungen der Einwohner.
Als sie das Fingeralphabet zu erlernen begann, hatte sie natürlich zuerst große Neigung, von einem Satze nur die wichtigsten Wörter zu gebrauchen. Sie sagte z. B.: Helen milk. Ich nahm die Milch, um ihr zu zeigen, daß sie das richtige Wort gebraucht hatte, gab ihr aber nicht eher zu trinken, als[S. 276] bis sie mit meiner Hilfe einen vollständigen Satz gebildet hatte, wie z. B.: Give Helen some milk to drink. Bei diesem ersten Unterricht ermunterte ich sie zu dem Gebrauch verschiedener Ausdrucksformen für denselben Gedanken. Aß sie ein Stückchen Zucker, so sagte ich: Will Helen please give teacher some candy? oder teacher would like to eat some of Helen’s candy, wobei ich das ’s besonders hervorhob. Sie begriff sehr bald, daß derselbe Gedanke auf sehr verschiedene Weise ausgedrückt werden könne. Zwei bis drei Monate nach meiner Ankunft in Tuscumbia sagte sie: Helen wants to go to bed oder Helen is sleepy, and Helen will go to bed.
Ich werde fortwährend gefragt: Wie machten Sie Ihrer Schülerin die Bedeutung von Wörtern klar, die intellektuelle und moralische Eigenschaften bezeichnen? Ich glaube, es geschah mehr auf dem Wege der Assoziation und Wiederholung als durch eine Erläuterung meinerseits. Namentlich gilt dies von den ersten Lektionen, als ihre Kenntnis der Sprache noch so gering war, daß eine Erläuterung unmöglich war.
Ich habe es stets so gehalten, daß ich Wörter, die Gemütsbewegungen, intellektuelle oder moralische Eigenschaften und Handlungen bezeichneten, in Verbindung mit dem Umstande gebrauchte, der diese Bezeichnung verdiente. Bald nach meiner Ankunft zerbrach Helen ihre neue Puppe, die sie sehr liebte. Sie begann zu weinen. Ich sagte ihr: teacher is sorry. Nach einigen Wiederholungen gelangte sie dahin, daß sie das Wort mit dem Gefühl assoziierte.
Auf dieselbe Weise lernte die das Wort happy, ebenso right, wrong, good, bad und andere Adjektiva. Das Wort love lernte sie wie andere Kinder — durch die Verbindung mit Liebkosungen.
Eines Tages legte ich Helen eine einfache Frage vor, auf die sie zerstreut antwortete. Ich schalt sie, und sie stand[S. 277] still, während der Ausdruck ihres Gesichtes deutlich verriet, daß sie nachzudenken versuchte. Ich berührte ihre Stirn und buchstabierte t–h–i–n–k. Das Wort, in dieser Weise mit der Handlung verbunden, schien sich ihrem Geiste genau so einzuprägen, wie wenn ich ihre Hand auf einen Gegenstand gelegt und dann seinen Namen buchstabiert hätte. Seit dieser Zeit gebrauchte sie stets das Wort think.
Später begann ich Wörter zu gebrauchen wie perhaps, suppose, expect, forget, remember. Wenn Helen fragte: Where is mother now? antwortete ich: I do not know. Perhaps she is with Leila.
Sie will stets die Namen der Leute wissen, die wir in der Pferdebahn oder sonstwo treffen, und erfahren, wohin sie gehen und was sie zu tun beabsichtigen. Unterhaltungen wie die folgende sind nichts Seltenes:
Helen. Wie heißt der kleine Knabe?
Lehrerin. Ich weiß es nicht, denn er ist ein kleiner Knabe, den ich nicht kenne; aber vielleicht heißt er Jack (... but perhaps his name is Jack).
Helen. Wo geht er hin?
Lehrerin. Möglicherweise geht er nach dem Parke, um sich mit anderen Knaben umherzutummeln (He may be going to the Common to have fun with other boys).
Helen. Was wird er spielen?
Lehrerin. Ich vermute, er wird Ball spielen (I suppose, he will play ball).
Helen. Was tun die Knaben jetzt?
Lehrerin. Vielleicht warten sie auf Jack. (Perhaps they are expecting Jack.)
Nachdem ihr die Worte vertraut geworden sind, wendet sie sie in schriftlichen Ausarbeitungen an, wie das folgende Beispiel zeigt.
26. September [1888]
Heut früh saßen Lehrerin und ich am Fenster, und wir sahen einen kleinen Knaben auf dem Trottoir gehen. Es regnete sehr stark, und er hatte einen sehr großen Schirm zum Schutz gegen die Regentropfen.
Ich weiß nicht, wie alt er war, glaube aber, er ist möglicherweise sechs Jahre alt gewesen (but think he may have been six years old). Vielleicht hieß er Joe (Perhaps his name was Joe). Ich weiß nicht, wohin er ging, weil ich ihn nicht kenne. Aber vielleicht schickte ihn seine Mutter in einen Laden, um etwas für das Mittagessen einzukaufen (But perhaps his mother sent him to a store to buy something for dinner). Er hatte eine Tasche in der Hand. Ich vermute, er brachte sie seiner Mutter (I suppose he was going to take it to his mother).
Bei meinem Unterricht habe ich kein bestimmtes System zugrunde gelegt. Ich habe die spontanen Geistesregungen meiner Schülerin beobachtet und versucht, die mir dadurch gegebenen Winke zu befolgen.
Wegen Helens Nervosität habe ich alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, um eine übermäßige Belastung ihres an sich schon äußerst lebhaft arbeitenden Gehirns zu verhüten. Den größten Teil des Jahres haben wir auf Reisen nach verschiedenen Städten zugebracht, und ihr Unterricht ist durch die mannigfaltigen Orte, durch die wir gekommen sind, und die Erfahrungen, die wir hier gesammelt haben, bestimmt worden. Sie zeigt denselben Eifer wie zu Anfang. Niemals ist es erforderlich, sie zum Lernen anzuhalten, ja, ich muß sie sogar mitunter nötigen, ein Exempel oder einen Aufsatz unbeendet zu lassen.
Während ich mich durch kein bestimmtes pädagogisches[S. 279] System leiten ließ, war es mein stetes Streben, Helens allgemeine Bildung und Intelligenz zu fördern, ihre Kenntnisse in Bezug auf die sie umgebende Welt zu erweitern und sie an ein ungezwungenes und natürliches Zusammenleben mit den Menschen zu gewöhnen. Ich habe sie zur Führung eines Tagebuches ermuntert, aus dem ich das folgende mitteile (vergl. S. 261).
22. März 1888.
Herr Anagnos besuchte mich am Donnerstag. Ich war froh, ihn herzen und küssen zu können. Er sorgt für sechzig kleine blinde Mädchen und siebzig kleine blinde Knaben. Ich liebe sie. Kleine blinde Mädchen schickten mir einen hübschen Arbeitskorb. Ich fand darin Schere und Zwirn und Nadelbuch mit vielen Nadeln darin und Häkelhaken und Fingerhut und Schachtel und Zentimetermaß und Knöpfe und Nadelkissen. Ich will kleinen blinden Mädchen einen Brief schreiben, um ihnen zu danken. Ich will hübsche Kleider für Nancy und Adeline und Allie machen. Im Mai will ich nach Cincinnati gehen und ein anderes Kind kaufen. Dann werde ich vier Kinder haben. Der Name des neuen Kindes ist Harry. Herr Wilson und Herr Mitchell besuchten uns am Sonntag. Herr Anagnos ging am Montag nach Louisville, um kleine blinde Kinder zu besuchen. Mutter ging nach Huntsville. Ich schlief bei Vater und Mildred bei Lehrerin. Ich lernte über »heiter«. Es bedeutet ruhig und froh (I did learn about calm. It does mean quiet and happy). Onkel Morrie schickte mir hübsche Geschichten. Ich lese über Vögel. Die Wachtel legt fünfzehn bis zwanzig Eier, und sie sind weiß. Sie baut ihr Nest auf den Erdboden. Der Eisvogel baut sein Nest in einen hohlen Baum, und seine Eier sind blau. Die Eier des Rotkehlchens sind grün. Ich lernte ein Liedchen über Frühling. März, April, Mai sind Frühling.
James tötete Schnepfen zum Frühstück. Kleine Hühnchen wurden sehr kalt und starben. Ich bin traurig. Lehrerin und ich fuhren auf dem Tennesseeflusse in einem Boote. Ich sah Herrn Wilson und James mit Rudern rudern. Boot glitt schnell dahin und ich steckte Hand in Wasser und fühlte es fließen.
Ich fing Fisch mit Haken und Leine und Rute. Wir kletterten auf hohen Berg, und Lehrerin fiel und zerschlug ihren Kopf. Ich aß sehr kleinen Fisch zum Abendbrot. Ich las über Kuh und Kalb. Die Kuh liebt Gras zu essen wie Mädchen Brot und Butter und Milch. Kleines Kalb springt und läuft ins Feld. Es liebt zu hüpfen und zu spielen, denn es ist froh, wenn die Sonne hell und warm ist. Kleiner Knabe liebte sein Kalb. Und er sagte: Ich will dich küssen, kleines Kalb, und er legte seine Arme um des Kalbes Hals und küßte es. Das Kalb leckte gutes Knaben Gesicht mit langer rauher Zunge. Kalb braucht Mund nicht weit zu öffnen, um zu küssen. Ich bin müde, und Lehrerin wünscht nicht, daß ich länger schreibe.
Im Herbst besuchte Helen einen Zirkus (vergl. S. 253 f.). Während wir vor den Käfigen standen, brüllte der Löwe, und Helen fühlte die Erschütterung der Luft so deutlich, daß sie den Ton ganz genau nachahmen konnte.
Ich versuchte ihr das Aussehen eines Kamels zu beschreiben; da wir aber das Tier nicht berühren durften, fürchtete ich, sie hätte keine richtige Vorstellung von seiner Gestalt be[S. 281]kommen. Ein paar Tage später hörte ich jedoch eine Bewegung im Unterrichtszimmer, und als ich eintrat, fand ich Helen auf allen vieren mit einem Kissen auf ihrem Rücken, das so befestigt war, daß es in der Mitte eine Vertiefung und auf jeder Seite einen Höcker bildete. Zwischen diese Höcker hatte sie ihre Puppe gesetzt, die sie nun auf sich im Zimmer herumreiten ließ. Ich beobachtete sie längere Zeit, während sie sich herumbewegte und lange Schritte zu machen versuchte, um den Gang des Kamels, wie ich ihn ihr beschrieben hatte, getreu nachzuahmen. Als ich sie fragte, was sie denn da mache, antwortete sie: I am a very funny camel.
Als eines Tages Helens Pony und Esel nebeneinander standen, ging sie von einem zum anderen und untersuchte beide Tiere genau. Endlich legte sie ihre Hand auf Neddys Kopf und sprach zu ihm: Ja, lieber Neddy, es ist wahr, daß du nicht so schön wie Black Beauty bist. Dein Körper ist nicht so schön gebildet, dein Auge blickt nicht so stolz, und dein Hals wölbt sich nicht. Außerdem siehst du mit deinen langen Ohren etwas komisch aus. Natürlich kannst du nichts dafür, und ich liebe dich genau so, als wenn du das schönste Geschöpf von der Welt wärest. — Helen hatte an der Geschichte von »Black Beauty« großes Gefallen gefunden. Wie rasch ihre Auffassungsgabe und ihr Assoziationsvermögen sind, geht am besten aus dem folgenden hervor. Ich hatte ihr den Abschnitt der Geschichte vorgelesen, in dem es heißt:
„Das Pferd war ein alter, abgetriebener Brauner mit struppigem Fell und Knochen, die überall hervorstanden; die Kniee waren eingeknickt, und die Vorderbeine zitterten heftig. Ich fraß soeben etwas Heu, und der Wind trieb ein kleines Häufchen davon fort; das arme Geschöpf streckte seinen langen, mageren Hals aus, um es aufzunehmen, wandte sich dann um und suchte umher, ob es nicht noch etwas fände. Es lag[S. 282] ein hoffnungsloser Ausdruck in den trüben Augen, den ich nicht umhinkonnte, zu bemerken, und als ich dann nachdachte, wo ich dieses Pferd wohl schon gesehen haben könnte, sah es mich voll an und fragte: Black Beauty, bist du es?“
Als ich soweit gekommen war, preßte Helen meine Hand zusammen, zum Zeichen, daß ich nicht weiterlesen solle. Sie schluchzte krampfhaft. „Es war der arme Ginger,“ — war alles, was sie anfangs sagen konnte. Später, als sie imstande war, über die Erzählung zu sprechen, sagte sie: „Armer Ginger! Die Worte zauberten mir ein deutliches Bild vor die Seele. Ich sah den armen Ginger leibhaftig vor mir; all seine Schönheit war dahin, sein herrlich geschwungener Nacken war gesenkt, aller Mut aus seinem feurigen Auge, alle Anmut aus seiner Haltung verschwunden. O wie schrecklich war das! Ich hatte vorher noch nie gewußt, daß eine solche Veränderung mit einem Geschöpfe vor sich gehen könnte. Der arme Ginger hatte wenig Freude und viel Trauriges erlebt.“ — Nach einem Weilchen fuhr sie bekümmert fort: „Ich fürchte, vielen Menschen ergeht es genau so wie Ginger.“ —
Heut früh las Helen zum ersten Male Bryants Gedicht: »Oh, mother of a mighty race!« Ich sagte zu ihr: Wenn du das Gedicht ausgelesen hast, so sage mir, wer nach deiner Ansicht die Mutter ist. — Als sie bis zu dem Verse gelangte: »There’s freedom at thy gates, and rest«, rief sie aus: „Es ist Amerika. Das Tor ist, glaube ich, die Stadt New York, und unter der »Freiheit« ist die große Statue der Freiheitsgöttin zu verstehen.“ — Als sie das Gedicht »The Battlefield« von demselben Verfasser gelesen hatte, fragte ich sie, welche Strophe sie für die schönste halte. Sie antwortete: Am bestem gefällt mir folgende:
Sie kann sich mit einem Schlage in den Mittelpunkt der Begebenheiten einer Erzählung versetzen. Sie freut sich, wenn die Gerechtigkeit siegt, sie ist traurig, wenn die Tugend unterliegt, und ihr Antlitz strahlt vor Bewunderung und Ehrfurcht, wenn Heldentaten geschildert werden. Sie dringt sogar in den Geist der Schlacht ein, und sagt: „Ich glaube, es ist die Pflicht der Männer, gegen Uebeltäter und Tyrannen zu kämpfen.“
Fräulein Sullivans zusammenhängende Darstellung in dem Jahresbericht des Perkinsschen Institutes für 1891 lautet folgendermaßen:
Im Verlaufe der letzten drei Jahre hat Helen immer größere Fortschritte in der Aneignung der Sprache gemacht. Sie hat einen Vorteil vor normalen Kindern voraus, nämlich den, daß keine äußere Störung sie von ihren Studien ablenkt.
Aber dieser Vorteil schließt andererseits auch einen Nachteil ein; die Gefahr einer übermäßigen geistigen Anstrengung. Ihr Geist ist so geartet, daß sie sich in einem Zustand fieberischer Unruhe befindet, sobald sie sich bewußt wird, daß es etwas gibt, was sie nicht versteht. Ich kann mich keines Falles erinnern, in dem sie geneigt gewesen wäre, eine Arbeit liegen zu lassen, wenn sie fühlte, es handle sich dabei um etwas, was sie nicht verstand. Wenn ich ihr riet, eine Rechenaufgabe bis zum anderen Tag liegen zu lassen, antwortete sie: „Ich glaube, es würde meinen Geist kräftigen, wenn ich sie jetzt löste.“ —
Vor einiger Zeit sprachen wir eines Abends über Tariffragen. Helen wünschte, ich möchte ihr den Gegenstand er[S. 284]klären. Ich sagte: „Nein, das kannst du jetzt noch nicht verstehen.“ — Sie schwieg einen Augenblick; dann aber fragte sie erregt: „Woher wissen Sie denn, daß ich es nicht verstehen kann? Ich habe einen klaren Verstand. Sie müssen bedenken, liebes Fräulein, daß bei den Griechen die Eltern sehr eifrig um ihre Kinder besorgt waren und ihnen Gelegenheit gaben, weise Reden zu hören, und ich glaube, sie verstanden wenigstens einen Teil von dem Gesagten.“ — Ich habe gefunden, es ist das beste, ihr nicht zu sagen, sie könne etwas nicht verstehen, weil sie fast unfehlbar dabei in Aufregung gerät.
Vor nicht allzu langer Zeit suchte ich ihr zu zeigen, wie sie aus ihren Baukastensteinen einen Turm errichten könne. Als die Ausführung etwas verwickelt wurde, brachte die leiseste Erschütterung den Bau zum Einsturz. Nach einer Weile verlor ich die Geduld und sagte ihr, ich fürchtete, sie könne mit dem Turm nicht zustande kommen; ich wollte ihn für sie bauen; allein sie wollte nichts davon wissen. Sie war fest entschlossen, den Turm selbst zu bauen, und beinahe drei Stunden arbeitete sie unermüdlich weiter, sammelte geduldig die Steine auf, wenn sie zusammengefallen waren, und begann von neuem, bis endlich ihre Arbeit von Erfolg gekrönt war. Der Turm stand in jeder Einzelheit vollendet da.
Bis zum Oktober 1889 hielt ich es für das beste, mich bei Helens Unterricht an keinen geregelten Stundenplan zu binden. Die ersten beiden Jahre ihres geistigen Lebens glich sie einem Kinde in einem fremden Lande, wo ihr alles neu und verworren vorkam, und solange sie sich noch keine genügende Kenntnis der Sprache angeeignet hatte, war es unmöglich, ihr systematischen Unterricht zu erteilen.
Außerdem war Helens Wißbegierde während dieser Jahre so groß, daß ihre Fortschritte in der Aneignung der Sprache gehemmt worden wären, wenn die Beantwortung der fort[S. 285]während auftauchenden Fragen bis nach der Beendigung der Unterrichtsstunde verschoben worden wäre. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie dann die Frage vergessen haben und eine gute Gelegenheit zur Erläuterung eines Punktes von wirklichem Interesse verloren gegangen sein. Daher habe ich es stets für das beste gehalten, meiner Schülerin alles, was sie zu wissen verlangte, klarzumachen, mochte es nun auf den gerade vorliegenden Gegenstand Bezug haben oder nicht.
Seit dem Oktober 1889 wurde der Unterricht systematischer und umfaßte Rechnen, Geographie, Zoologie, Botanik und Lesen.
Im Rechnen hat sie bedeutende Fortschritte gemacht. Sie kann multiplizieren, addieren, subtrahieren und dividieren und scheint die Rechnungsoperationen zu verstehen; sie steht jetzt bei den unechten Brüchen. Auch im schriftlichen Rechnen sind ihre Leistungen gut. Ihr Geist arbeitet so rasch, daß, wenn ich ihr ein Exempel aufgebe, sie mir oft schon die richtige Antwort gibt, ehe ich Zeit habe, ihr die ganze Frage in die Hand zu schreiben. Auf die sprachliche Form achtet sie bei der Stellung einer Aufgabe wenig und fragt selten nach der Bedeutung ihr unbekannter Wörter oder Redewendungen. Als ihr einst eine Aufgabe großes Kopfzerbrechen machte, schlug ich ihr vor, einen Spaziergang zu machen, dann würde sie ihr vielleicht leichter fallen. Sie schüttelte aber energisch den Kopf und sagte: Meine Feinde würden glauben, ich liefe vor ihnen davon. Nein, ich muß ausharren und sie jetzt überwinden — und sie tat es.
Der intellektuelle Fortschritt, den Helen in den letzten beiden Jahren gemacht hat, zeigt sich in ihrer zunehmenden Beherrschung der Sprache und ihrer Fähigkeit, feinere Nuancen in der Bedeutung der Wörter zu erkennen, deutlicher als in jedem anderen Unterrichtszweige.
Es vergeht nicht ein Tag, ohne daß sie eine ganze Anzahl neuer Wörter lernt, und dies sind nicht nur die Bezeichnungen konkreter Gegenstände. Zum Beispiel wünschte sie eines Tages die Bedeutung folgender Wörter kennenzulernen: phenomenon, comprise, energy, reproduction, extraordinary, perpetual und mystery. Einige dieser Wörter haben mehrere Bedeutungen, die, von einfacheren beginnend, allmählich zu abstrakteren emporsteigen. Es würde ein aussichtsloses Unternehmen gewesen sein, Helen die feineren Bedeutungen des Wortes mystery klarzumachen, aber sie begriff mit leichter Mühe, daß es etwas Verborgenes oder Verstecktes bedeute, und wenn sie erst größere Fortschritte gemacht hat, wird sie die feinen Bedeutungen des Wortes ebenso leicht auffassen wie jetzt die einfacheren. Bei der Behandlung eines Themas läßt es sich gar nicht vermeiden daß anfangs Wörter und Konstruktionen vorkommen, die nicht eher voll verstanden werden können, als bis der Schüler einen bedeutenden Fortschritt gemacht hat; ich habe es jedoch für das beste gehalten, meiner Schülerin anfangs nur einfache Erläuterungen zu geben in der Meinung, daß diese, mögen sie auch etwas unbestimmt und unvollständig sein, einander unterstützen werden und daß das, was heut unklar ist, morgen klar sein wird.
Ich betrachte meine Schülerin als ein freies und selbsttätiges Wesen, dessen spontane Antriebe meine zuverlässigsten Führer sein müssen. Ich habe stets zu Helen genau so gesprochen wie zu einem sehenden und hörenden Kinde und darauf gedrungen, daß die anderen es ebenso machten. Wenn mich jemand fragt, ob sie dies oder jenes verstehen werde, antworte ich stets: Es kommt gar nicht darauf an, ob sie jedes einzelne Wort eines Satzes versteht oder nicht. Sie wird die Bedeutung der ihr unbekannten Wörter aus deren Verbindung mit anderen erraten, die ihr schon bekannt sind.
Die Auswahl der Bücher, die Helen lesen sollte, habe ich nie mit Bezug auf die Taubheit und Blindheit meiner Schülerin getroffen. Sie liest nur die Bücher, an deren Lektüre sich sehende und hörende Kinder ihres Alters erfreuen. Natürlich war es anfangs notwendig, daß der Inhalt leicht verständlich und fesselnd und daß die Sprache rein und schlicht war. Sie hatte die Druckschrift erlernt, und eine Zeitlang hatte sie sich damit unterhalten, mit Hilfe von Pappstreifen, auf denen die Wörter in erhöhten Lettern gedruckt waren, einfache Sätze zu bilden; aber diese Sätze standen in keiner näheren Beziehung zueinander. Eines Morgens fingen wir eine Maus, und ich verfiel auf den Gedanken, Helens Interesse mit Hilfe einer lebenden Maus und einer lebenden Katze anzuregen, indem ich einige Sätze in einer Weise zusammenstellte, daß sie eine kleine Geschichte bildeten, um ihr so einen neuen Begriff von dem Werte der Sprache zu geben. Ich stellte also die folgenden Sätze in dem Rahmen zusammen und gab ihn Helen: „Die Katze sitzt auf der Kiste. Eine Maus sitzt in der Kiste. Die Katze kann die Maus sehen. Die Katze möchte die Maus gern fressen. Laß die Katze die Maus nicht fangen! Die Katze kann etwas Milch bekommen, und die Maus kann etwas Kuchen bekommen.“ Das Wort »the« war ihr unbekannt, und sie wollte es natürlich erklärt haben. Da es aber bei dem damaligen Stande ihrer Ausbildung zwecklos gewesen wäre, ihr seinen Gebrauch zu erklären, so machte ich gar nicht erst einen Versuch dazu, sondern leitete ihren Finger zum nächsten Worte hin, das sie mit einem strahlenden Lächeln erkannte. Als ich nun ihre Hand auf die Katze legte, die auf der Kiste saß, stieß sie einen leichten Schrei der Ueberraschung aus, und der übrige Teil des Satzes wurde ihr sofort klar. Als sie die Wörter des zweiten Satzes gelesen hatte, zeigte ich ihr, daß sich wirklich eine Maus in der Kiste befand. Dann bewegte sie ihren Finger mit[S. 288] einem Ausdruck regen Interesses bis zur nächsten Zeile. „Die Katze kann die Maus sehen.“ Hierbei ließ ich die Katze die Maus erblicken und Helen die Katze befühlen. Der Ausdruck in den Zügen des kleinen Mädchens verriet, daß es ganz erstaunt war. Ich lenkte nun Helens Aufmerksamkeit auf die folgende Zeile, und obgleich sie nur die drei Wörter cat, eat und mouse kannte, verstand sie doch sofort den Inhalt des Satzes. Sie nahm die Katze weg und setzte sie auf den Fußboden, indem sie zugleich den Rahmen über die Kiste deckte. Als sie las: „Laß die Katze die Maus nicht fangen!“ (Do not let the cat get the mouse!), bemerkte sie die Negation in dem Satze und schien zu begreifen, daß die Katze die Maus nicht fangen dürfe. Get und let waren ihr unbekannt. Die Wörter des letzten Satzes waren ihr bekannt, und sie war entzückt, als sie die Erlaubnis erhielt, sie in die Tat umzusetzen. Aus den Zeichen, die sie machte, entnahm ich, daß sie eine neue Geschichte wünschte, und ich gab ihr ein Buch mit ganz kurzen und in der einfachsten Sprache gehaltenen Erzählungen. Sie ließ ihre Finger über die Zeilen gleiten, fand die Wörter heraus, die sie kannte, und erriet die Bedeutung der übrigen — alles in einer Weise, die auch den konservativsten Pädagogen zu der Ueberzeugung bringen würde, daß ein kleines taubstummes Kind, wenn ihm die Gelegenheit dazu geboten wird, ebenso leicht und auf ebenso natürlichem Wege lesen lernt wie normale Kinder.
Ich bin darum überzeugt, daß Helens Gewandtheit im englischen Ausdruck großenteils eine Folge ihrer fleißigen Lektüre ist. Sie liest oft zwei bis drei Stunden hintereinander und legt selbst dann das Buch nur widerstrebend zur Seite. Als wir eines Tages die Bibliothek verließen, erschien sie mir ernster als gewöhnlich, und ich erkundigte mich nach der Ursache davon. „Ich muß daran denken, wieviel klüger wir[S. 289] immer sind, wenn wir hier herauskommen, als wenn wir hineingehen,“ — lautete ihre Antwort.
Auf die Frage, warum sie Bücher so sehr liebe, erwiderte sie einst: Weil sie mir so viel Interessantes über Dinge erzählen, die ich nicht sehen kann, und weil sie niemals müde oder schlechter Laune sind wie die Menschen. Sie erzählen mir alles und jedes, was ich zu wissen wünsche. —
Als wir Dickens’ »Child’s History of England« lasen, kamen wir an den Satz: „Noch war der Mut der Briten nicht gebrochen“. Ich fragte, was dies nach ihrer Meinung bedeute. Sie entgegnete: „Ich glaube, es bedeutet, daß die tapferen Briten nicht entmutigt waren, daß die Römer so viele Schlachten gewonnen hatten, und sie nur umsomehr zu vertreiben wünschten.“ — Es wäre ihr nicht möglich gewesen, die einzelnen Wörter dieses Satzes zu erklären, und doch faßte sie den Sinn der Stelle ganz richtig auf und war imstande, ihn mit ihren eigenen Worten wiederzugeben. Die nächsten Zeilen enthalten noch schwieriger zu verstehende Wendungen: „Als Suetonius das Land verließ, griffen sie seine Truppen an und eroberten die Insel Anglesea zurück.“ — Ihre Erläuterung dieses Satzes lautete folgendermaßen: „Es bedeutet, daß, als der römische General fortgegangen war, die Briten wiederum zu kämpfen begannen, und weil die römischen Soldaten keinen General hatten, der ihnen hätte sagen können, was sie tun sollten, so wurden sie von den Briten überwunden und verloren die Insel, die sie erobert hatten.“ —
Sie zieht geistige Beschäftigungen Handarbeiten vor und liebt Häkeln, Stricken und dergl. nicht in dem Maße wie viele blinde Kinder; aber sie will es ihnen durchaus in allen Leistungen gleichtun. Sie hat die Benutzung der Schreibmaschine erlernt und schreibt sehr korrekt, wenn auch bis jetzt[S. 290] noch nicht allzuschnell, da sie erst die Uebung von nicht ganz einem Monat hinter sich hat.
Vor länger als zwei Jahren lehrte ein Vetter sie das Telegraphenalphabet, indem er ihr die Punkte und Striche mit seinem Finger auf dem Rücken ihrer Hand vormachte. So oft sie jemanden antrifft, der mit diesem System bekannt ist, so ist sie erfreut, es bei der Unterhaltung in Anwendung bringen zu können. Ich habe gefunden, daß es ein bequemes Verständigungsmittel zwischen uns abgibt, wenn sich Helen in einiger Entfernung von mir befindet, denn es macht es mir möglich, mit ihr zu sprechen, indem ich mit meinem Fuße auf den Boden klopfe. Sie fühlt die Erschütterungen und versteht, was ich ihr mitzuteilen habe.
Man hatte in Gelehrtenkreisen gehofft, eine so hervorragend begabte Natur wie Helen würde, wenn sie völlig auf ihre eigenen Hilfskräfte angewiesen bliebe, Gelegenheit bieten, verschiedene psychologische Fragen, die von Dr. Howe noch nicht erschöpfend beantwortet worden waren, ihrer Lösung näher zu bringen; aber diese Hoffnungen sollten nicht in Erfüllung gehen. Bei Helen war ebenso wie bei Laura Bridgman eine Enttäuschung unvermeidlich. Es ist unmöglich, ein Kind inmitten der Gesellschaft so zu isolieren, daß es von den Anschauungen derer, mit denen es zusammenlebt, ganz unbeeinflußt bleibt. Bei Helen hätte eine solche Absicht nur dadurch erreicht werden können, daß man sie dem Verkehr mit anderen, der ihrer Natur so unentbehrlich ist, entzogen hätte.
Es mußte allen, die die rasche Entwickelung von Helens Anlagen beobachteten, klar sein, daß es unmöglich war, ihren wißbegierigen Geist auf die Dauer von der Beschäftigung mit den unergründlichen Geheimnissen des Lebens abzuhalten. Aber es wurde große Sorgfalt darauf verwandt, ihre Gedanken nicht vor der Zeit auf Gegenstände zu lenken, die für[S. 291] jedermann ein unentwirrbares Rätsel bleiben. Kinder stellen tiefe Fragen, erhalten aber oft seichte Antworten, oder, um richtiger zu sprechen, sie beruhigen sich bei solchen Antworten.
„Woher bin ich gekommen?“ — und „Wohin werde ich gehen, wenn ich sterbe?“ — waren Fragen, die Helen stellte, als sie acht Jahre alt war. Aber die Erklärungen, die sie damals zu verstehen vermochte, waren unzulänglich, obgleich sie sie zum Schweigen brachten, bis ihr Geist seine höheren Kräfte zu äußern und sie aus zahllosen Eindrücken und Vorstellungen, die ihr aus Büchern und ihren täglichen Erfahrungen zuströmten, allgemeine Schlüsse zu ziehen begann. Ihr Geist forschte nach der Ursache der Dinge.
Sowie ihre Beobachtung der Naturerscheinungen umfassender und ihr Wortvorrat reicher und feiner wurde, sodaß sie imstande war, ihre eigenen Begriffe und Ideen klar auszudrücken und ebenso die Gedanken und Erfahrungen anderer zu verstehen, erkannte sie die Beschränktheit der menschlichen Schöpfungskraft und sah ein, daß eine andere Macht, die höher sei als die menschliche, die Erde, die Sonne und die tausend Naturgegenstände, mit denen sie völlig vertraut war, geschaffen haben müsse.
Schließlich fragte sie eines Tages nach einem Namen für diese Macht, deren Vorhandensein sie schon in ihrem Inneren erkannt hatte.
Durch Charles Kingsley’s »Greek Heroes« war sie mit den schönen Sagen über die griechischen Götter und Göttinnen bekannt geworden, und die Wörter Gott, Himmel, Seele und eine große Menge ähnlicher Ausdrücke mußten ihr schon in ihren Büchern begegnet sein.
Sie hatte niemals nach der Bedeutung solcher Wörter gefragt, auch nie eine Bemerkung gemacht, wenn sie vorkamen, und bis zum Februar 1889 hatte niemand zu ihr von Gott[S. 292] gesprochen. Zu jener Zeit versuchte eine liebe Verwandte, die zugleich eine eifrige Christin war, Helen von Gott zu erzählen; da diese Dame aber nicht Worte gebrauchte, die der Fassungskraft des Kindes angemessen waren, so machten diese Unterredungen wenig Eindruck auf Helen. Als ich später mit ihr sprach, sagte sie: „Ich habe Ihnen etwas sehr Spaßiges mitzuteilen. A. sagt, Gott habe mich und jedermann aus Erde gemacht; das muß aber ein Scherz sein. Ich bestehe doch aus Fleisch und Blut und Knochen, nicht wahr?“ — und dabei untersuchte sie mit offenbarer Genugtuung ihren Arm und lachte aus Herzensgrunde. Nach einem Weilchen fuhr sie fort: „A. sagt, Gott sei überall, und er sei die Liebe; aber ich kann mir niemand denken, der aus Liebe besteht. Liebe ist nur etwas in unserem Herzen drin. Dann sagte A. noch etwas sehr Komisches. Sie sagte, er (nämlich Gott) sei mein lieber Vater. Ich mußte darüber sehr lachen, denn ich weiß, mein Vater heißt Arthur Keller.“ —
Ich setzte ihr auseinander, sie sei noch nicht imstande, das Gesagte zu verstehen, und brachte sie mit leichter Mühe zu der Einsicht, es sei besser, über solche Dinge erst dann zu sprechen, wenn sie klüger geworden sei.
Im Laufe ihrer Lektüre war sie auf den Ausdruck »Mutter Natur« gestoßen, und lange Zeit pflegte sie alles, was nach ihrem Dafürhalten die menschliche Kraft überstieg, der Mutter Natur zuzuschreiben. Wenn sie vom Wachstum einer Pflanze sprach, sagte sie: „Mutter Natur sendet den Sonnenschein und den Regen, damit die Bäume und das Gras und die Blumen wachsen können.“ —
Eines Abends schien Helen nach dem Abendessen etwas ernster zu sein, und Frau H. fragte sie, woran sie dächte. „Ich denke daran, wieviel die liebe Mutter Natur in der Frühlingszeit zu tun hat,“ — antwortete sie. Als sie gefragt[S. 293] wurde, warum, erwiderte sie: „Weil sie für so viele Kinder zu sorgen hat. Sie ist die Mutter aller Dinge, der Blumen, Bäume und Winde.“ —
„In welcher Weise sorgt denn Mutter Natur für die Blumen?“ — fragte ich. „Sie sendet den Sonnenschein und den Regen, damit sie wachsen können,“ — antwortete sie, und nach einem Weilchen fuhr sie fort: „Ich denke mir, der Sonnenschein ist Mutter Naturs warmes Lächeln, und die Regentropfen sind ihre Tränen.“ —
Später sagte sie: „Ich weiß nicht, ob Mutter Natur mich erschaffen hat. Ich denke mir, meine Mutter erhielt mich vom Himmel her, aber ich weiß nicht, wo dieser Ort ist. Ich weiß, daß Tausendschönchen und Stiefmütterchen aus Samenkörnern kommen, die in die Erde gelegt worden sind; aber Kinder wachsen nicht aus der Erde hervor, das weiß ich ganz bestimmt. Ich habe noch nie eine Kindespflanze gesehen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wer die Mutter Natur geschaffen hat, können Sie es? Ich liebe den schönen Frühling, weil die knospenden Bäume, die blühenden Blumen und das zarte grüne Laub mein Herz mit Freude erfüllen. Ich muß jetzt in meinen Garten gehen. Die Tausendschönchen und Stiefmütterchen werden glauben, ich habe sie vergessen.“ —
Seit dem Mai 1890 war es mir klar, daß ihre Entwickelung soweit fortgeschritten war, daß die religiösen Anschauungen der Personen ihrer Umgebung ihr nicht länger vorenthalten werden konnten. Sie bestürmte mich förmlich mit Fragen, die der Ausfluß ihrer regen Intelligenz waren.
Anfang Mai schrieb sie folgende Fragen in ihr Notizbuch: „Ich möchte über Dinge schreiben, die ich nicht verstehe. Wer schuf die Erde und die Meere und alles? Was macht die Sonne heiß? Wo war ich, ehe ich zu Mutter kam? Ich weiß, daß Pflanzen aus Samenkörnern emporwachsen, die in der[S. 294] Erde liegen, aber ich bin fest überzeugt, daß Menschen nicht auf diese Weise entstehen. Ich habe noch nie eine Kindespflanze gesehen. Kleine Vögel und Hühnchen kommen aus Eiern. Ich habe sie gesehen. Was war das Ei, ehe es ein Ei war? Warum fällt die Erde nicht, da sie doch so groß und schwer ist? Sagen Sie mir etwas, was Vater Natur tut. Kann ich das Buch, die Bibel genannt, lesen? Bitte, sagen Sie Ihrer kleinen Schülerin viele Dinge, wenn Sie viele Zeit haben.“ —
Kann man, wenn man diese Fragen gelesen hat, daran zweifeln, daß das Kind, das imstande war, sie zu stellen, auch imstande war, wenigstens die einfachsten Antworten auf dieselben zu verstehen? Während Helens ganzer Erziehung habe ich unverrückbar daran festgehalten, daß sie verstehen kann, was sie zu wissen wünscht. Hätte freilich in Helens Geist kein solcher Denkprozeß stattgefunden wie der, von dem diese Fragen Zeugnis ablegen, so würde jegliche Erklärung dieser Punkte für sie unverständlich gewesen sein. Ohne jenes Maß geistiger Entwickelung und Regsamkeit, durch das man befähigt wird, die Notwendigkeit einer übermenschlichen schöpferischen Kraft einzusehen, ist keine Erklärung von Naturerscheinungen möglich.
Nachdem es ihr gelungen war, die Ideen, die langsam in ihrem Geist herangewachsen waren, in Worte zu fassen, schienen sie plötzlich all ihr Denken in Anspruch zu nehmen, und sie wollte durchaus alles erklärt haben. Als wir kurze Zeit, nachdem sie diese Fragen niedergeschrieben hatte, an einem großen Globus vorüberkamen, blieb sie vor ihm stehen und fragte: „Wer hat die wirkliche Welt geschaffen?“ — Ich antwortete: „Niemand weiß es, wie die Erde, die Sonne und alle die Weltkörper, die wir Sterne nennen, entstanden sind; aber ich will dir erzählen, wie kluge Männer es versucht haben, sich deren Entstehung klarzumachen und die großen, geheimnisvollen Kräfte der Natur zu enthüllen.“ —
Sie wußte, daß die Griechen viele Götter hatten, denen sie verschiedene Kräfte beilegten, weil sie glaubten, die Sonne, der Blitz und hundert andere Naturkräfte seien unabhängige, übermenschliche Wesen. Aber nach vielem Nachdenken und Forschen, sagte ich ihr, seien die Menschen zu der Ueberzeugung gelangt, daß all diese Kräfte nur Offenbarungen einer einzigen Macht seien, und dieser Macht hätten sie den Namen Gott gegeben.
Ein paar Minuten war sie still und dachte offenbar angestrengt nach. Dann fragte sie: „Wer hat Gott geschaffen?“ — Ich war genötigt, diese Frage ausweichend zu beantworten, denn ich konnte ihr das Geheimnis eines durch sich selbst existierenden Wesens nicht erklären. In der Tat würden viele ihrer eifrigen Fragen eine viel klügere Person, als ich bin, in Verwirrung gesetzt haben. Hier sind einige von ihnen: „Woraus machte Gott die neuen Welten? Woher nahm er die Erde, das Wasser, die Samenkörner und die ersten Tiere? Wo ist Gott? Haben Sie Gott je gesehen?“ — Ich sagte ihr, Gott sei allgegenwärtig, und sie dürfe sich ihn nicht als Person denken, sondern als das Leben, den Geist, die Seele aller Dinge. Sie unterbrach mich: „Nicht alle Dinge haben Leben. Die Felsen haben kein Leben und können nicht denken.“ — Man muß sie oft daran erinnern, daß es unendlich viele Dinge gibt, die die weisesten Leute auf der Welt nicht zu erklären vermögen.
Helen hat nie Unterricht über Dogmen oder Glaubensbekenntnisse erhalten, noch ist je ein Versuch gemacht worden, ihre Aufmerksamkeit mit Gewalt auf religiöse Lehrmeinungen zu lenken. Da ich mir meiner eigenen Unfähigkeit voll bewußt war, ihr irgendwelche zulängliche Erklärung von den Geheimnissen zu geben, die mit den Begriffen Gott, Seele, Unsterblichkeit verbunden sind, so hielt ich es stets für meine Pflicht, so wenig wie möglich mit meiner Schülerin über religiöse Dinge zu[S. 296] sprechen. Der hochwürdige Herr Philips Brooks[27] hat ihr die Vaterliebe Gottes in ergreifender Weise dargelegt.
Sie hat bis jetzt noch nicht in der Bibel lesen dürfen, weil ich nicht weiß, wie sie dies gegenwärtig tun kann, ohne einen ganz irrigen Begriff von den Eigenschaften Gottes zu bekommen. Ich habe ihr bereits in schlichter Sprache von dem herrlichen, hilfsbereiten Leben Jesu und seinem qualvollen Tode erzählt. Die Erzählung rührte sie tief, als sie sie zum ersten Male hörte.
Als sie auf unsere Unterredung zurückkam, so geschah dies, um zu fragen: „Warum ging Jesus nicht fort, sodaß ihn seine Feinde nicht finden konnten?“ — Die Wunder Jesu betrachtete sie mit sehr kritischem Auge. Als ihr erzählt wurde, daß Jesus auf dem See einherwandelte, um seinen Jüngern entgegenzugehen, sagte sie sehr entschieden: „Es heißt nicht wandelte, sondern schwamm.“ — Als ich ihr davon erzählte, daß Jesus Tote auferweckt habe, wurde sie ganz stutzig und sagte: „Das glaube ich nicht, daß ein Toter wieder lebendig werden kann.“ —
Eines Tages sagte sie traurig: „Ich bin taub und blind. Das ist der Grund, warum ich den lieben Gott nicht sehen kann.“ — Ich lehrte sie das Wort unsichtbar (invisible) und erwiderte ihr: „Wir können Gott nicht mit unseren Augen sehen, weil er ein Geist ist; wenn aber unsere Herzen voll von Güte und Sanftmut sind, dann sehen wir ihn, weil wir ihm dann ähnlicher sind.“ —
Ein anderesmal fragte sie: „Was ist eine Seele?“ — „Niemand weiß, was die Seele ist,“ — entgegnete ich; „aber das wissen wir, daß sie nicht der Körper ist und daß sie der Teil von uns ist, der denkt, liebt und hofft und der, wie die[S. 297] Christen glauben, weiterleben wird, wenn der Körper tot ist.“ — Dann fragte ich sie: „Kannst du dir deine Seele getrennt vom Körper denken?“ — „O ja,“ antwortete sie; „ich dachte vor einer Stunde sehr lebhaft an Herrn Anagnos, und da war mein Geist — meine Seele, verbesserte sie sich — in Athen, aber mein Körper war hier im Unterrichtszimmer.“ — In diesem Augenblicke schien ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf zu gehen, denn sie fügte hinzu: „Aber Herr Anagnos sprach nicht zu meiner Seele.“ — Ich erklärte ihr, daß auch die Seele unsichtbar oder mit anderen Worten, ohne sinnlich wahrnehmbare Gestalt sei. „Aber wenn ich niederschreibe, was meine Seele denkt,“ versetzte sie, „dann wird sie sichtbar, und die Worte sind dann ihr Körper.“
Längere Zeit darauf sagte Helen zu mir: „Ich möchte sechzehnhundert Jahre leben.“ — Auf die Frage, ob sie nicht für immer in einem schönen Lande, Himmel genannt, leben wolle, erwiderte sie zunächst: „Wo liegt der Himmel?“ — Ich mußte zugestehen, dies nicht zu wissen, äußerte aber die Vermutung, es könnte einer von den Sternen sein. Ein Weilchen darauf sagte sie nun: „Wollen Sie nicht die Freundlichkeit haben, zuerst hinzugehen und mir dann alles über ihn erzählen?“ — und fuhr dann fort: „Tuscumbia ist eine sehr hübsche kleine Stadt.“ — Es verging mehr als ein Jahr, ehe sie auf das Thema zurückkam, und als sie dies tat, waren ihre Fragen sehr zahlreich und dringend. Sie fragte: „Wo liegt der Himmel und wie sieht es dort aus? Warum können wir über den Himmel nicht soviel wissen wie über fremde Länder?“ — Ich erklärte ihr in sehr einfacher Sprache, es könne viel Orte mit dem Namen Himmel geben, aber der Hauptsache nach sei er ein Zustand — die Erfüllung des Sehnens des Herzens, die Befriedigung seiner Wünsche; der Himmel sei überall dort zu finden, wo das Rechte anerkannt, ausgeübt und geliebt werde.
Vor dem Gedanken an den Tod schrak sie mit augenscheinlichem Schauder zurück. Als ihr vor kurzem ein von ihrem Bruder erlegter Hirsch gezeigt wurde, war sie sehr traurig, und fragte bekümmert: „Warum muß alles sterben, selbst der schnellfüßige Hirsch?“ — Ein andermal fragte sie mich: „Glauben Sie nicht, daß wir alle viel glücklicher sein würden, wenn wir nicht zu sterben hätten?“ — „Nein,“ entgegnete ich, „denn wenn es keinen Tod gäbe, so würde unsere Welt mit lebenden Geschöpfen bald so überfüllt sein, daß keines von ihnen behaglich leben könnte.“ — „Aber,“ erwiderte Helen rasch, „meiner Meinung nach hätte Gott ebensogut mehrere Welten erschaffen können, wie er diese eine erschaffen hat.“ —
Als ihr einige Freundinnen von der großen Glückseligkeit erzählten, die unser in einem anderen Leben warte, fragte sie sofort: „Woher wissen Sie das, wenn Sie noch nicht tot gewesen sind?“ —
Der Umstand, daß sie ganz gebräuchliche Worte und Redewendungen mitunter in buchstäblichem Sinne nimmt, beweist, wie nötig es für uns ist, uns zu vergewissern, daß sie diese in ihrer richtigen Bedeutung auffaßt. Als ihr vor kurzem erzählt wurde, die Ungarn seien geborene Musiker, so fragte sie erstaunt: „Singen sie denn, wenn sie geboren werden?“ — Als ihre Freundin hinzufügte, daß einige Schülerinnen, die sie in Budapest gesehen habe, mehr als hundert Melodien in ihrem Kopfe hätten, antwortete sie lachend: „Dann wird es in ihrem Kopfe wohl sehr geräuschvoll zugehen.“ — Sie besitzt einen scharfen Blick für das Lächerliche, und anstatt sich durch eine bildliche Ausdrucksweise in Verlegenheit setzen zu lassen, ergötzt sie sich oft an ihrer allzu wörtlichen Auffassung der betreffenden Redewendungen.
Als ihr einmal gesagt worden war, die Seele sei gestaltlos,[S. 299] stutzte sie bei Davids Worten: ‚Er führet meine Seele‘. — „Hat sie Füße? Kann sie gehen? Ist sie blind?“ fragte sie, denn für die war die Vorstellung des Geführtwerdens mit der Vorstellung des Blindseins verknüpft.
Von allem, was Helen in Unruhe und Verwirrung versetzt, stimmt sie nichts so traurig, wie die Erkenntnis von dem Vorhandensein des Schlechten, und von den Leiden, die aus diesem entspringen. Lange Zeit hindurch war es möglich, sie vor dieser Erkenntnis zu bewahren, und es wird stets verhältnismäßig leicht sein, sie vor persönlicher Berührung mit Laster und Verderbtheit zu behüten. Die Tatsache, daß die Sünde existiert und daß großes Elend aus ihr entspringt, dämmerte ihrem Geiste allmählich auf, je mehr sie das tägliche Leben und seine Erfahrungen kennen lernte. Es mußte ihr die Notwendigkeit von Gesetzen und Strafen erklärt werden. Es wurde ihr sehr schwer, das Vorhandensein des Uebels in der Welt mit der Vorstellung von Gott zu vereinigen, die man ihr eingeprägt hatte.
Eines Tages fragte sie: „Sorgt Gott allezeit für uns?“ — Als ihr dies bejaht wurde, fuhr sie fort: „Warum hat er denn dann meine kleine Schwester heute morgen fallen lassen, sodaß sie sich den Kopf so arg zerschlagen hat?“ — Ein andermal fragte sie nach der Allmacht und Güte Gottes. Man hatte ihr von einem schrecklichen Sturme auf der See erzählt, bei dem mehrere Menschen ihr Leben eingebüßt hatten, und sie fragte: „Warum hat Gott die Leute nicht gerettet, wenn er alles zu tun vermag?“
Umgeben von liebenden Angehörigen und Freunden und unter veredelnden Einflüssen aufgewachsen, hat Helen vom Beginne ihrer geistigen Entwickelung an stets bereitwillig das Rechte getan. Sie erkennt mit unfehlbarem Instinkt, was recht ist, und tut es mit Freuden. Sie hält die eine schlechte Hand[S. 300]lung nicht für harmlos, eine andere nicht für bedeutungslos, eine dritte nicht für unbeabsichtigt. Für ihre reine Seele ist alles Schlechte gleich häßlich.
Die letzten Aeußerungen Fräulein Sullivans über ihre Methode finden sich in dem Berichte, den sie für die im Juli 1894 in Chautauqua abgehaltene Versammlung der »Amerikanischen Vereinigung zur Förderung der Unterweisung der Taubstummen im Sprechen« verfaßt hat. Es heißt darin unter anderem:
Sie dürfen nicht glauben, daß Helen mit einem Schlage den Wortschatz der englischen Sprache zu beherrschen lernte, sobald sie den Gedanken, daß jeder Gegenstand eine Bezeichnung habe, erfaßte, oder daß »ihre geistigen Fähigkeiten in voller Waffenrüstung wie Pallas Athene aus Zeus’ Haupt aus der totenähnlichen Erstarrung, in der sie lebend schlummerten, emporstiegen«, wie einer ihrer begeisterten Bewunderer uns glauben machen möchte. Zu Anfang waren die Wörter, Redewendungen und Sätze, deren sie sich zum Ausdruck ihrer Gedanken bediente, sämtlich Nachahmungen derer, die wir in der Unterhaltung mit ihr angewandt hatten und die ihr Gedächtnis unbewußt festgehalten hatte. Und in der Tat, dies trifft auf die Sprache aller Kinder zu. Ihre Sprache ist die Erinnerung an die Sprache, die sie in ihrem Elternhause gehört haben. Die fortwährende Wiederholung der im täglichen Leben üblichen Unterhaltung hat ihrem Gedächtnis gewisse Wörter und Redewendungen eingeprägt, und wenn sie zu sprechen beginnen, so liefert ihnen ihr Gedächtnis die Wörter, die sie stammeln. Gleicherweise ist die Sprache der Gebildeten die Erinnerung an die Sprache der Bücher.
Die Sprache wächst aus dem Leben, dessen Bedürfnissen und Erfahrungen hervor. Anfangs war der Geist meiner kleinen Schülerin völlig leer. Sie hatte in einer Welt gelebt,[S. 301] die sie nicht erkennen konnte. Sprache und Erkenntnis sind unlöslich miteinander verknüpft; sie stehen zueinander in wechselseitiger Beziehung. Gute Leistungen im Gebrauch der Sprache setzen eine wirkliche Kenntnis der Dinge voraus und hängen von dieser ab. Sobald Helen die Vorstellung faßte, daß jeder Gegenstand eine Bezeichnung habe und daß diese Bezeichnungen mit Hilfe des Fingeralphabets anderen übermittelt werden können, ging ich dazu über, ihr Interesse an den Dingen, deren Bezeichnungen sie mit so offenkundiger Freude buchstabieren lernte, wachzurufen. Niemals erteilte ich ihr Unterricht im Sprechen lediglich zu Unterrichtszwecken, sondern ich bediente mich stets der Sprache als eines Mittels zur Gedankenübertragung, und so fiel die Erlernung der Sprache mit der Aneignung von Kenntnissen zusammen. Um die Sprache in vernünftiger Weise zu gebrauchen, muß man etwas haben, worüber man spricht, und dies ist wieder das Ergebnis von Erfahrungen, die man gemacht hat. Kein Maß von Sprachübung wird unsere Kinder befähigen, die Sprache leicht und fließend zu handhaben, wenn sie sich nicht in ihrem Innern klargemacht haben, was sie sagen wollen, oder wenn es uns nicht gelungen ist, in ihnen den Wunsch rege zu machen, zu erfahren, was im Innern anderer Menschen vorgeht.
Anfangs band ich mich bei meinem Unterricht an keinen bestimmten Plan. Ich suchte stets herauszufinden, wofür sich Helen am meisten interessierte, und machte dies zum Ausgangspunkt der neuen Lektion, mochte es nun mit dem Gegenstand, den ich mir zu behandeln vorgenommen hatte, zusammenhängen oder nicht. Während der ersten beiden Jahre ihrer geistigen Entwickelung hielt ich Helen sehr selten zum Schreiben an. Um schreiben zu können, muß man einen Stoff haben, über den man schreibt, und dies erfordert wiederum einige geistige Vorbereitung. Das Gedächtnis muß einen Vorrat von Vor[S. 302]stellungen haben und der Geist muß durch Wissen bereichert sein, bevor das Schreiben eine naturgemäße und angenehme Arbeit wird. Unsere Kinder werden, glaube ich, nur zu häufig zum Schreiben angehalten, ehe sie etwas zu sagen haben. Man lehre sie denken, lesen und aussprechen, was sie meinen, und sie werden schreiben, weil sie nicht anders können.
Helen eignete sich die Sprache mehr durch Uebung und Gewohnheit an, als durch das Erlernen von Regeln und Definitionen. Die Grammatik mit ihrer verwirrenden Menge von Klassifikationen, Bezeichnungen und Paradigmen war aus dem Unterrichte gänzlich verbannt. Sie erlernte die Sprache dadurch, daß sie mit der lebenden Sprache selbst in Berührung gebracht wurde; sie lernte diese aus der täglichen Unterhaltung und aus ihren Büchern kennen und wurde veranlaßt, sie in der mannigfaltigsten Weise hin- und herzuwenden, bis sie imstande war, sie richtig zu gebrauchen. Zweifellos sprach ich mehr und anhaltender mit meinen Fingern, als ich es mit meinem Munde hätte zu tun brauchen; denn wenn sie hätte sehen und hören können, so würde sie in Bezug auf Unterhaltung und Belehrung weniger von mir abhängig gewesen sein.
Ich glaube, jedes Kind hat in seinem Innern wertvolle Eigenschaften verborgen, die belebt und entwickelt werden können, wenn wir nur den richtigen Weg einschlagen; niemals werden wir aber die höheren Naturen unter uns in angemessener Weise entwickeln, wenn wir fortfahren, ihren Geist mit den sogenannten Anfangsgründen vollzustopfen. Die Mathematik wird sie nie zu liebevollen Wesen machen, und ebensowenig wird die Kenntnis von der Größe und der Gestalt der Erde sie zur Würdigung von deren Schönheiten befähigen. Statt dessen wollen wir die Kinder in den ersten Jahren lieber dazu anleiten, ihren höchsten Genuß in der Natur zu finden. Wir wollen sie auf den Feldern umherspringen lassen, ihnen[S. 303] von Tieren erzählen und sie zur Beobachtung der realen Dinge anhalten. Kinder werden sich unter gesunden Verhältnissen selbst erziehen. Sie bedürfen viel mehr einer liebevollen Leitung als der Belehrung.
Ich glaube, daß zu Helens fließendem Sprechen viel der Umstand beigetragen hat, daß fast jeder Eindruck, den sie empfängt, ihr durch das Medium der Sprache vermittelt wird. Aber abgesehen von Helens natürlicher Beanlagung zum Erlernen der Sprache und dem günstigen Einflusse ihrer Umgebung werden wir, glaube ich, finden, daß der beständige Umgang mit guten Büchern von der größten Bedeutung für ihre Erziehung gewesen ist. Es ist nicht erforderlich, daß ein Kind jedes Wort in einem Buche verstehe, wenn es dasselbe mit Genuß und Nutzen lesen soll. In der Tat sollten nur solche Erklärungen gegeben werden, die wirklich wesentlich sind. Helen nahm die Sprache in sich auf, die sie anfangs noch nicht verstehen konnte, die aber in ihrem Geiste zurückblieb, bis sie ihrer bedurfte, und die Worte sich von selbst ihrer Unterhaltung und ihren schriftlichen Ausarbeitungen anschmiegten. In der Tat ist von einigen behauptet worden, daß sie zuviel lese, daß sie einen großen Teil ihrer schöpferischen Kraft in der Freude an Büchern zersplittere, daß, während sie selbständig urteilen und sich ausdrücken könne, sie die Dinge lediglich durch die Augen anderer betrachte und sich in deren Sprache ausdrücke; allein ich bin überzeugt, daß selbständiges Arbeiten ohne Vorbereitung durch fleißige Lektüre ein Ding der Unmöglichkeit ist. Helen hat die besten und reinsten Muster in der Sprache beständig vor Augen, und ihre Unterhaltung sowie ihre schriftlichen Darlegungen sind unbewußte Erinnerungen an das, was sie gelesen hat. Das Lesen sollte meines Erachtens unabhängig von den sonstigen Schularbeiten betrieben werden. Kinder sollten zum Lesen rein des Vergnügens wegen[S. 304] ermuntert werden. Die Haltung, die ein Kind seinen Büchern gegenüber einnimmt, sollte die der unbewußten Empfänglichkeit sein. Die großen Werke der Dichtkunst sollten einen Teil seines Lebens ausmachen, sowie sie einst der wahre Lebensinhalt für ihre Urheber waren. Es ist richtig, je empfänglicher und phantasiereicher der Geist ist, der das in der Literatur Gebotene aufnimmt, desto genauer werden auch die feinsten Züge wiedergegeben. Helen besitzt ein lebhaftes Empfinden, ein frisches, leicht erregbares Interesse an allem, einen geistigen Einblick in das Wesen des künstlerischen Temperaments und infolgedessen natürlich eine lebhaftere und intensivere Freude am Leben, einfach als Leben aufgefaßt, an der Natur, an Büchern und an Menschen als minderbegabte Sterbliche. Ihr Geist ist von den hohen Gedanken und den Idealen der großen Dichter so erfüllt, daß ihr nichts als Gemeinplatz erscheint, denn ihre Phantasie schmückt das ganze Leben mit ihren eigenen reichen Farben aus.
Fräulein Sullivan hat mit ihrer Methode dort eingesetzt, wo Dr. Howe aufgehört hat. Er erfand das Instrument, das physische Werkzeug, aber das Lehren der Sprache ist etwas ganz anderes als das mechanische Mittel, durch das die Sprache gelehrt werden kann. Durch Versuche, durch die Beobachtung anderer Kinder gelangte Fräulein Sullivan auf den praktischen Weg, die Sprache nach der natürlichen Methode zu lehren. Nach dieser »natürlichen Methode« hatte Dr. Howe gesucht, sich aber nie zu dem Gedanken aufschwingen können, daß man ein taubstummes Kind nicht jedes Wort einzeln für sich durch Definition lehren darf, sondern daß ihm die Sprache durch unaufhörliche Wiederholung von Wörtern, die es nicht[S. 305] versteht, beigebracht werden muß. Und hierin besteht Fräulein Sullivans große Entdeckung. Den ganzen Tag hindurch vom frühen Morgen bis zum späten Abend buchstabierte Fräulein Sullivan unverdrossen in die Hand ihrer Schülerin, und hierdurch fing Helen Keller Wörter auf, genau so wie das Kind in der Wiege Wörter auffängt, dadurch, daß es sie zu Tausenden hört, ehe es ein einziges gebraucht, und die Wörter mit der Gelegenheit, bei der sie gesprochen wurden, in der Erinnerung verknüpft. So lernt es, daß Wörter Gegenstände, Handlungen, Empfindungen bezeichnen. Dieses ist das erste Prinzip bei Fräulein Sullivans Methode, ein Prinzip, das praktische Ergebnisse gezeitigt hat und das, soviel ich finden kann, niemals bei der Erziehung eines taubstummen Kindes, geschweige denn eines taubstummen und blinden, praktisch angewandt worden ist, ehe es Fräulein Sullivan bei Helen Keller versuchte. Und dieses Prinzip ist auch nicht eher klar formuliert worden, bevor Fräulein Sullivan ihre Briefe schrieb.
Das zweite Prinzip bei ihrer Methode (die numerische Reihenfolge ist natürlich willkürlich) besteht darin, mit dem Kinde nie über Dinge zu sprechen, die ihm unangenehm oder langweilig sind. In der ersten Taubstummenschule, die Fräulein Sullivan überhaupt besuchte, war die Lehrerin damit beschäftigt, auf der Wandtafel den Kindern mittels geschriebener Worte etwas mitzuteilen, was diese nicht zu wissen verlangten, während sie die besuchenden Gäste mit der größten Neugierde umringten und dadurch den Beweis lieferten, daß es tausenderlei Dinge gab, die sie zu wissen verlangten. Warum knüpfte die Lehrerin beim Sprachunterricht nicht an das an, wofür sich die Kinder interessierten?
Verwandt mit dem Grundsatz, mit dem Kinde nur über Dinge zu sprechen, für die es sich interessiert, ist der weitere, einem Kinde, das Fragen stellt, niemals den Mund zu verbieten,[S. 306] sondern seine Fragen so gut wie möglich zu beantworten. Fräulein Sullivan paßte ihre Ausführungen weder in Inhalt noch in Form dem vermeintlichen niedrigen Stande der Intelligenz des Kindes an, sondern ersuchte jedermann, mit Helen natürlich zu sprechen, ihr ganze Sätze und vernünftige Gedanken mitzuteilen, gleichviel, ob Helen sie verstehe oder nicht. So erkannte Fräulein Sullivan, was so viele noch nicht begreifen wollen, daß nach der ersten allereinfachsten Definition von »Hut«, »Tasse«, »gehen«, »sitzen« die Spracheinheit für das Kind der Satz ist, wie dieser ebenfalls die Spracheinheit der Erwachsenen darstellt.
So schuf sich Fräulein Sullivan eine Methode, die so einfach ist und so sehr alles künstlichen Zuschnittes ermangelt, daß ihre Methode eher die Verneinung jeder Methodik zu sein scheint. Es ist zweifelhaft, ob wir etwas von Helen Keller erfahren hätten, wenn Fräulein Sullivan nicht schon vorher mit anderen Kindern verkehrt hätte. Durch deren Beobachtung lernte sie ihren Zögling soviel wie möglich wie ein normales Kind behandeln.
Das Fingeralphabet war nicht das einzige Mittel, Helen die Kenntnis von Wörtern beizubringen. Bücher ergänzten das Fingeralphabet, ja kamen diesem vielleicht an Bedeutung für den Sprachunterricht gleich. Helen saß voller Eifer über ihnen, bevor sie lesen konnte, anfänglich nicht des Inhaltes wegen, sondern um die Wörter, die sie kannte, herauszufinden, und die Erläuterung neuer Wörter durch den Zusammenhang, durch die Verbindung mit schon bekannten, bereicherten Helens Wortschatz. Die Bücher sind der Speicher der Sprache, und jedes Kind, mag es taub sein oder nicht, muß lernen, wenn seine Aufmerksamkeit in irgend einer Weise auf gedruckte Blätter gelenkt wird. Es lernt nicht dadurch, daß es liest, was es versteht, sondern dadurch, daß es Wörter liest die es nicht versteht,[S. 307] und deren es sich später erinnert. Und obgleich wenig Kinder ein so frühreifes Interesse an Büchern nehmen wie Helen Keller, so kann doch die natürliche Neugierde eines jeden Kindes auf gedruckte Blätter gelenkt werden, namentlich, wenn der Lehrer geschickt ist und ein Wörterspiel einleitet, wie es Fräulein Sullivan tat (s. S. 287 f.). Helen Keller soll eine besondere Sprachbegabung besitzen. Richtiger würde man sagen, sie besitze eine besondere Begabung für das Denken, und ihre Vorliebe für die Sprache sei auf den Umstand zurückzuführen, daß die Sprache für sie gleichbedeutend mit Leben ist. Die Sprache war kein besonderes Fach für sie wie Geographie oder Arithmetik, sondern das Mittel, durch das sie zur Kenntnis äußerer Dinge gelangte.
Als sie im Alter von vierzehn Jahren erst wenige Unterrichtsstunden im Deutschen gehabt hatte, überlas sie den Text von »Wilhelm Tell« und versuchte die Handlung des Stückes herauszufinden. Von der Grammatik wußte sie nichts und kümmerte sich auch nicht um sie. Sie lernte die Sprache von der Sprache selbst, und dies ist neben dem Hören der Sprache eine lebendigere und am Ende auch leichtere Art und Weise, eine fremde Sprache zu erlernen, als unsere Schulmethode, mit der Grammatik zu beginnen. Auf dieselbe Weise spielte sie mit dem Latein, indem sie nicht allein aus den Lektionen lernte, die ihr erster lateinischer Lehrer ihr gab, sondern auch daraus, daß sie die Worte eines Textes immer und immer wieder überlas — ein Spiel, das sie für sich selbst trieb.
Herr John D. Wright, einer ihrer Lehrer an der Wright-Humason-Schule, schreibt über Helen:
Oft fand ich sie, wenn sie einen Augenblick freie Zeit hatte, in ihrer Lieblingsecke auf einem Armstuhle sitzen, auf dessen Seitenlehnen das schwere in Blindendruck hergestellte Buch ruhte, während sie ihren Finger langsam über die Zeilen von[S. 308] Molières Lustspiel »Le Médecin malgré lui« gleiten ließ und bei den komischen Situationen und humoristischen Zügen leise vor sich hin lachte. Damals war ihr Wortvorrat im Französischen noch sehr klein, aber unter Zuhilfenahme ihres Verstandes vermochte sie die Bedeutung der Wörter zu erraten, sodaß sie sich den Sinn zusammensetzte wie ein Kind das Zusammenlegespiel betreibt. Die Folge davon war, daß nach Verlauf weniger Wochen wir beide, sie und ich, eines Abends eine höchst heitere Stunde verlebten, in der sie mir die ganze Handlung des Dramas erzählte, wobei sie mit großem Behagen bei dem darin herrschenden Humor und blendenden Witze verweilte. Es war keine Unterrichtsstunde, sondern nur eine ihrer Erholungen. —
So ist Helen Kellers Sprachbegabung identisch mit ihrer gesamten geistigen Begabung, die sich wegen des außerordentlichen Wertes, den die Sprache für das junge Mädchen besitzt, auf diese geworfen hat.
Man hat die Frage aufgeworfen, ob Helen Kellers Leistungen ihrer natürlichen Befähigung oder der bei ihrem Unterricht benutzten Methode zu verdanken seien. Ohne allen Zweifel würde eine Lehrerin, und wenn sie zehnmal so genial gewesen wäre wie Fräulein Sullivan, ihre Schülerin nicht so weit haben bringen können wie Helen Keller, wenn sie es mit einem unbegabten und geistig minderwertigen Kinde zu tun gehabt hätte. Andererseits würde aber Helen Keller unzweifelhaft, auch wenn sie noch zehnmal soviel Genie besessen hätte, sich nicht zu dem entwickelt haben, was sie ist, wenn sie nicht vom ersten Augenblick an, namentlich zu Anfang eine so vortreffliche Erziehung genossen hätte.
Fräulein Sullivan ist eine Persönlichkeit von ungewöhnlichen Fähigkeiten. Ihre Methode wird, von einem anderen Lehrer ausgeübt, nicht dieselben Erfolge zeitigen. Fräulein Sullivans starker selbständiger Geist hat viel von seiner Spann[S. 309]kraft auf ihre Schülerin übertragen. Dies heißt aber nicht, daß Fräulein Keller sich in vollständiger Abhängigkeit von ihrer Lehrerin befindet. Es wird erzählt, daß sie im Alter von acht Jahren einmal, als jemand sie zu etwas zu bewegen suchte, eine Weile ernst dasaß und dann auf die Frage, was ihr fehle, antwortete: I am preparing to assert my independence. Eine solche eigenwillige Persönlichkeit kann nicht in völliger Abhängigkeit aufwachsen, selbst nicht unter dem Einfluß eines Willens, der so stark ist wie der Fräulein Sullivans. Aber letztere hat vermöge ihrer natürlichen Veranlagung vieles für ihren Zögling getan, was sich nicht analysieren oder auf ein Prinzip zurückführen läßt: sie hat ihr die Anregungen zu teil werden lassen, die in dem Wesen der wahren Freundschaft begründet sind, die die Kräfte beider Teile weit mehr zur Entfaltung bringt als sie hemmt. Wenn Fräulein Keller außerdem ein »Engel an Sanftmut und Güte« ist, wenn sie eine starke Liebe »zu allem Guten und Schönen« hegt, so verdankt sie sicher etwas davon der Lehrerin, die volle sechzehn Jahre hindurch beständig um sie gewesen ist.
Fräulein Sullivan hat demnach vieles für Fräulein Keller getan, was keine andere Lehrerin in genau derselben Weise für eine andere Schülerin hätte tun können. Um eine zweite Helen Keller heranzubilden, müßte man eine zweite Annie Sullivan haben. Um ein anderes taubstummes und blindes Kind sorgfältig zu erziehen, dazu braucht man nur einen anderen Lehrer, der unter günstigen Verhältnissen tätig ist, eine Fülle von äußeren Interessen besitzt, stets mit seinem Zögling zusammenlebt, völlig freie Hand hat und die Prinzipien, die zu finden Fräulein Sullivan ihm die Mühe erspart hat, nach seinen Bedürfnissen anwendet, indem er sie modifiziert und ergänzt, je nachdem er es für nötig erachtet; ebenso muß der Zögling gesund, von guten natürlichen Anlagen und jung genug[S. 310] sein, um noch Bildungsfähigkeit zu besitzen. Jedes taubstumme oder taubstumme und blinde Kind kann, wofern es gesund ist, unterrichtet werden. Und die einzigen, die dies zu tun vermögen, sind die Eltern, oder ein Hauslehrer, nicht die Schule. Dieser Satz wird von den Leitern von Taubstummenanstalten sicher auf das heftigste bekämpft werden. Unzweifelhaft ist die Taubstummenanstalt die einzige Möglichkeit für den staatlichen Unterricht. Aber es ist klar, daß das, worin das taubstumme Kind unterwiesen werden soll, gerade das ist, was andere Kinder lernen, bevor sie überhaupt in die Schule gehen. Als Fräulein Sullivan in den Geflügelhof trat, ein junges Hühnchen aufhob und mit Helen darüber sprach (s. S. 236), so erteilte sie eine Art von Unterricht, der innerhalb der vier Wände unmöglich ist.
Augenscheinlich befindet sich Dr. Howe im Irrtum, wenn er sagt: Ein Lehrer kann kein Kind sein. Gerade dies ist es, was der Lehrer eines taubstummen Kindes sein muß, selbst ein Kind, bereit, zu spielen und herumzutollen und an allem kindlichen Tun Interesse zu finden.
Wesentlich für Helen Kellers Entwickelung war der Umstand, daß sie während der ersten neunzehn Monate ihres Lebens sehen und hören konnte. Dies bedeutete eine gewisse geistige Entwickelung. Außerdem besaß sie von ihren Eltern her gute körperliche und geistige Anlagen. Sie drückte ihre Gedanken durch Zeichen aus, ehe sie sprechen lernte. Frau Keller äußerte in einem Briefe, daß Helen vor ihrer Krankheit für all und jedes Zeichen gebrauchte, und glaubte, diese Angewohnheit sei schuld daran, daß das Kind so spät sprechen gelernt habe. Nach der Krankheit, als sie vollständig auf Zeichen angewiesen war, entwickelte sich Helens Neigung zur Gestikulation. Wie weit sich andere ihr verständlich machen konnten, läßt sich schwer feststellen, aber sie erkannte viel von dem, was[S. 311] um sie herum vorging. Sie wußte, daß andere ihre Lippen bewegten, sie »sah« ihren Vater eine Zeitung lesen, und als dieser sie beiseite gelegt hatte, setzte sie sich auf seinen Stuhl und hielt die Zeitung vor ihr Gesicht (s. S. 14). Ihre anfänglichen Wutausbrüche waren ein unglücklicher Ausdruck ihrer angeborenen Charakterstärke, die durch die Erziehung später in geschulte und geregelte Kraft umgewandelt wurde.
So war es denn eine dankbare Aufgabe für Fräulein Sullivan, einer solchen Schülerin ihre Hingebung, ihre Intelligenz und ihre vor keiner Schwierigkeit zurückschreckende Willfährigkeit zu widmen. Fräulein Sullivans Methode war so vorzüglich, daß jedermann deren Richtigkeit anerkennen müßte, selbst wenn sie keinen Erfolg gehabt hätte. Zudem besaß Fräulein Sullivan eine große Energie. Und schließlich begünstigten alle Umstände diesen ersten Unterricht, bei dem Lehrerin und Schülerin in untrennbarer Gemeinschaft miteinander spielten, sich gegenseitig ergründeten und gegenseitig erzogen.
[23] Vergl. „The life and Education of Laura Dewey Bridgman“ von Mary Swift Lamson. — Jerusalem, Laura Bridgman. Eine psychologische Studie.
Fräulein Sullivans Bericht über Helens Unterricht in der Lautsprache. — Eigentümlichkeiten von Helens Aussprache. — Ansprache Helens in Mt. Airy bei Philadelphia.
Fräulein Keller hat selbst erzählt, in welcher Weise sie sprechen gelernt hat (s. S. 57 ff.). Eine wichtige Ergänzung zu dieser Darstellung bieten die Mitteilungen Fräulein Sullivans in dem Jahresbericht des Perkinsschen Instituts für 1891. Es heißt darin unter anderem:
„Ich wußte, daß Laura Bridgman dasselbe instinktive Ver[S. 312]langen wie Helen gezeigt hatte, Töne hervorzubringen, und sogar etliche einfache Wörter auszusprechen gelernt hatte, die zu gebrauchen ihr großes Vergnügen machte, und ich zweifelte nicht im geringsten, daß Helen mindestens soviel wie sie erreichen könne. Ich glaubte jedoch, daß der Vorteil, der ihr daraus erwachsen würde, in keinem Verhältnis zu dem Aufwande an Zeit und Mühe stehen werde, den ein solches Experiment erfordert hätte.
Außerdem macht der Mangel an Kontrolle durch das Gehör die Stimme eintönig und oft sehr unangenehm, und eine solche Sprache ist in der Regel, außer für die näheren Bekannten des Sprechenden, unverständlich.
Die Aneignung der Sprache durch taube Kinder, die noch keinen sonstigen Unterricht genossen haben, geht langsam und oft mühevoll vor sich. Es wird, wie es mir scheint, häufig zuviel Wert auf die Unterweisung eines tauben Kindes in der Lautsprache gelegt — ein Umstand, der für die geistige Entwickelung des Zöglings von Nachteil sein kann. In der Tat ist die Lautsprache ein ungenügendes Erziehungsmittel, während der Gebrauch des Fingeralphabets die geistige Regsamkeit fördert und kräftigt, da durch dieses das Kind in nahe Berührung mit seiner Muttersprache gebracht wird und die höchsten und abstraktesten Ideen seinem Geiste leicht und vollständig vermittelt werden können. Helens Beispiel beweist, daß es auch für die Aneignung der Lautsprache ein Hilfsmittel von unschätzbarem Werte ist. Sie war mit den Wörtern und der Konstruktion der Sätze schon vollständig vertraut und hatte nur noch mechanische Schwierigkeiten zu überwinden. Außerdem wußte sie, was die Sprache ihr für einen Genuß gewähren würde, und diese genaue Erkenntnis des Zieles ihres Strebens bereitete ihr schon eine Vorfreude, die alle Mühsal leicht machte. Das unterrichtete taube Kind, das zum Artikulieren[S. 313] angehalten wird, kennt sein Ziel nicht, und die Unterweisung im Sprechen ist ihm lange Zeit lästig und bedeutungslos.
Ehe ich die Art und Weise schildere, in der Helen sprechen lernte, dürfte es angebracht sein, kurz zu erwähnen, in welchem Maße sie ihre Stimmorgane gebraucht hatte, ehe sie regelmäßigen Unterricht im Artikulieren erhielt. Als sie im Alter von neunzehn Monaten von der Krankheit befallen wurde, die den Verlust des Gesichts und Gehörs herbeiführte, begann sie gerade sprechen zu lernen. Das bedeutungsleere Stammeln des kleinen Kindes wurde von Tag zu Tage immer mehr zu bewußten, willkürlichen Zeichen für das, was es fühlte und dachte. Aber die Krankheit hemmte ihre Fortschritte in der Aneignung der Lautsprache, und als ihre körperliche Gesundheit zurückkehrte, fand es sich, daß sie aufgehört hatte, verständlich zu sprechen, weil sie keinen Laut mehr hörte. Sie fuhr fort, ihre Stimmorgane mechanisch zu gebrauchen, wie es die Kinder in der Regel tun. Ihr Weinen und Lachen sowie der Klang ihrer Stimme, wenn sie einzelne Wortelemente aussprach, waren vollkommen natürlich, aber das Kind verband offenbar keinen Sinn mit ihnen, und mit einer einzigen Ausnahme brachte es dieselben nicht in der Absicht hervor, sich mit seiner Umgebung zu verständigen, sondern aus dem bloßen Bedürfnisse, sein angeborenes, organisches, ererbtes Ausdrucksvermögen zu üben. Mit dem Worte water, das eines der ersten war, die ihre kleinen Lippen bilden lernten, verband Helen jedoch stets einen Sinn, und es war dies das einzige Wort, das sie auch nach dem Verluste ihres Gehörs zu gebrauchen fortfuhr. Ihre Aussprache des Wortes wurde jedoch allmählich undeutlich, und als ich sie kennen lernte, war nur noch ein eigentümliches Geräusch davon übrig. Nichtsdestoweniger war es das einzige Zeichen, das sie stets für Wasser gebrauchte, und sie vergaß das gesprochene Symbol nicht eher, als sie das Wort mit ihren[S. 314] Fingern buchstabieren gelernt hatte. Das Wort water und die Gebärde, die dem Worte »Lebewohl« entspricht, schienen alles zu sein, was das Kind von den natürlichen und erworbenen Zeichen behalten hatte, mit denen es vor seiner Krankheit vertraut geworden war.
Als sie durch den Gefühlssinn (ich gebrauche das Wort in dem umfassendsten Sinne, sodaß es alle Tasteindrücke einschließt) mit ihrer Umgebung bekannt wurde, empfand sie immer dringender das Bedürfnis, sich mit derselben zu verständigen. Ihre Händchen befühlten jeden Gegenstand und beobachteten jede Bewegung der Personen, mit denen sie zusammenkam, und sie ahmte diese Bewegungen rasch nach.
Als ich in Tuscumbia eintraf, hatte sie sich über sechzig Zeichen zurechtgemacht, die alle nachahmender Natur waren und von ihren Bekannten leicht verstanden wurden. So oft sie etwas sehr dringend verlangte, gestikulierte sie auf höchst ausdrucksvolle Art. Gelang es ihr nicht, sich verständlich zu machen, so wurde sie heftig. In den Jahren ihrer geistigen Kerkerhaft war sie gänzlich auf Zeichen angewiesen und konnte sich selbst keinerlei Art Lautsprache schaffen, die imstande gewesen wäre, Gedanken auszudrücken. Es scheint jedoch, daß sie noch während ihrer Leidenszeit die Lippenbewegungen ihrer Mutter verfolgte.
Wenn sie unbeschäftigt war, so irrte sie ruhelos durch das ganze Haus und stieß dabei sonderbare, obgleich selten unangenehme Töne aus. Ich habe sie ihre Puppe wiegen sehen, wobei sie ein beständiges monotones Summen hervorbrachte, während sie mit den Fingern der anderen Hand die Bewegungen ihrer Lippen verfolgte. Dies war eine Nachahmung des Wiegengesanges ihrer Mutter. Gelegentlich brach sie in ein lustiges Gelächter aus, und dann streckte sie ihre Hand aus, und legte sie irgend jemand, der sich in ihrer Nähe[S. 315] befand, auf den Mund, um sich zu vergewissern, ob er ebenfalls lache. Konnte sie kein Lächeln entdecken, so gestikulierte sie erregt und versuchte ihre Gedanken zum Ausdruck zu bringen; wenn es ihr aber nicht gelang, den anderen zum Lachen zu bringen, so saß sie ein paar Augenblicke mit verwirrtem und enttäuschtem Gesichtsausdruck still da. Die einzigen Wörter, die sie vor dem März 1890 mit einiger Deutlichkeit auszusprechen gelernt hatte, waren papa, mamma, baby, sister. Diese Wörter hatte sie ohne besondere Unterweisung ihren Bekannten von den Lippen abgelesen. Man sieht, sie enthalten drei vokalische und sechs konsonantische Elemente, und diese bildeten die Grundlage für ihren ersten wirklichen Unterricht im Sprechen.
Zu Ende der ersten Lektion war sie imstande, folgende Laute deutlich auszusprechen[28]: a, ä, â, ē, ĭ, ô, c (weich wie s und hart wie k), g (hart), b, l, n, m, t, p, s, u, k, f und d. Die Aussprache mehrerer miteinander verbundener harter Konsonanten in demselben Wort fällt ihr jetzt noch schwer; oft unterdrückt sie den einen und verändert den anderen, und manchmal ersetzt sie beide durch einen ähnlichen Laut mit einer sanften Aspiration. Anfangs machte sich die Verwechselung von l und r bei ihrem Sprechen recht bemerkbar. Wiederholt wollte sie den einen Laut für den anderen gebrauchen. Die große Schwierigkeit in der Aussprache des r machte diesen Laut zu einem der letzten, die sie bemeisterte. Auch das ch, sh und g verursachten ihr viele Mühe, und sie spricht sie jetzt noch nicht deutlich aus.
Als sie noch nicht eine volle Woche gesprochen hatte, traf sie eines Tages einen ihrer Bekannten, Herrn Rodocanachi; sie begann sofort sich mit der Aussprache seines Namens abzumühen, und ließ nicht eher nach, als bis sie imstande war, das Wort deutlich zu artikulieren. Ihr Interesse erlahmte keinen[S. 316] Augenblick, und in ihrem Eifer, die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich ihr von allen Seiten in den Weg stellten, strengte sie ihre Kräfte bis zum äußersten an und erlernte in elf Lektionen sämtliche einzelnen Elemente der Sprache.“ —
Gegenwärtig ist ihre Stimme leise und angenehm. Ihre Sprache entbehrt jedoch der Mannigfaltigkeit und Modulation; sie fließt in einem singenden Tonfalle fort, wenn sie laut liest, und wenn sie einigermaßen laut spricht, so bewegt sich ihre Stimme um zwei bis drei Mitteltöne herum. Ihre Stimme besitzt einen ausgesprochen aspirierten Klang; sie hört sich an, als würde auf den Laut zuviel Atem verwendet. Einige von ihren Tönen sind musikalisch und wohlklingend. Erzählt sie eine Kindergeschichte oder trägt sie etwas Pathetisches vor, so gleitet ihre Stimme in angenehmen Uebergängen von einem Tone zum anderen. Ihre Vortragsweise erinnert dann an das nicht völlig gut getroffene Verweilen bei langen Wörtern, das man bei einem Kinde wahrnimmt, welches eine feierliche Geschichte erzählt.
Der Hauptmangel an Helens Sprache besteht in dem Fehlen der Satzbetonung und der Mannigfaltigkeit der Modulation bei dem Aussprechen der einzelnen Satzglieder. Fräulein Keller betont jedes Wort wie ein Ausländer, der noch mit den einzelnen Satzbestandteilen zu kämpfen hat, oder wie Kinder zuweilen in der Schule lesen, wenn sie jedes Wort für sich aussprechen.
Außer dem Englischen spricht sie Französisch und Deutsch. Ihr Freund, Herr John Hitz, dessen Muttersprache das Deutsche ist, bezeichnet ihre Aussprache als ganz vorzüglich. Ein anderer Freund, der sowohl mit dem Englischen wie mit dem Französischen vertraut ist, findet ihr Französisch viel verständlicher[S. 317] als ihr Englisch. Wenn sie englisch spricht, so verteilt sie die Betonung wie im Französischen und legt nicht genügend Nachdruck auf die accentuierten Silben; auch ist ihre Aussprache desselben Wortes von einem Tage zum anderen verschieden.
Sie begeht mitunter Fehler in der Aussprache, wenn sie laut liest und dabei auf ein Wort stößt, das sie noch nie zuvor ausgesprochen hat, mag sie es auch schon verschiedene Male geschrieben haben. Diese Schwierigkeit wird sich jedoch nebst einigen anderen beseitigen lassen, sobald sie und Fräulein Sullivan mehr Zeit haben. Seit 1894 haben sie sich so in ihre Bücher vergraben, daß sie alles vernachlässigten, was nicht unmittelbar mit der nächstliegenden Aufgabe der erfolgreichen Absolvierung ihrer Studien zusammenhing.
Als Helen die Wright-Humason-Schule in New York besuchte, bemühte sich Dr. Humason, ihre Stimme zu verbessern, und zwar nicht nur die Aussprache, und stellte mit ihr Laut- und Stimmübungen an.
Es läßt sich schwer sagen, ob Fräulein Kellers Sprache leicht zu verstehen ist oder nicht. Manche verstehen sie leicht, andere nicht. Ihre näheren Bekannten sind an ihre Sprache gewöhnt und vergessen, daß diese von der normalen abweicht. Kinder finden es selten schwer, sie zu verstehen; dies erklärt sich daraus, daß Helens bedachtsame, wohlabgemessene Sprache der ihrigen gleicht, bevor sie sich den Kunstgriff der Erwachsenen angeeignet haben, alle Wörter eines Satzes in einem Atemzug zu sprechen. Fräulein Keller soll besser sprechen als die meisten Tauben.
Im Ablesen von den Lippen ist sie nicht so gewandt und geschickt, wie von manchen behauptet wird. Es ist für sie höchst mühsam und umständlich, sich auf diesem Wege Kenntnis von dem zu verschaffen, was man ihr mitteilen will, wenn nicht Fräulein Sullivan oder jemand anders, der sich auf das Finger[S. 318]alphabet versteht, zugegen ist, um Fräulein Keller die gesprochenen Worte in die Hand zu buchstabieren.
Präsident Roosevelt hatte im Frühjahr 1902 wenig Schwierigkeit, sich Fräulein Keller verständlich zu machen; sie verstand jedes Wort, denn des Präsidenten Sprache ist äußerst deutlich.
Man darf nicht vergessen, daß das Sprechen in keiner Weise etwas zu Fräulein Kellers erster Erziehung beitrug, obgleich sie ohne Sprachfertigkeit schwerlich imstande gewesen wäre, die höheren Schulen und die Universität zu besuchen. Aber sie weiß besser als sonst jemand, was für einen unermeßlichen Wert die Sprache für sie hat. Das beredteste Zeugnis dafür legt die Ansprache ab, die Helen am 8. Juli 1896 bei der fünften Versammlung der »Amerikanischen Vereinigung zur Förderung der Unterweisung der Taubstummen im Sprechen« in Mt. Airy bei Philadelphia gehalten hat. Sie lautet folgendermaßen:
Wüßten Sie, welche Freude mich beseelt, daß ich imstande bin, heute zu Ihnen zu sprechen, so würden Sie, glaube ich, einen Begriff von dem Werte der Sprache für die Tauben erhalten und verstehen, weshalb ich es wünsche, daß jedes taubstumme Kind auf dieser ganzen großen Welt Gelegenheit fände, sprechen zu lernen. Ich weiß, daß über diesen Gegenstand viel gesprochen und geschrieben worden ist und daß in Bezug auf den mündlichen Unterricht eine große Meinungsverschiedenheit zwischen den Taubstummenlehrern herrscht. Es erscheint mir äußerst seltsam, daß hier überhaupt von einer Meinungsverschiedenheit die Rede sein kann; ich kann nicht verstehen, wie jemand, der sich für unsere Erziehung interessiert, uns die Genugtuung nicht soll nachfühlen können, die wir empfinden, wenn wir imstande sind, unsere Gedanken in lebendigen Worten auszudrücken. Ich für meine Person wenigstens[S. 319] pflege beständig zu sprechen, und ich weiß nicht, wie ich Ihnen den Genuß schildern soll, den mir dieses gewährt. Natürlich weiß ich, daß es für Fremde nicht immer leicht ist, mich zu verstehen, aber auch das wird sich nach und nach ändern, und inzwischen habe ich das unaussprechliche Glück, zu wissen, daß meine Angehörigen und Freunde sich über meine Fähigkeit zu sprechen freuen. Meine kleine Schwester und mein kleiner Bruder haben es gern, wenn ich ihnen an den langen Sommerabenden Geschichten erzähle, und meine Mutter und meine Lehrerin bitten mich oft, ihnen aus meinen Lieblingsbüchern vorzulesen. Ebenso bespreche ich politische Dinge mit meinem geliebten Vater, und wir entscheiden die verwickeltsten Fragen gerade so befriedigend für uns, wie wenn ich sehen und hören könnte. So sehen Sie, was die Sprache für ein Segen für mich ist. Sie bringt mich in engere und zärtlichere Beziehungen zu denen, die ich liebe, und ermöglicht es mir, mich der trauten Gesellschaft einer großen Zahl von Menschen zu erfreuen, von der ich völlig abgeschnitten sein würde, wenn ich nicht sprechen könnte.
Ich kann mich noch der Zeit entsinnen, bevor ich sprechen lernte, und wie ich mich bemühte, meine Gedanken mittels des Fingeralphabets auszudrücken — wie meine Gedanken fortwährend gegen meine Fingerspitzen schlugen wie kleine Vögel, die nach Freiheit strebten, bis eines Tages Fräulein Fuller ihnen die Kerkertür weit öffnete und sie entfliehen ließ. Ich möchte wohl wissen, ob sie sich noch daran erinnert, wie munter und fröhlich sie ihre Schwingen entfalteten und davonflatterten. Natürlich fiel ihnen das Fliegen anfangs ziemlich schwer. Die Sprachschwingen waren schwach und gebrochen und hatten alle Anmut und Schönheit verloren, die sie einst besessen hatten; es war in der Tat nichts übriggeblieben als der Trieb, zu fliegen; aber dies war immerhin schon etwas. Wer[S. 320] den Trieb zum Schweben in sich fühlt, kann nie mehr mit dem Kriechen zufrieden sein. Nichtsdestoweniger aber kam es mir bisweilen vor, als würde ich meine Sprachschwingen nie so gebrauchen können, wie ich sie nach Gottes Ratschluß benutzen sollte; es stellten sich mir so viele Hindernisse in den Weg, ich mußte so viele Enttäuschungen erfahren; aber ich ermüdete nicht, da ich wohl wußte, daß Geduld und Ausdauer am Ende den Sieg erringen. Und während ich unausgesetzt an mir arbeitete, baute ich die schönsten Luftschlösser und gab mich den entzückendsten Träumen hin, daß einst eine Zeit kommen würde, da ich so sprechen würde wie andere Menschen, und der Gedanke an die Freude, die meine Mutter empfinden würde, wenn sie noch einmal meine Stimme hören könnte, versüßte mir jede Mühe und machte jeden Fehlschlag zu einem Ansporn, mich das nächstemal noch mehr anzustrengen. Daher möchte ich zu denen, die sprechen lernen, und ebenso zu denen, die diese sprechen lehren, sagen: Seid gutes Mutes! Denkt nicht an die Fehlschläge von heute, sondern an den Erfolg, der morgen kommen wird. Ihr habt euch eine schwierige Aufgabe gestellt, aber ihr werdet euer Ziel erreichen, wenn ihr Ausdauer besitzet und ihr werdet Freude am Ueberwinden von Schwierigkeiten, Genuß am Begehen rauher Pfade finden — eine Genugtuung, die euch vielleicht nie zuteil würde, wenn ihr nicht ab und zu rückwärts glittet, wenn die Straße stets eben und glatt wäre. Beherziget die Wahrheit, daß keine Anstrengung, die wir machen, um ein herrliches Ziel zu erreichen, je verloren geht. Einst, irgendwo, irgendwie werden wir finden, was wir suchen. Ja, wir werden sprechen und auch singen, wie wir nach Gottes Ratschluß sprechen und singen sollen.
[28] Die Buchstaben bezeichnen englische Laute!
Helen Kellers hervorragende stilistische Begabung und deren Pflege. — Gute Lektüre. — Unausgesetzte Kontrolle der Stilübungen Helens durch Fräulein Sullivan. — Fräulein Sullivans Darstellung der Episode mit dem »Frostkönig«. — Gegenüberstellung der beiden Fassungen des Märchens. — Fräulein Canbys Aeußerungen über den Zwischenfall. — Allgemeine Betrachtungen über den »Frostkönig«. — Kleinerer Aufsatz Helens über ihr Traumleben.
Niemand kann Fräulein Kellers Selbstbiographie lesen, ohne die Empfindung zu haben, daß sie ein außergewöhnlich gutes Englisch schreibt. Jeder Aufsatzlehrer weiß, daß er seine Schüler dahin bringen kann, ohne syntaktische und phraseologische Fehler zu schreiben. Eben diese Korrektheit ist es, die sich Fräulein Kellers früheste Erziehung als ein Ziel gesteckt hat, das jedes gesunde Kind erreichen kann, für die aber auch die Analysis dieser Erziehung eine Erklärung bietet. Diejenigen, die Helen zu einer Ausnahme stempeln möchten, die sich durch keinerlei Analyse ihrer ersten Erziehung erklären ließe, berufen sich zur Unterstützung ihrer Behauptung auf die außerordentliche Gewandtheit, mit der sie schon als Kind die Sprache handhabte.
Diese Berufung ist bis zu einem gewissen Grade gerechtfertigt, denn in der Tat sind der Wohllaut der Sprache und die Schönheit der Gedanken, die den vollendeten Stil ausmachen, freie Gaben der Götter. Kein Lehrer hätte Helen für die Schönheiten der Sprache und das feinere Herüber- und Hinüberspielen der Gedanken empfänglich machen können, das seinen Ausdruck in wohlklingenden Wortzusammenstellungen sucht.
Andererseits kann aber die angeborene stilistische Begabung unterdrückt oder gepflegt werden. Kein Genie vermag aus sich selbst heraus eine schöne Sprache zu schaffen. Der Stoff, aus welchem sich der gute Stil bildet, muß dem Geiste in[S. 322] guter Form von außen her zugeführt werden. Kein noch so begabtes Kind wird ein gutes Englisch schreiben können, wenn es nicht von Jugend auf gutes Englisch gehört hat. In diesem Punkte, wie in allen anderen, hat sich Fräulein Sullivan als weise Lehrerin bewährt. Hätte sie kein Gefühl und keine Begeisterung für gutes Englisch besessen, so würde Helen Keller unter dem Einfluß der »Jugendliteratur« aufgewachsen sein, die unter dem Vorwande eines für Kinder berechneten einfachen Stils das Niveau der Sprache herunterdrückt, als ob Kinderbücher nicht auch in gutem Stile abgefaßt sein könnten, wie z. B. Robinson Crusoe.
Schriebe Fräulein Sullivan ein gewähltes Englisch, so ließe sich die Schönheit von Helen Kellers Stil zum Teil unmittelbar erklären. Aber die mitgeteilten Auszüge aus Fräulein Sullivans Briefen und Berichten weisen, obgleich sie klar und deutlich sind, nicht die Schönheit auf, durch die sich Helen Kellers Englisch auszeichnet. Was sie als Lehrerin des Englischen geleistet hat, darf nicht nach ihrer eigenen stilistischen Gewandtheit bemessen werden. Der Grund, weswegen sie ihrer Schülerin so viele gute Bücher vorlas, liegt zum Teil darin, daß sie erst vor kurzem ihr Augenlicht wieder erlangt hatte. Als sie Helen Kellers Lehrerin wurde, war sie eben erst zum Bewußtsein der in den Büchern ruhenden Schätze erwacht, von denen sie während der langen Jahre ihrer Blindheit ausgeschlossen gewesen war.
In Hauptmann Kellers Bibliothek fand sie ausgezeichnete Bücher vor: Lambs »Tales from Shakespeare« und die noch vortrefflicheren Schriften von Montaigne. Nach Ablauf des ersten, dem Elementarunterricht gewidmeten Jahres betrachtete sie ihre Schülerin als mit ihr auf demselben Standpunkt stehend, und nun lasen beide die guten Bücher zusammen, und erfreuten sich an ihnen.
Außer der Wahl guter Bücher gibt es noch einen anderen Grund für Fräulein Kellers ausgezeichnete schriftstellerische Leistungen, der Fräulein Sullivans ausschließliches Verdienst ist. Es ist die unermüdliche und unablässige Kontrolle, die sie in ihrer gesamten Tätigkeit kundgibt. Sie gestattete ihrer Schülerin niemals, einen Brief abzuschicken, der Verstöße gegen den guten Geschmack enthielt, sondern ließ sie ihn immer und immer wieder abschreiben, bis er nicht nur fehlerlos, sondern auch gut stilisiert war.
Ein weiterer Umstand, der zu Helen Kellers meisterhafter Beherrschung der englischen Sprache beigetragen hat, besteht gerade darin, daß sie des Gesichts und Gehörs beraubt ist. Die Nachteile der Taubheit und Blindheit waren überwunden worden, und die Vorteile blieben. Sie zeichnet sich vor anderen Tauben aus, weil sie unterrichtet wurde, als wäre sie normal. Andererseits veranlaßt sie der spezielle Wert, den die Sprache für sie hat (während die Vollsinnigen diese als ebenso selbstverständlich betrachten wie den Gebrauch ihrer rechten Hand), zum Nachdenken über die Sprache und zu deren Wertschätzung. Die Sprache war Helens Befreierin, die sie vom ersten Augenblick an liebte.
Den besten Beweis für Helens frühzeitige Gewandtheit im Gebrauche der englischen Sprache liefert der Zwischenfall mit dem »Frostkönig«. Zu der Darstellung, welche Fräulein Keller selbst davon gibt,[29] tritt ergänzend ein Brief Fräulein Sullivans an den Leiter des »Volta-Bureau« John Hitz in Washington. Es heißt darin unter anderem:
„Vielleicht entsinnen Sie sich, daß in meinem Aufsatz,[30][S. 324] in dem ich Helens ungewöhnliches Gedächtnis erwähne, sich auch die Bemerkung findet, daß sie in ihrem Geist viele Ausdrucksformen zu bewahren scheint, die sie zu der Zeit, als sie ihr mitgeteilt wurden, wahrscheinlich noch nicht verstand, daß aber mit fortschreitender Entwickelung die in ihrem Gedächtnis aufbewahrte Sprache ganz oder teilweise ihren Ausdruck in Helens Unterhaltung oder ihren schriftlichen Aeußerungen findet, je nachdem sich diese Ausdrucksformen mehr oder weniger ihren neuen Erfahrungen anpassen.[31] Zweifellos ist dies bei jedem[S. 325] intelligenten Kinde der Fall und verdient vielleicht bei Helen nur von dem Gesichtspunkte aus besondere Erwähnung, daß man von einem des Gesichts und Gehörs beraubten Kinde nicht eine so bedeutende geistige Begabung erwartet, wie sie dieses kleine Mädchen tatsächlich zeigt. Es ist daher auch sehr leicht möglich, daß wir geneigt sind, vieles, was wir in Helens Entwickelung entdecken, als wunderbar zu betrachten, was aber in der Tat eine solche Bezeichnung gar nicht verdient.
Ich möchte hinzufügen, daß, während ich nie verkannt habe, daß Helen vielfach Gebrauch von solchen Schilderungen und Vergleichen machte, wie sie ihrer lebhaften Phantasie und feinen poetischen Natur entsprachen, mich neuere Beobachtungen davon überzeugt haben, daß ich früher noch nicht in vollem Maße erkannt habe, bis zu welchem Grade sie sich die Sprache ihrer Lieblingsschriftsteller zu eigen macht. In den ersten Jahren ihrer Erziehung hatte ich volle Kenntnis von allen Büchern, die sie las, und von nahezu allen Erzählungen, die wir ihr vorlasen, und konnte ohne Schwierigkeit die Quelle aller Anlehnungen feststellen, die ich in ihren schriftlichen Aeußerungen oder ihrer Unterhaltung bemerkte, und ich habe mich immer recht gefreut, zu beobachten, wie angemessen sie die Ausdrücke eines Lieblingsschriftstellers in ihren eigenen Ausarbeitungen anwendet.
Die folgenden Auszüge aus einigen ihrer veröffentlichten Briefe beweisen, wie stark dieses Vermögen, eine schöne Sprache im Gedächtnis zu bewahren, bei ihr ausgebildet ist. An einem schönen sonnigen Tage zu Beginn des Frühlings, den wir im Norden zubrachten, schien die balsamische Atmosphäre in ihr die Empfindung geweckt zu haben, die Longfellow im »Hiawatha« ausspricht, und sie singt beinahe mit dem Dichter: Die Erde erzitterte unter dem Jubel des neuerwachenden Lebens. Mein Herz sang vor lauter Freude. Ich dachte an[S. 326] mein teures Vaterhaus. Ich wußte, daß in jenem sonnigen Lande der Lenz schon in all seiner Pracht erschienen war, mit all seinen Vögeln und all seinen Blüten, all seinen Blumen und seinen Gräsern. —
Um dieselbe Zeit gibt sie in einem Briefe an eine Freundin, in dem sie ihrer südlichen Heimat gedenkt, eine so genaue Umschreibung eines Gedichtes eines ihrer Lieblingsschrifststeller, daß ich die Auszüge aus Helens Brief und dem Gedichte selbst nebeneinanderstellen möchte.[A]
Aus Helens Brief.
The blue-bird with his azure plumes, the thrush clad all in brown, the robin jerking his spasmodic throat, the oriole drifting like a flake of fire, the jolly bobolink and his happy mate, the mockingbird imitating the notes of all, the red-bird with his one sweet trill, and the busy little wren, are all making the trees in our front yard ring with their glad songs.
Aus dem »Spring« betitelten Gedichte von Oliver Wendell Holmes.
In einem Briefe an eine Freundin im Perkinsschen Institute vom 17. Mai 1889 gibt sie eine Nachbildung eines Andersenschen Märchens, das ich ihr kurz zuvor vorgelesen hatte.[32]
Ihre Bewunderung für die eindrucksvollen Belehrungen, die Bischof Brooks ihr über die Vaterliebe Gottes erteilt hatte, war sehr groß. In einem seiner Briefe spricht er davon, wie Gott uns in allen Dingen von seiner Liebe predigt, und sagt: Er schreibt auf alle Wände des großen Hauses der Natur, in dem wir leben, daß er unser Vater ist. Im darauffolgenden Jahre sagte sie in Andover: Die Welt scheint mir voller Güte, Schönheit und Liebe zu sein, und wie dankbar müssen wir unserem himmlischen Vater sein, der uns so viel Veranlassung zur Freude gegeben hat! Seine Liebe und Treue stehen mit großen Lettern auf allen Wänden der Natur geschrieben. —
Später, als Helen mit so vielen Menschen in Berührung kam, die sich ungezwungen mit ihr unterhalten konnten, wurde sie mit manchen Werken bekannt, von denen ich nichts wußte; auch fand sie in Hochdruckbüchern, bei deren Lektüre ich ihr nicht folgen konnte, viel Material zur Ausbildung ihres Geschmackes an poetischen Schilderungen. Die Blätter des Buches, das sie liest, werden ihr zu Gemälden, denen ihre Phantasie Leben und Farbe verleiht. Die Bilder, die die Sprache des Buches in ihrem Gedächtnis zurückläßt, scheinen einen unauslöschlichen Eindruck auf sie zu machen, und oft, wenn sie einer ähnlichen Situation gegenübersteht, strömt dieselbe Sprache mit wunderbarer Genauigkeit wieder hervor.
Helens Geist ist so geartet, daß die leiseste Anregung genügt, ihr die denkbar größte Fülle äußerer Eindrücke zu vermitteln. Als wir eines Tages in Alabama in der Nähe der[S. 328] Quellen an den Hügelabhängen Feldblumen pflückten, schien sie gleich beim ersten Male zu begreifen, daß die Quellen von Bergen umgeben seien, und rief aus: Die Berge drängen sich um die Quellen, um ihr eigenes schönes Spiegelbild zu betrachten. — Ich weiß nicht, woher sie diese Ausdrücke hatte; doch ist soviel klar, daß sie ihr von außen zugeflossen sein müssen, da es für ein des Gesichtes beraubtes Kind wohl schwerlich möglich sein dürfte, von selbst auf eine solche Vorstellung zu verfallen. In der Schilderung eines Ausflugs nach Lexington schreibt sie: — Während wir weiterfuhren, konnten wir sehen, wie die Herrscher des Waldes ihre stolzen Wipfel zu den kleinen Kindern des Waldbodens niederbeugten, um den Geheimnissen zu lauschen, die diese ihnen zuflüsterten. Die Anemone, das wilde Veilchen, das Leberblümchen und die komischen kleinen aufgerollten Farne schauten uns alle unter den braunen Blättern hervor an. — Sie schließt ihren Brief mit den Worten: Ich muß zu Bett gehen, denn Morpheus hat meine Augenlider mit seinem goldenen Stabe berührt. —
Schon zwei Jahre vor dem Zwischenfall mit dem »Frostkönig« hatte Helen in einem Briefe an Herrn Anagnos (vom 2. und 3. Februar 1890) den wesentlichen Inhalt eines anderen Märchens von Fräulein Canby, »The Rose Fairies« als einen Traum erzählt, den sie vor langer Zeit gehabt habe.[33]
Es mögen nun die beiden Fassungen der Frostmärchen einander gegenübergestellt werden.[B]
Die Frostelfen.
(Aus »Birdie und seine Freunde, die Elfen«)
von Margaret T. Canby.
König Frost oder Jack Frost, wie er mitunter genannt wird, wohnt in einem kalten Lande fern im Norden; aber jedes[S. 329] Jahr unternimmt er eine Reise über die ganze Erde in einem Wagen von goldenen Wolken, der von einem starken, pfeilschnellen Rosse, »Nordwind« mit Namen, gezogen wird. Wohin ihn auch sein Weg führt, überall verrichtet er viele wunderbare Dinge: er schlägt Brücken über jeden Strom, die so durchsichtig wie Glas und dabei doch so fest wie Eisen sind; er schläfert die Blumen und Kräuter durch eine bloße Berührung mit seiner Hand ein, und sie beugen sich alle nieder und versinken in die warme Erde, bis der Frühling zurückkehrt; dann zaubert er, damit wir um die Blumen nicht weinen, an unseren Fensterscheiben liebliche Ranken und Zweige seiner weißen nordischen Blumen oder zarte kleine Wälder von Elfentannen hin, schlohweiß und gar prächtig anzusehen. Doch sein wunderbarstes Werk ist die Bemalung der Bäume, die nach Vollendung der Arbeit aussehen, als wären sie mit dem glänzendsten Gold und den funkelndsten Rubinen überzogen, und schön genug sind, um uns über die Flucht des Sommers zu trösten.
Ich will euch nun erzählen, wie König Frost zuerst auf den Gedanken an eine solche Arbeit kam, denn es ist eine sonderbare Geschichte. Ihr müßt wissen, daß dieser König wie[S. 330] alle andern Könige große Schätze von Gold und Edelsteinen in seinem Palaste hatte; da er aber ein gutmütiger alter Mann ist, hält er seine Reichtümer nicht für immer verschlossen, sondern sucht mit ihrer Hilfe Gutes zu tun und andere glücklich zu machen. Er hat zwei Nachbarn, die noch weiter nördlich wohnen; der eine ist König Winter, ein rauher, unfreundlicher alter Fürst, der so hart und grausam ist, daß er sich freut, wenn er den Armen wehe tun und sie zum Weinen bringen kann. Der andere Nachbar aber ist Santa Claus, ein stattlicher, gutherziger, lustiger alter Mann, der gern Gutes tut und den Armen sowie den artigen Kindern zu Weihnachten Geschenke bringt.
Nun, eines Tages dachte König Frost darüber nach, was er wohl mit seinem Schatze gutes stiften könne, und entschloß sich einen Teil seinem freundlichen Nachbar Santa Claus zum Einkauf von Lebensmitteln und Kleidern für die Armen zu schicken, damit diese nicht so viel zu leiden hätten, wenn König Winter sich ihren Häusern näherte. So rief er seine lustigen kleinen Elfen zusammen, zeigte ihnen eine Anzahl von Gefäßen und Vasen voller Gold und Edelsteine und befahl ihnen, diese sorgsam nach dem Palaste[S. 331] Santa Claus’ zu tragen und sie ihm mit Empfehlungen von König Frost zu übergeben. Er wird schon wissen, wie er den Schatz am besten verwenden soll, setzte Jack Frost hinzu; dann befahl er den Elfen, sich unterwegs nicht aufzuhalten, sondern sein Gebot rasch auszuführen.
Die Elfen versprachen Gehorsam und machten sich bald auf den Weg, indem sie die großen gläsernen Gefäße und Vasen nachschleppten, so gut sie konnten, und ab und zu ein wenig über die schwere Arbeit brummten; denn es waren faule Elfen, die lieber spielten als arbeiteten. Schließlich gelangten sie in einen großen Wald, und da sie ganz ermüdet waren, beschlossen sie, ein wenig zu rasten und sich nach Nüssen umzusehen, bevor sie ihre Wanderung fortsetzten. Damit aber der Schatz nicht gestohlen werden sollte, versteckten sie die Gefäße unter das dichte Laub der Bäume, indem sie die einen hoch oben in der Nähe der Wipfel, andere an verschiedenen Stellen der Bäume unterbrachten, bis sie glaubten, niemand könne sie mehr finden.
Dann begannen sie, umherzustreifen nach Nüssen zu suchen und auf die Bäume zu klettern, um die Früchte herunterzuschütteln, und arbeiteten zu ihrem eigenen[S. 332] Vergnügen viel angestrengter, als sie es je auf das Geheiß ihres Herrn getan hatten; denn es ist eine sonderbare Tatsache, daß Elfen und Kinder sich niemals über Mühe und Arbeit beschweren, wenn sie dabei ihre eigene Belustigung im Auge haben, während sie oft brummen, wenn von ihnen eine Arbeit zum besten anderer verlangt wird.
Die Frostelfen waren bei ihrem Nüssesammeln so geschäftig und ausgelassen, daß sie bald ihren Auftrag und den Befehl des Königs, sich zu beeilen, vergaßen; als es aber bei ihrem Spiele Mittag wurde, sahen sie endlich den Grund ein, weshalb ihnen Eile anbefohlen worden war; denn, obgleich sie ihrer Meinung nach den Schatz sehr sorgfältig versteckt hatten, so hatten sie ihn doch nicht vor der Gewalt der Frau Sonne geschützt, die eine Feindin Jack Frosts war und sich freute, wenn sie ihm einen Schabernack spielen und Schaden zufügen konnte.
Ihre strahlenden Augen entdeckten bald die Gefäße mit dem Schatze auf den Bäumen, und da die faulen Elfen sie bis zur Mittagsstunde, wenn Frau Sonne am stärksten ist, hier gelassen hatten, so begann das zarte Glas zu schmelzen und zu zerbrechen, und in kurzer Zeit waren alle Gefäße und Vasen gesprungen oder[S. 333] entzwei gegangen, und ebenso schmolzen die in ihnen enthaltenen kostbaren Schätze und rannen in Strömen von Gold und Purpur langsam über die Bäume und Sträucher des Waldes.
Eine Zeitlang bemerkten die Frostelfen dieses sonderbare Ereignis nicht, denn sie hatten sich in das Gras gelagert, so weit von den Wipfeln der Bäume entfernt, daß es lange dauerte, ehe der wunderbare Schatzregen sie erreichte; endlich aber sagte der eine von ihnen: Horch, ich glaube, es regnet; ich höre die niederfallenden Tropfen. Die anderen lachten und erklärten ihm, es regne selten, wenn die Sonne scheine; als sie aber genauer aufpaßten, hörten sie deutlich, wie im ganzen Walde die Tropfen von den Bäumen herabfielen und von einem Blatt zum anderen glitten, bis sie auf die Brombeersträucher, neben denen die Elfen saßen, herabklatschten. Jetzt entdeckten sie zu ihrem großen Verdruß, daß die Regentropfen geschmolzene Rubinen waren, die auf den Blättern erstarrten und sie augenblicklich mit leuchtendem Rot überzogen. Als sie sich dann die Bäume ringsum genauer ansahen, bemerkten sie, daß der gesamte Schatz wegschmolz und daß sich ein großer Teil davon bereits über die Blätter der Eichen und[S. 334] Ahornbäume ergossen hatte, die in ihrem prächtigen Gewande von Gold und Bronze, Purpur und Smaragd weithin leuchteten. Es gewährte einen sehr schönen Anblick; aber die faulen Elfen waren über das Unglück, das ihr Ungehorsam verschuldet hatte, zu sehr, erschricken, als daß sie die Schönheit des Waldes hätten bewundern können, und im Nu suchten sie sich in dem Gebüsch zu verstecken, damit König Frost sie nicht finden und strafen könne.
Ihre Befürchtungen waren wohlbegründet, denn ihre lange Abwesenheit hatte den König beunruhigt, und er hatte sich aufgemacht, um nach seinen lässigen Dienern zu sehen, und eben, als sie sich alle versteckt hatten, kam er langsam einhergeschritten und sah sich überall nach den Elfen um. Natürlich bemerkte er bald das Glänzen des Laubes und entdeckte auch deren Ursache, als er die zerbrochenen Gefäße und Vasen erblickte, aus denen der geschmolzene Schatz noch immer heruntertropfte. Und als er zu den Nußbäumen kam und die von den faulen Elfen zurückgelassenen Schalen und die Spuren ihres Umhertollens bemerkte, wußte er sofort, was sie angestellt hatten und daß sie ihm ungehorsam gewesen waren, indem sie bei ihrer Wanderung durch den Wald[S. 335] gespielt und die Zeit versäumt hatten.
König Frost runzelte die Stirn und machte zuerst ein sehr böses Gesicht, und seine Elfen zitterten vor Furcht und duckten sich noch tiefer in ihre Verstecke. In diesem Augenblick aber kamen zwei kleine Kinder daher gehüpft, und obgleich sie den König Frost und die Elfen nicht sehen konnten, bemerkten sie doch die prächtige Färbung des Laubes, lachten vor Entzücken und begannen große Sträuße für ihre Mutter zu pflücken. Die Blätter sind so schön wie Blumen, sagten sie, nannten die gelben »Butternäpfchen« und die roten »Rosen« und waren sehr fröhlich, als sie singend durch den Wald weiter zogen.
Ihre Freude besänftigte König Frosts Zorn; auch er begann die bemalten Bäume zu bewundern und sagte schließlich zu sich selber: Meine Schätze sind nicht verloren, wenn sie kleine Kinder glücklich machen. Ich will meinen faulen, gedankenlosen Elfen nicht zürnen, denn sie haben mich eine neue Art, Gutes zu tun, gelehrt. Als die Frostelfen diese Worte hörten, krochen sie einer nach dem anderen aus ihren Verstecken hervor, knieten vor ihrem Herrn nieder, gestanden ihre Schuld ein und baten ihn um Verzeihung. Er war zwar noch eine Weile ungehalten[S. 336] und schalt sie tüchtig aus; bald aber wurde er milder und erklärte, er wolle ihnen diesmal noch verzeihen; ihre einzige Strafe solle darin bestehen, daß sie noch mehr Schätze in den Wald tragen und in den Bäumen verstecken sollten, bis das gesamte Laub mit Hilfe der Frau Sonne mit Gold- und Purpurfarben bedeckt sei.
Die Elfen dankten ihm für seine Verzeihung und versprachen, recht angestrengt zu arbeiten, um seine Huld wiederzugewinnen, und der gutherzige König nahm sie alle auf seine Arme und trug sie sicher heim in seinen Palast. Von dieser Zeit an, glaube ich, ist es ein Teil von Jack Frosts Aufgaben, die Bäume mit den glühenden Farben, die wir im Herbste erblicken, zu bemalen, und wenn sie nicht mit Gold und Edelsteinen bedeckt sind, so weiß ich nicht, auf welche Weise er sie so glänzend macht; wißt ihr es vielleicht?
Der Frostkönig.
Von Helen A. Keller
König Frost wohnt in einem schönen Palast fern im Norden, in dem Lande des ewigem Schnees. Der Palast, der über alle Beschreibung prächtig ist, war schon vor Jahrhunderten, unter der Regierung des Königs Gletscher, erbaut. In geringer Entfernung von dem Palaste könnten wir ihn leicht für ein Gebirge halten, dessen Gipfel sich zum Himmel erheben, um den letzten Kuß des scheidenden Tages zu empfangen. Wenn wir aber näher kommen, so werden wir bald unseren Irrtum bemerken. Was wir für Bergesspitzen hielten, sind in Wahrheit Tausende von weithin glänzenden Türmen. Nichts kann schöner sein als die Architektur dieses Eispalastes. Die Wände sind merkwürdigerweise aus massiven Eisblöcken erbaut, die in klippenartige Türme auslaufen. Das Portal des Palastes liegt am Ende eines überwölbten Ganges und wird Tag und Nacht durch zwölf grimmig aussehende Eisbären bewacht.
Doch, Kinder, ihr müßt dem König Frost bei der ersten Gelegenheit, die sich euch biet einen Besuch abstatten und euch diesen wundervollen Palast selber ansehen. Der alte König wird euch freundlich willkommen heißen, denn er liebt die Kinder, und es ist sein Hauptvergnügen, ihnen Freude zu bereiten.
Ihr müßt wissen, daß König Frost wie alle anderen Könige große Schätze von Gold und Edelsteinen besitzt: da er aber ein freigebiger alter Fürst ist so so er bestrebt, einen richtigen Gebrauch von seinen Reichtümern zu machen. So verrichtet er, wohin ihn auch sein Weg führt, viele wunderbare Dinge; er schlägt Brücken über jeden Strom, so durchsichtig wie Glas und doch oft so fest wie Eisen; er schüttelt die Waldbäume, bis die reifen Nüsse lachenden Kindern in den Schoß fallen; er schläfert mit einer Berührung seiner Hand ein, und damit wir uns nicht nach den strahlenden Blumengesichtern sehnen, bemalt er das Laub mit Gold-, Purpur- und Smaragdfarben, und wenn er mit seiner Arbeit fertig ist, so sind die Bäume so schön, daß wir uns über die Flucht des Sommers trösten. Ich will euch erzählen, wie König Frost auf den Gedanken verfallen ist, das Laub zu bemalen, denn es ist eine sonderbare Geschichte.
Eines Tages dachte König Frost, während er sein großes Vermögen einer Durchsicht unterzog und überlegte, was er damit wohl Gutes stiften könne, mit einem Male an seinen freundlichen alten Nachbar Santa Claus. Ich will meine Schätze an Santa Claus senden, sagte der König zu sich selber. Er ist der richtige Mann dazu, sie gut zu verwenden, denn er weiß, wo die Armen und Unglücklichen wohnen, und sein gütiges altes Herz steckt immer voller Pläne, sie zu unterstützen. So rief er denn die lustigen kleinen Elfen seines Hofstaates zusammen, zeigte ihnen die Gefäße und, Vasen, die seine Schätze enthielten, und befahl ihnen, sie so rasch wie möglich nach Santa Claus’ Palaste zu tragen. Die Elfen versprachen Gehorsam und waren im Nu auf und davon, indem sie die schweren Gefäße und Vasen hinter sich herschleppten, so gut sie konnten, und ab und zu ein wenig über die schwere Arbeit brummten; denn es waren faule Elfen, die lieber spielten als arbeiteten. Nach einiger Zeit kamen sie in einen großen Wald, und da sie müde und hungrig waren, beschlossen sie ein wenig zu rasten und sich nach Nüssen umzusehen, ehe sie ihre Wanderung weiter fortsetzten. Da sie aber glaubten, ihr Schatz könne ihnen inzwischen gestohlen werden, so verbargen sie die Gefäße in dem dichten grünen Laub der verschiedenen Bäume und waren sicher, daß niemand sie finden könne. Dann begannen sie lustig umherzustreifen, um sich Nüsse zu suchen, auf die Bäume zu klettern, neugierig in die leeren Vogelnester zu schauen und hinter den Bäumen Verstecken zu spielen. Diese unartigen Elfen waren nun bei ihrem Herumtollen so geschäftig und so lustig, daß sie ihren Auftrag und ihres Herrn Befehl, sich zu beeilen, ganz vergaßen, aber bald entdeckten sie zu ihrem Verdruß, warum ihnen Eile anbefohlen worden war, denn obgleich sie ihrer Meinung nach den Schatz sorgfältig versteckt hatten, so hatten die strahlenden Augen der Königin Sonne doch die Gefäße zwischen dem Laube erspäht, und da sie und König Frost sich über die beste Art, der Welt Gutes zu tun, nie einigen konnten, so war sie froh, eine gute Gelegenheit zu haben, ihrem ein wenig rauhen Nebenbuhler einen Streich zu spielen. Königin Sonne lachte still vor sich hin, als die zarten Gefäße zu schmelzen und zu zerbrechen begannen. Schließlich waren alle Gefäße und Vasen gesprungen oder entzweigegangen, und ebenso schmolzen die in ihnen enthaltenen Edelsteine und rannen in kleinen Strömen über die Bäume und Sträuche des Waldes.
Noch bemerkten die faulen Elfen nicht, was sich ereignete, denn sie hatten sich in das Gras gelagert, und es dauerte lange, ehe der wunderbare Schatzregen sie erreichte; schließlich aber hörten sie deutlich, wie die Tropfen gleich einem Regen im ganzen Walde herabfielen und von einem Blatt zum anderen glitten, bis sie auf die kleinen Sträucher, neben denen die Elfen saßen, herabklatschten. Jetzt entdeckten sie zu ihrem Erstaunen, daß die Regentropfen geschmolzene Rubine waren, die auf den Blättern erstarrten und sie augenblicklich mit Purpur und Gold überzogen. Dann sahen sie, als sie sich genauer umblickten, daß ein großer Teil des Schatzes bereits geschmolzen war, denn die Eichen- und Ahornbäume waren in prächtige Gewänder von Gold-, Purpur- und Smaragdfarbe gehüllt. Es gewährte einen sehr schönen Anblick; aber die ungehorsamen Elfen waren zu sehr erschrocken, als daß sie die Schönheit der Bäume hätten wahrnehmen können. Sie fürchteten, König Frost könne kommen und sie strafen. So versteckten sie sich denn zwischen den Sträuchern und warteten schweigend auf das, was sich ereignen würde. Ihre Befürchtungen waren wohlbegründet, denn ihre lange Abwesenheit hatte den König beunruhigt, er bestieg den Nordwind und ritt aus, um seine säumigen Boten zu suchen. Natürlich war er noch nicht weit gekommen, als er das Glänzen des Laubes bemerkte, und er erriet rasch die Ursache davon, als er die zerbrochenen Gefäße bemerkte, aus denen der Schatz noch immer herunter tropfte. Zuerst war König Frost sehr zornig, und die Elfen zitterten und duckten sich noch tiefer in ihre Verstecke, und ich weiß nicht, was geschehen, wäre, wenn nicht gerade in diesem Augenblick eine Schar von Knaben und Mädchen den Wald betreten hätte. Als die Kinder die Bäume alle in den herrlichen Farben schimmern sahen, klatschten sie in die Hände, stießen ein Freudengeschrei aus und begannen sofort große Sträuße zu pflücken, um sie mit nach Hause zu nehmen. Die Blätter sind so hübsch wie die Blumen! riefen sie in ihrem Entzücken. Ihre Freude verscheuchte den Zorn aus König Frosts Herzen und glättete seine gerunzelten Augenbrauen, und auch er begann die bemalten Bäume zu bewundern. Er sagte zu sich selber: Meine Schätze sind nicht verloren, wenn sie kleine Kinder glücklich machen. Meine faulen Elfen und meine grimmige Feindin haben mich eine neue Art, Gutes zu tun, gelehrt.
Als die Elfen dies hörten, wurde es ihnen bedeutend leichter ums Herz, und sie kamen aus ihren Verstecken hervor, gestanden ihre Schuld ein und baten ihren Herrn um Verzeihung.
Seit dieser Zeit hat es König Frost stets großes Vergnügen gemacht, die Blätter mit den glühenden Farben, die wir im Herbste erblicken, zu bemalen, und wenn sie nicht mit Gold und Edelsteinen bedeckt sind, so kann ich mir nicht denken, was sie so glänzend macht; könnt ihr es euch vielleicht denken?
Wenn das Märchen von den »Frostelfen«, bemerkt Fräulein Sullivan zu den beiden Erzählungen, Helen im Sommer 1888 vorgelesen wurde, so konnte sie damals noch nicht viel davon verstanden haben, denn sie hatte erst seit dem März 1887 Unterricht gehabt.
Ist es möglich, daß die Sprache des Märchens in ihrem Geiste schlummernd gelegen hat, bis meine Schilderung von der Schönheit der Herbstlandschaft sie ihr im Jahre 1891 wieder lebendig vor ihr geistiges Auge brachte?
Noch eine andere Tatsache ist in diesem Zusammenhange von großer Bedeutung. Das Märchen »Die Rosenelfen« war in demselben Bande erschienen wie »Die Frostelfen« und somit Helen wahrscheinlich um dieselbe Zeit wie dieses vorgelesen worden.
Nun spricht Helen in ihrem Briefe vom Februar 1890 (s. oben S. 328), von diesem Märchen Fräulein Canbys als von einem Traume, den sie vor sehr langer Zeit als ganz kleines Kind gehabt habe. Sicherlich werden anderthalb Jahre einem kleinen Mädchen wie Helen als »sehr lange Zeit« erscheinen; wir haben daher Veranlassung zu der Annahme, daß die Märchen ihr spätestens im Sommer 1888 vorgelesen worden sein müssen.
Helen Keller erwähnt (S. 68) einen freundlichen Brief, den ihr Fräulein Canby geschrieben habe. Auch mit Fräulein Sullivan trat die genannte Dame in Briefwechsel. So schrieb sie ihr z. B. am 9. März 1892 unter anderem: „Was für einen wunderbar regen Geist und was für ein treues Gedächtnis muß dieses begabte Kind besitzen! Hätte sich Helen eines kurzen Märchens erinnert und es niedergeschrieben, kurz nachdem sie es gehört hatte, so würde dies schon ein Wunder gewesen sein; aber das Märchen ein einzigesmal vor drei Jahren gehört zu haben und noch dazu auf eine Weise, daß weder ihre Eltern noch ihre Lehrerin darauf zurückkommen und die Erinnerung daran auffrischen konnten, und dann imstande gewesen zu sein, es so lebendig wiederzugeben und sogar noch einige selbständige Striche hinzuzufügen, die in völligem Einklang mit dem übrigen stehen und das Original in der Tat verbessern — das ist etwas, was sehr wenige Mädchen[S. 338] reiferen Alters, die im Besitze aller Vorteile des Sehens, Hörens und selbst großer schriftstellerischer Begabung sind, so gut geleistet hätten, wenn sie überhaupt dazu imstande gewesen wären. Unter diesen Umständen sehe ich nicht ein, wie irgendjemand so lieblos sein kann, dies ein Plagiat zu nennen; es ist eine wunderbare Leistung des Gedächtnisses und steht einzig in seiner Art da. Ich habe viele Kinder gekannt, habe mein ganzes Leben in ihrer Mitte zugebracht und kenne keinen größeren Genuß, als mich mit ihnen zu unterhalten, sie zu erheitern und ihre Geistes- und Charakterzüge ruhig zu beobachten; aber ich entsinne mich keines Mädchens von Helens Alter, das den gleichen Wissensdurst gehabt und über dieselbe Fülle literarischer und allgemeiner Bildung sowie über dieselbe schriftstellerische Begabung verfügt hätte wie Helen. Sie ist in der Tat ein Wunderkind. Vielen Dank für Helens Tagebuch! Es läßt mich klarer als zuvor die große Enttäuschung erkennen, die das liebe Kind zu erdulden gehabt hat. Bitte, sagen Sie ihr, wie sehr ich sie in mein Herz geschlossen habe und daß sie sich keine Gedanken mehr darüber machen soll. Niemand darf sagen, sie habe unrecht getan, und eines Tages wird sie eine große schöne Erzählung oder ein Gedicht schreiben, das vielen Menschen Freude machen wird. Sagen Sie ihr, ein paar bittere Tropfen seien in jedermanns Lebenskelch enthalten, und es bleibe uns nichts anderes übrig, als die bitteren geduldig, und die süßen dankbar hinzunehmen.“
Der Zwischenfall hatte, wie aus Helens eigener Darstellung hervorgeht, auf sie und auf Fräulein Sullivan eine geradezu vernichtende Wirkung. Letztere fürchtete, der Neigung zur Nachahmung, die in Wirklichkeit Fräulein Keller zur Schriftstellerin[S. 339] gemacht hat, allzugroßen Spielraum gelassen zu haben. Aber jetzt, da sie auf der Universität zusammen mit ihrem Zögling in die Geheimnisse des geistigen Schaffens eingedrungen ist, weiß sie, daß der Stil jedes Schriftstellers und in der Tat jedes Menschen, mag er gebildet oder ungebildet sein, eine Erinnerung ist, die sich aus allem, was er gelesen und gehört hat, zusammensetzt. Der Quellen seines Wortschatzes ist er sich größtenteils so wenig bewußt wie des Augenblickes, in dem er die Nahrung zu sich nahm, die einen Teil seines Daumennagels bilden sollte. Bei der Mehrzahl von uns kreuzen und vermischen sich die Zuflüsse aus den verschiedensten Quellen. Ein Kind, dem nur wenige Quellen zur Verfügung stehen, kann das, was es aus jeder einzelnen zieht, getrennt halten. In dieser Lage war Helen Keller, die den Wortlaut einer Geschichte, die sie zu der Zeit, als sie ihr vorgelesen wurde, noch nicht ganz verstand, fast unverändert und ohne Vermischung mit anderen Vorstellungen in ihrem Geiste bewahrte. Die Bedeutung dieses Umstandes kann nicht hoch genug bewertet werden. Er liefert den Beweis dafür, daß der Geist des Kindes Worte in sich aufspeichert, die es gehört hat, und daß diese hier gleichsam auf der Lauer liegen, stets bereit, hervorzutreten, wenn der äußere Anreiz dazu eintritt. Der Grund, weswegen wir diesen Prozeß bei normalen Kindern nicht wahrnehmen, liegt darin, daß wir sie selten als Ganzes beobachten, und daß sie ihre geistige Nahrung aus so vielen Quellen beziehen, daß die Erinnerungsbilder verworren sind und sich gegenseitig aufheben. Das Märchen vom »Frostkönig« trat jedoch nicht unverändert aus Helens Geist hervor, sondern war durch die Eigenart des Kindes umgeformt worden und hatte sich in Worte gekleidet, die aus anderen Quellen stammten. Der Stil von Helens Fassung ist sogar in manchen Beziehungen besser als der von Fräulein Canbys Erzählung. Sie weist die naive Phantasie eines echten[S. 340] Volksmärchens auf, während Fräulein Canbys Erzählung ersichtlich für Kinder von einer älteren Person geschrieben ist, die die Art und Weise eines Feenmärchens annimmt und didaktische Wendungen nicht immer vermeidet. Helens Märchen ist in demselben Sinne ein Original, wie die dichterische Bearbeitung einer alten Sage ein solches ist.
Aller Sprachgebrauch beruht auf Nachahmung, und jemandes Stil ist ein Ausfluß aller Stilarten, die ihm vorgekommen sind.
Der einzige Weg, ein gutes Englisch schreiben zu lernen, ist der, es zu lesen und zu hören. Daher kommt es, daß man jedes Kind ein korrektes Englisch lehren kann, wenn man es kein anderes lesen oder hören läßt. Bei einem Kinde ist die Scheidung des Besseren von dem Schlechteren nicht bewußt; es ist der Sklave seiner sprachlichen Erfahrung.
Der gewöhnliche Mensch wird sich nie von der irrigen Auffassung losmachen können, daß die Worte dem Gedanken gehorchen, daß man zuerst denkt und das Gedachte dann in Worte kleidet. Es muß allerdings zuerst die Absicht, der Wunsch vorhanden sein, etwas auszusprechen, aber der Gedanke nimmt meistenteils erst dann feste Form an, wenn er in Worte gekleidet ist; auf jeden Fall wird der Gedanke dadurch, daß er in Worten ausgedrückt wird, ein selbständiges Gebilde. Worte rufen oft Gedankengänge hervor, und wer das Wort beherrscht, wird Bedeutenderes sagen, als er sonst vermöchte. Als Helen Keller den »Frostkönig« schrieb, sagte sie mehr, als sie selbst glaubte.
Wer einen Satz aus Wörtern bildet, spricht nicht seine Weisheit aus, sondern die Weisheit des Volkes, dessen Leben in den Worten enthalten ist, selbst wenn sie vorher noch nie in dieser bestimmten Weise zusammengesetzt worden sind. Wer Geschichten schreiben kann, denkt an zu schreibende Geschichten. Das Medium der Sprache ruft den Gedanken hervor, den es[S. 341] begleitet, und je bedeutender das Medium ist, desto tiefer sind die Gedanken.
Gebildet ist der, dessen Ausdrucksweise gebildet ist. Der Träger des Denkens ist die Sprache, und im Gebrauch der Sprache muß das taube Kind so gut wie jedes andere unterrichtet werden. Gebt ihm die Sprache, und es erhält mit ihr das Material, aus dem die Sprache gebildet ist, das Denken und die Erfahrungen seines Volkes. Die Sprache muß eine von einem Volke gebrauchte sein, nicht ein Kunstprodukt. Volapük ist ein Unsinn. Das taube Kind, das nur die Gebärdensprache kennt, bleibt bei allen Völkern ein Fremdling; seine Gedanken sind nicht die eines Engländers, eines Deutschen oder eines Franzosen. Das Vaterunser in der Zeichensprache ist nicht das Vaterunser im Englischen.
De Quincey sagt in seiner Abhandlung über den Stil, das beste Englisch finde sich in den Briefen der gebildeten vornehmen Engländerinnen, weil diese nur einige gute Bücher gelesen haben und nicht durch den Zeitungsstil, den Jargon der Straße, des Marktes und der öffentlichen Versammlungen verdorben worden sind.
Genau diese selben äußeren Umstände kommen für Helen Kellers Englisch in Betracht. In den ersten Jahren ihrer Erziehung bekam sie nur gute Sachen zum Lesen; einiges darunter war allerdings trivial und zeichnete sich auch nicht besonders durch seinen Stil aus, aber nichts war nach Form oder Inhalt geradezu schlecht. Diese glücklichen Verhältnisse haben ihr ganzes bisheriges Leben lang angedauert. Sie hat sich an Werken der Phantasie genährt und aus diesen den Stil großer Schriftsteller in ihr starkes, zähes Gedächtnis aufgenommen. Als sie zwölf Jahre alt war, wurde sie gefragt, was für ein Buch sie auf eine lange Eisenbahnfahrt mitnehmen wolle. »Das verlorene Paradies«, war ihre Antwort, und sie las das Werk im Zuge.
In den Tagen, als Helen den ersten Entwurf ihrer Lebensgeschichte für den »Youth’s Companion« verfaßte,[34] schrieb ihr Dr. Holmes: „Ich bin entzückt über den Stil Ihrer Briefe. Es ist nichts Affektiertes in ihnen enthalten, und da sie Ihnen unmittelbar von Herzen kommen, so gehen sie auch mir unmittelbar zu Herzen.“
In den Jahren des Uebergangs vom Kinde zur Jungfrau verlor Helens Stil seine frühere Schlichtheit und wurde steif und, wie sie sich selbst ausdrückte, gedrechselt. Damals wurde Fräulein Sullivan oft von der Furcht befallen, daß die Fortschritte ihrer Schülerin mit dem Ende der Kindheit aufhören würden. Zuweilen schien es Fräulein Keller an Geschmeidigkeit zu gebrechen; ihr Gedankengang bewegte sich in herkömmlichen Redewendungen, und sie schien nicht die Kraft zu haben, diese zu ändern oder in neue Bahnen zu lenken, und erst als sie die Kunst des Ausdrucks zum Gegenstand eines bewußten Studiums gemacht hat, hat sie aufgehört, das Opfer der Phrase zu sein. Charles T. Copeland, der lange Jahre hindurch Professor der englischen Sprache und Literatur an der Harvard- und der Radcliffe-Universität gewesen ist, erklärte einst: „In einigen ihrer Arbeiten hat sie gezeigt, daß sie besser schreiben kann, als irgend ein Schüler oder eine Schülerin, die ich je gehabt habe. Sie besitzt ein ausgezeichnetes »Ohr« für den Fluß der Perioden.“ —
In allem, was Fräulein Keller geschrieben hat, zeigt sich, wie bei den meisten großen englischen Schriftstellern, unverkennbar der Einfluß des Stils der Bibel. In ihrer Selbstbiographie finden sich viele Zitate aus der Bibel, entweder als gesonderte Einfügungen in den Text oder in diesen hineinverwoben, während das Ganze ein durchaus selbständiges Gepräge trägt.[S. 343] Ihr Wortschatz umfaßt alle Ausdrücke, die andere gebrauchen, und die Erklärung dieser Erscheinung und zugleich das Vernunftmäßige, das darin liegt, muß jedermann einleuchten. Es liegt kein Grund vor, warum sie alle Wörter, die einen Gehörs- oder Gesichtseindruck bezeichnen, aus ihrem Wörterbuche streichen sollte. Solange sie die Wörter richtig gebraucht, sollte man ihr das Recht einräumen, sie nach freiem Ermessen zu verwenden und dürfte von ihr nicht verlangen, daß sie sich auf einen Wortschatz beschränke, der ihrem Mangel an Seh- und Hörvermögen entspreche. In Bezug auf die Form sowohl wie den Inhalt ihres Buches müssen wir der Künstlerin zugestehen, was wir der Autobiographin versagen. Dazu kommt, daß für »wahrnehmen« von den Blinden die Ausdrücke »blicken« und »sehen« und von den Tauben »hören« gebraucht werden; es sind allgemein verständliche und gebräuchlichere Wörter. Nur ein Wortklauber könnte daran denken, den Blinden auf den Terminus »wahrnehmen« festnageln zu wollen, wenn »sehen« und »blicken« um so viel natürlicher sind und außerdem allgemein sowohl die Bedeutung des geistigen wie des sinnlichen Erkennens haben. Wenn Fräulein Keller eine Statue befühlt, so sagt sie in ihrer natürlichen Ausdrucksweise, während ihre Finger über den Marmor gleiten: Sie sieht aus wie ein Kopf der Flora. —
Andererseits ist es richtig, daß sie in ihren Schilderungen das künstlerisch Beste dann leistet, wenn sie sich streng an ihre eigenen sinnlichen Wahrnehmungen hält, und genau dasselbe gilt von allen Künstlern.
Infolge des Unterrichts in der letzten Zeit hat sie gelernt, ein gut Teil ihrer herkömmlichen Ausdrucksweise über Bord zu werfen und über Erfahrungen ihres Lebens zu schreiben, die sie selbst gewonnen hat. Sie hat mehr und mehr begonnen, den Stil aufzugeben, den sie aus Büchern entlehnte und[S. 344] den sie zu gebrauchen suchte, weil sie wie andere Menschen zu schreiben wünschte; sie hat gelernt, daß sie das Beste gibt, wenn sie »fühlt«, wie die Lilien hin- und herschwanken, sich die Rosen in die Hand drücken läßt und von der Hitze spricht, die für sie Licht bedeutet.
Fräulein Kellers Selbstbiographie umfaßt nahezu alles, was sie zu veröffentlichen beabsichtigte.[35] Es existieren jedoch noch einige kleinere Aufsätze, die weder so formlos wie ihre Briefe noch so sorgfältig abgefaßt sind wie ihre Lebensgeschichte. Einer von diesen enthält Mitteilungen über ihr Traumleben, die bei einer Blinden von doppeltem Interesse sind; wir lassen ihn daher noch in Uebersetzung folgen.
* *
*
„O, die Streiche, die die Nixe von Traumland uns während des Schlafes spielen! Ich glaube, es sind die Spaßmacher des himmlischen Hofhalts. Oft nehmen sie die Gestalt von Aufsatzthemen an, um mich zu verspotten, sie stolzieren auf der Bühne des Schlafes wie die törichten Jungfrauen einher, nur daß sie anstatt der leeren Lampen saubere Kollegienhefte in ihren Händen halten. Ein andermal examinieren sie mich kreuz und quer in allen Fächern, die ich je studiert habe, und stellen Fragen an mich, die so leicht zu beantworten sind, wie die folgende: Wie hieß die erste Maus, über die sich Hippopotamos, der Satrap von Cambridge unter Astyages, dem Großvater Kyros’ des Großen, ärgerte? Ich wache vor Entsetzen auf, während mir noch die Worte in den Ohren klingen: Eine Antwort oder das Leben!
Solchergestalt sind die verzerrten Phantasien, die durch die Seele eines Mädchens ziehen, das die Universität besucht[S. 345] und, wie ich es tue, in einer Atmosphäre von Ideen und Begriffen lebt, die halb Gedanken, halb Gefühle sind, die sich gegenseitig drängen und jagen, bis man beinahe verrückt wird. Ich habe selten Träume, die nicht im Zusammenhange mit dem stehen, was ich wirklich denke und fühle; aber eines Nachts schien sich meine ganze Natur verwandelt zu haben, und ich stand als mächtiger, furchtbarer Mann vor den Augen der Welt da. Selbstverständlich liebe ich den Frieden und hasse den Krieg nebst allem, was zum Kriege gehört; in der blutbefleckten Laufbahn Napoleons erblicke ich nichts Bewundernswertes, abgesehen von seinem Ende. Nichtsdestoweniger war in jener Nacht der Geist jenes mitleidslosen Menschenschlächters in mich gefahren! Ich werde es nie vergessen, wie die Kampfeswut in meinen Adern tobte — es schien, als wolle das stürmische Schlagen meines Herzens mir den Atem nehmen. Ich ritt einen feurigen Renner — ich kann noch jetzt das ungeduldige Emporwerfen seines Kopfes und den Schauer fühlen, der beim ersten Kanonendonner durch seinen Körper rann.
Von dem Gipfel des Hügels aus, auf dem ich stand, sah ich meine Truppen über eine sonnenbeschienene Ebene anstürmen wie zornige Wellen, und als sie sich bewegten, erblickte ich das Grün der Felder, das aussah wie die kühlen Täler zwischen den Wogen. Trompeten erklangen mitten in den unaufhörlichen Trommelwirbel und den Massenschritt der heranmarschierenden Bataillone hinein. Ich spornte mein schnaubendes Roß, schwang mein Schwert in die Höhe und rief: Ich komme! Blickt auf mich, Krieger — Europa! Ich stürzte mich in die heranbrausenden Wogen wie ein starker Schwimmer in die Brandung taucht und stieß — ach, es ist die Wahrheit! — gegen den Bettpfosten.
Jetzt schlafe ich selten, ohne zu träumen; bevor aber Fräulein Sullivan zu mir kam, waren meine Träume selten[S. 346] und mit Ausnahme derer von rein physischer Natur, gedankenarm und zusammenhanglos. In meinen Träumen fiel stets etwas plötzlich und schwer herab, und mitunter schien mich meine Wärterin für mein unfreundliches Benehmen, das ich im Laufe des Tages gegen sie gezeigt hatte, zu züchtigen und mir meine Fußtritte und mein Kneifen mit Wucherzinsen heimzuzahlen. Ich fuhr aus meinem Schlafe empor unter verzweifelten Anstrengungen, meiner Peinigerin zu entgehen. Ich aß sehr gern Bananen und eines Nachts träumte mir, ich fände eine lange Schnur mit diesen Früchten in dem Speisezimmer, in der Nähe des Buffets, alle geschält und von köstlicher Reife, und alles, was ich zu tun hatte, war, daß ich mich unter die Schnur stellte und aß, soviel ich konnte.
Nachdem Fräulein Sullivan zu mir gekommen war, träumte ich umso öfter, je mehr ich lernte; aber mit dem Erwachen meines Geistes stellten sich oft schreckhafte Phantasien und unbestimmte Furchtanwandlungen ein, die meinen Schlaf lange Zeit zu einem sehr unruhigen machten. Ich fürchtete mich vor der Dunkelheit und liebte das Kaminfeuer. Sein warmer Hauch kam mir wie die Liebkosung einer Menschenhand vor, ich glaubte wirklich, es sei ein beseeltes Wesen, imstande, mich zu lieben und zu beschützen. An einem kalten Winterabend war ich allein in meinem Zimmer. Fräulein Sullivan hatte das Licht gelöscht und war fortgegangen, in der Meinung, ich schliefe schon. Mit einem Male fühlte ich mein Bett erzittern, und es war mir, als spränge ein Wolf auf mich zu und heulte mich an. Es war nur ein Traum, aber ich hielt ihn für Wirklichkeit und geriet in das größte Entsetzen. Ich wagte nicht zu schreien, aber ich wagte auch nicht im Bett zu bleiben. Vielleicht war der Traum eine verworrene Erinnerung an das Märchen vom Rotkäppchen, das ich vor kurzem gehört hatte. Jedenfalls schlüpfte ich aus dem Bett und kauerte mich dicht[S. 347] neben dem Feuer nieder, das noch nicht ausgebrannt war. Sobald ich seine Wärme fühlte, war ich beruhigt, und ich saß lange Zeit da und sah es in leuchtenden Wogen höher und immer höher steigen. Schließlich übermannte mich der Schlaf, und als Fräulein Sullivan zurückkehrte, fand sie mich in eine Decke gehüllt am Herde liegen.
Oft, wenn ich träume, ziehen Gedanken durch meinen Sinn wie vermummte Schatten, schweigend und in weiter Ferne, und verschwinden dann. Vielleicht sind es die Geister von Gedanken, die einst den Geist eines Vorfahren von mir bevölkerten. Zu anderen Zeiten fallen die Dinge, die ich gelernt habe, und die, in denen ich unterrichtet worden bin, von mir ab, wie die Eidechse ihre Haut abstreift, und ich erblicke dann meine Seele so, wie Gott sie sieht. Es gibt auch schöne, seltene Augenblicke, in denen ich im Traumland sehe und höre. Wie, wenn in meinen wachen Stunden ein Ton durch die schweigenden Hallen des Gehörs erklänge? Wie, wenn ein Strahl des Lichtes durch die dunklen Gemächer meiner Seele blitzte? Was würde sich dann ereignen? frage ich mich immer und immer wieder. Würde die allzustraff gespannte Saite des Lebens springen? Würde das Herz, überwältigt von freudigem Schreck, infolge des Uebermaßes von Glück aufhören zu schlagen?
[30] Gemeint ist der Beitrag Fräulein Sullivans zu dem von dem genannten Bureau herausgegebenen »Souvenir Helen Keller« (vergl. S. 205).
[31] Fräulein Sullivan führt in ihrem Aufsatze folgendes an: Im Laufe des Winters (1891/92) ging ich mit Helen einmal während eines leichten Schneegestöbers in den Hof und ließ sie die herunterfallenden Flocken befühlen. Sie schien sich darüber sehr zu freuen. Als wir wieder hineingingen, äußerte sie folgende Worte: Out of the cloud-folds of his garments Winter shakes the snow. Ich fragte sie, wo sie dies gelesen habe, sie erwiderte, sie könne sich nicht erinnern, es gelesen zu haben, und schien sich auch nicht zu entsinnen, daß ihr die Worte von irgend jemand mitgeteilt worden seien. Da ich selbst diese Worte nie gehört hatte, fragte ich mehrere meiner Bekannten, ob sie sich ihrer erinnern könnten; doch schien dies bei niemand von ihnen der Fall zu sein. Die Lehrer des Instituts versicherten, daß diese Stelle sich in keinem in Hochdruck hergestellten Buche der Bibliothek befinde; aber eine Dame, Fräulein Marret, unterzog sich der Aufgabe, mit gewöhnlichen Typen gedruckte Gedichtsammlungen durchzusehen, ihre Mühe wurde auch belohnt, sie fand in einem der kleinen Gedachte Longfellows mit dem Titel: »Snow-flakes« folgende Verse:
Es scheint, daß irgendjemand Helen diese Verse des Dichters einmal mitgeteilt hat und daß sie ihr im Gedächtnis haften geblieben sind bis sie sich heute früh bei dem Schneetreiben ihrer wieder erinnerte.
[35] Im Jahre 1905 erschien ein größerer Essay von ihr, »Optimism«.
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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. 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Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.